August Bebel
Die Frau und der Sozialismus
August Bebel

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Neuntes Kapitel
Zerrüttung der Familie

1. Das Wachstum der Ehescheidungen

Auch Staat und Kirche spielen bei einer solchen »heiligen Ehe« eine keineswegs hübsche Rolle. Mag der staatliche Beamte oder der Geistliche, dem die Eheschließung obliegt, überzeugt sein, daß das vor ihm stehende Brautpaar durch die schmutzigsten Praktiken zueinander geführt wurde; mag es offenbar sein, daß beide weder nach ihrem Alter, noch nach ihren körperlichen oder geistigen Eigenschaften zueinander passen; mag zum Beispiel die Braut zwanzig, der Bräutigam siebzig Jahre alt sein oder umgekehrt; mag die Braut jung, schön, lebenslustig, der Bräutigam alt, mit Gebresten behaftet, mürrisch sein, den Vertreter des Staats oder der Kirche ficht es nicht an. Der Ehebund wird »gesegnet«, und mit um so größerer Feierlichkeit gesegnet, je reichlicher die Bezahlung für die »heilige Handlung« fließt.

Stellt sich aber nach einiger Zeit heraus, daß eine solche Ehe, wie jedermann vorausgesehen und das unglückliche Opfer, das in der Mehrzahl der Fälle die Frau ist, selbst voraussah, eine höchst unglückliche wurde, und entschließt sich der eine Teil zur Trennung, dann erheben Staat wie Kirche, die vorher nicht fragen, ob Liebe und moralische Triebe oder nackter, schmutziger Egoismus das Band knüpfte, die größten Schwierigkeiten. Jetzt wird nicht als genügender Grund für die Trennung der moralische Abscheu angesehen, jetzt werden handgreifliche Beweise verlangt, Beweise, die den einen Teil in der öffentlichen Meinung entehren oder herabsetzen, sonst wird die Trennung nicht ausgesprochen. Daß die katholische Kirche die Ehescheidung überhaupt nicht zuläßt, es sei denn durch besonderen Dispens des Papstes, der sehr schwer zu erlangen ist und äußerstenfalls sich nur zu einer Trennung von Tisch und Bett versteht, verschlimmert den Zustand, unter dem alle katholischen Bevölkerungen leiden. Auch das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch hat die Ehescheidung bedeutend erschwert. So ist die Ehescheidung auf gegenseitige Einwilligung, die zum Beispiel nach dem preußischen Landrecht zulässig war, weggefallen, eine Bestimmung, auf Grund deren eine erhebliche Zahl von Ehescheidungen ausgesprochen wurde, häufig auch solche, bei denen viel gravierendere Ursachen vorlagen, die aber aus Rücksicht auf die Schädigung des schuldigen Teils verschwiegen wurden. So kamen zum Beispiel in Berlin unter 5.623 Ehescheidungsfällen, die von 1886 bis 1892 verhandelt wurden, 1.400, rund 25 Prozent, auf gegenseitige Einwilligung. In zahlreichen Fällen kann die Ehescheidung nur eintreten, wenn der Antrag innerhalb sechs Monaten von dem Zeitpunkt an, in dem der klagende Ehegatte von dem Scheidungsgrund Kenntnis erlangte, gestellt wird (§ 1565 bis 1568 BGB). Nach dem preußischen Landrecht währte der Termin ein Jahr. Man nehme zum Beispiel den Fall an, eine junge Ehefrau entdeckt kurz nach der Ehe, daß sie einen Mann ehelichte, der kein Ehemann ist. Da ist es ihr unter Umständen viel zugemutet, innerhalb sechs Monaten den Scheidungsantrag zu stellen, zu dem eine gewisse moralische Stärke gehört. Als Grund für die Erschwerungen wurde angeführt: »Nur durch möglichste Erschwerung der Ehescheidung könne man der fortschreitenden Auflösung der Familie entgegentreten und die Familie neu festigen.« Das ist eine Begründung, die an innerem Widerspruch leidet. Eine zerrüttete Ehe wird dadurch nicht wieder erträglich, daß man die Ehegatten zwingt, trotz innerlicher Entfremdung und gegenseitigem Widerwillen beisammen zu bleiben. Ein solcher Zustand, vom Gesetz gestützt, ist durch und durch unmoralisch. Die Folge ist, daß in so und so vielen Fällen ein Ehebruchsgrund, den der Richter beachten muß, geschaffen wird, wodurch weder Staat noch Gesellschaft gewinnen. Eine Konzession an die katholische Kirche ist es auch, daß man die Scheidung von Tisch und Bett aufnahm, die dem früheren bürgerlichen Recht fremd war. Auch ist es kein Ehescheidungsgrund mehr, wenn durch Verschulden des einen Teiles die Ehe kinderlos bleibt. Daß man auch die Bestimmung in das Bürgerliche Gesetzbuch aufnahm (§ 1588): »Die kirchlichen Verpflichtungen in Ansehung der Ehe werden durch die Vorschriften dieses Abschnitts (über die Ehe) nicht berührt«, ist ebenfalls eine Konzession an die Kirchen; sie hat zwar nur eine mehr dekorative Bedeutung, sie charakterisiert aber den Geist, der zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in Deutschland herrscht. Uns genügt das Zugeständnis, daß man die Ehescheidung erschwerte, um der fortschreitenden Auflösung der Familie entgegenzuarbeiten.

Es bleiben also Menschen wider ihren Willen ihr Leben lang aneinander gekettet. Der eine Teil wird zum Sklaven des anderen und gezwungen, sich den intimsten Umarmungen des anderen Teiles aus »ehelicher Pflicht« zu unterwerfen, die er vielleicht mehr verabscheut als Schimpfworte und schlechte Behandlung. Mit vollem Recht sagt Mantegazza: »Es gibt wohl keine größere Tortur als die, welche ein menschliches Wesen zwingt, sich die Liebkosungen einer ungeliebten Person gefallen zu lassen ...« Die Physiologie der Liebe. Ist eine solche Ehe nicht schlimmer als Prostitution? Die Prostituierte hat bis zu einem gewissen Grade die Freiheit, sich ihrem schmählichen Gewerbe zu entziehen, und sie hat, wenn sie nicht in einem öffentlichen Hause lebt, das Recht, den Kauf der Umarmung desjenigen zurückzuweisen, der ihr aus irgendeinem Grunde nicht zusagt. Aber eine verkaufte Ehefrau muß sich die Umarmungen ihres Mannes gefallen lassen, habe sie auch hundert Gründe, ihn zu hassen und zu verachten.

Ist von vornherein die Ehe, mit Wissen beider Teile, als Geld- oder Standesehe geschlossen, dann liegt die Sache günstiger. Man akkommodiert sich gegenseitig und trifft einen modus vivendi. Man will keinen Skandal, und namentlich zwingt die Rücksicht auf etwa vorhandene Kinder, ihn zu vermeiden, obgleich es gerade diese sind, die unter einem kalten, liebeleeren Leben der Eltern am meisten leiden, auch wenn es nicht in offene Feindschaft, Zank und Hader übergeht. Noch häufiger akkommodiert man sich, um materiellen Schaden zu verhüten. In der Regel ist es der Mann, dessen Verhalten in der Ehe den Stein des Anstoßes bildet, das zeigen die Ehescheidungsprozesse. Kraft seiner Herrschaftsstellung weiß er sich anderwärts zu entschädigen, wenn die Ehe ihm nicht zusagt und er in ihr keine Befriedigung findet. Die Frau kann Abwege weit weniger betreten, einmal aus physiologischen Gründen, weil, als empfangender Teil, das weit gefährlicher für sie ist, dann, weil jede Übertretung ehelicher Treue ihr als Verbrechen angerechnet wird, das auch die Gesellschaft nicht verzeiht. Die Frau allein begeht einen »Fehltritt« – sei sie Ehefrau, Witwe oder Jungfrau –, der Mann handelt im gleichen Falle höchstens »inkorrekt«. Es wird also ein und dieselbe Handlung ganz verschieden beurteilt, je nachdem sie ein Mann oder eine Frau begeht, und die Frauen selbst urteilen in der Regel über eine »gefallene« Schwester am härtesten und unbarmherzigsten Alexander Dumas sagt sehr richtig in »Monsieur Alphonse«: »Der Mann hat zwei Arten von Moral gemacht: eine für sich selbst, eine für das Weib; eine, die ihm die Liebe mit allen Frauen erlaubt, und eine, die der Frau als Ersatz für ihre auf immer verlorene Freiheit die Liebe mit bloß einem Manne gestattet.« Siehe auch Selbstanklage Gretchens im Faust. .

In der Regel wird die Frau nur in Fällen schwerster männlicher Untreue oder Mißhandlung sich entschließen, die Scheidung zu beantragen, weil sie meist in einer materiell abhängigen Lebenslage sich befindet und gezwungen ist, die Ehe als Versorgungsanstalt anzusehen; dann weil sie sich als geschiedene Frau gesellschaftlich in keiner beneidenswerten Lage befindet. Sie wird sozusagen als Neutrum angesehen und behandelt. Gehen dennoch die meisten Ehescheidungsklagen von Frauen aus, so ist dies ein Beweis, unter welch moralischer Tortur sie leiden. In Frankreich stellten schon die Frauen, bevor noch die neuere Ehescheidungsgesetzgebung in Kraft trat (1884), die weitaus meisten Anträge auf Trennung von Tisch und Bett. Auf Ehescheidung konnten sie gegen den Mann nur klagen, falls dieser die Frau, mit der er intimen Umgang pflog, gegen den Willen der Ehefrau in die eheliche Wohnung aufnahm. So wurden Anträge auf Trennung von Tisch und Bett gestellt durchschnittlich pro Jahr von:

Frauen Männern
1856 – 1861 1.729 184
1861 – 1866 2.135 260
1866 – 1871 2.591 330
1901 – 1905 2.368 591

Aber die Frauen stellten nicht allein die weitaus meisten Anträge, die Zahlen zeigen auch, daß dieselben von Periode zu Periode zunehmen.

Auch anderwärts zeigt sich, soweit uns zuverlässige Mitteilungen vorliegen, daß die Anträge auf Ehescheidung in der Mehrzahl von der Frau ausgehen. Die folgende Tabelle ermöglicht diesen Vergleich Georg v. Mayr, Statistik und Gesellschaftslehre. 3. Band, S. 253. Tübingen 1909. .

  Prozentanteile der Klagen
in den Jahren des Mannes der Frau beider Ehegatten
Scheidungen
Österreich 1893 – 1897 4,4 5,0 90,6
Rumänien 1891 – 1895 30,6 68,9 0,5
Schweiz 1895 – 1899 26,4 45,4 8,2
Frankreich 1895 – 1899 40,0 59,1
Baden 1895 – 1899 36,0 59,1 4,9
England und Wales 1895 – 1899 60,4 39,6
Schottland 1898 – 1899 43,3 56,7
  Trennungen
Österreich 1897 – 1899 4,9 16,6 78,5
Frankreich 1895 – 1899 15,9 84,1
England und Wales 1895 – 1899 3,0 97,0
Schottland 1898 – 1899 100,0

In den Vereinigten Staaten, wo wir jetzt eine Statistik haben, die sich über vierzig Jahre erstreckt, verteilen sich die Ehescheidungsklagen wie folgt:

  1867 – 1886 Proz. 1887 – 1906 Proz. 1906 Proz.
Von Männern 112.540 34,2 316.149 33,4 23.455 32,5
Von Frauen 216.176 65,8 629.476 66,6 48.607 67,5
Zusammen 328.716 100,0 945.625 100,0 72.062 100,0

Wir sehen also, daß die Frauen mehr als zwei Drittel aller Anträge auf Ehescheidung stellten Marriage and divorce. 1887 bis 1906. Bureau of the Census. Bulletin 96, S. 12. Washington 1908. . Und ein ähnliches Bild zeigt uns Italien. Es wurden dort in den Jahren 1887 und 1904 1.221 und 2.103 Ehescheidungsklagen erledigt. Von diesen hatten die Frau 593 und 1.142, der Mann 214 und 454, beide Ehegatten 414 und 507 veranlaßt.

Die Statistik belehrt uns aber nicht allein, daß die Frauen die meisten Anträge auf Ehescheidung stellen, sie belehrt uns auch, daß die Zahl der Ehescheidungen in rascher Zunahme begriffen ist. In Frankreich ist seit 1884 die Ehescheidung gesetzlich neu geregelt, und seitdem haben die Ehescheidungen von Jahr zu Jahr erheblich zugenommen. Es fielen Ehescheidungen in die Jahre 1884 1.657, 1885 4.123, 1890 6.557, 1895 7.700, 1900 7.820, 1905 10.019, 1906 10.573, 1907 10.938.

Auch in der Schweiz sind die Ehescheidungen im Steigen. Im Jahresdurchschnitt von 1886 bis 1890 wurden durchschnittlich 882 Ehen geschieden, im Jahresdurchschnitt von 1891 bis 1895 898, 1897 1.011, 1898 1.018, 1899 1.091, 1905 1.206, 1906 1.343.

In Österreich kam es im Jahre 1899 zu 856 Ehescheidungen und 133 Ehetrennungen, 1900 1.310 und 163, 1905 1.885 und 262. Es hat sich also im Laufe eines Jahrzehntes die Zahl der Ehescheidungen und Ehetrennungen mehr als verdoppelt. In Wien fanden 1870 bis 1871 148 Ehescheidungen statt, sie stiegen Jahr für Jahr und beliefen sich 1878 bis 1879 auf 319 Fälle. Aber in Wien, als einer überwiegend katholischen Stadt, sind Ehescheidungen sehr schwer durchzusetzen; nichtsdestoweniger konnte schon Mitte der Achtziger Jahre ein Wiener Richter die Äußerung machen: »Die Klagen wegen gebrochener Ehe sind so häufig wie die wegen zerbrochener Fensterscheiben.«

In den Vereinigten Staaten betrug die Zahl der Ehescheidungen im Jahre 1867 9.937, 1886 25.535, 1895 40.387, 1902 61.480, 1906 72.062. Wäre die Zahl der Ehescheidungen im Verhältnis zu der Bevölkerung im Jahre 1905 dieselbe geblieben als im Jahre 1870, so wäre die absolute Zahl der Ehescheidungen im Jahre 1905 nur 24.000 und nicht 67.791 stark gewesen, wie sie in der Wirklichkeit war. Im ganzen betrug dort die Zahl der Ehescheidungen in dem Zeitraum von 1867 bis 1886 328.716, von 1887 bis 1906 945.625. Überhaupt finden in den Vereinigten Staaten absolut und relativ die meisten Ehescheidungen statt. Auf je 100.000 bestehende Ehen kamen Ehescheidungen: 1870 81, 1880 107, 1890 148, 1900 200. Die Gründe, warum diese dort häufiger sind als in jedem anderen Lande, dürften darin zu suchen sein, daß erstens die Ehescheidung, insbesondere in einzelnen Staaten, leichter ist als in den meisten anderen Ländern, und zweitens, daß die Frauen eine weit unabhängigere Stellung einnehmen als in jedem anderen Lande, und sich daher von ihren Eheherren weniger tyrannisieren lassen.

In Deutschland war die Zahl der rechtskräftigen Urteile für Ehescheidungen von 1891 bis 1900 folgende:

1891 6.678
1892 6.513
1893 6.694
1894 7.502
1895 8.326
1896 8.601
1897 9.005
1898 9.143
1899 9.563
1900 7.928

Wir sehen, daß von 1899 auf 1900 die Zahl der Ehescheidungen um 1.635 sank, und zwar weil mit dem 1. Januar 1900 das Bürgerliche Gesetzbuch mit seinen erschwerenden Bestimmungen in Kraft trat. Aber das Leben war stärker als das Gesetz. Die Ehescheidungen haben, nachdem ihre Zahl in den Jahren 1900 bis 1902 zurückging, seither wieder von Jahr zu Jahr noch schneller zugenommen. Die Zunahme geschieht auf Grund der häufigeren Anwendung des § 1568 BGB (Zerrüttung des ehelichen Verhältnisses). Wie groß die Scheidungshäufigkeit nach 1900 geworden ist, zeigen folgende Zahlen: 1901 7.964, 1902 9.069, 1903 9.933, 1904 10.868, 1905 11.147, 1906 12.180, 1907 12.489. In Sachsen bewegt sich die Ehescheidungsziffer trotz aller Schwankungen auch in aufsteigender Linie. So entfielen:

Im Jahrfünft Ehescheidungen Auf 100.000 Ehen
1836 – 1840 356 121
1846 – 1850 395 121
1871 – 1875 581 122
1891 – 1895 921 138
1896 – 1900 1.130 151
1901 – 1905 1.385 168

Von 100.000 bestehenden Ehen wurden in Preußen im Durchschnitt jährlich geschieden von 1881 bis 1885 67,62, 1886 bis 1890 80,55, 1891 bis 1895 86,77, 1896 101,97, 1905 106, 1908 121 Ehen.

Das ist eine bedeutende Steigerung. Dieses Wachsen der Scheidungshäufigkeit ist eine internationale Erscheinung. So kamen auf je 100.000 bestehende Ehen im Durchschnitt jährlich Ehelösungen durch Scheidung oder Trennung in:

  1876-1880 1881-1885 1886-1890 Gegen
die Jahr-
hundert-
wende
Österreich 19,4 19,7 31,0
Ungarn 31,6 30,4 30,5 58,0
Rumänien 37,3 52,3 73,1 98,0
Italien 11,8 11,3 10,6 15,0
Frankreich 33,9 75,9 80,9 129,0
England und Wales 6,5 7,4 7,0 10,6
Schottland 12,3 13,0 16,7 26,0
Irland 0,6 0,4 1,1 1,0
Belgien 25,5 31,9 43,0 72,0
Niederlande 78,0
Norwegen 13,9 12,1 19,3 33,0
Schweden 28,5 28,6 31,6 45,0
Finnland 16,1 7,8 10,0 29,0
Schweiz 220,0 200,0 188,0 199,9

Es wäre verkehrt, wollte man aus der großen Verschiedenheit der Zahlen zwischen den verschiedenen Ländern zu günstigen oder ungünstigen Schlußfolgerungen über den so verschiedenen »Moralzustand« kommen. Niemand wird behaupten wollen, daß die schwedische Bevölkerung viermal mehr Ursachen zu Ehescheidungen habe als die englische. In erster Linie ist die Gesetzgebung ins Auge zu fassen, die in einem Lande die Ehescheidung erschwert und sie in anderen bald mehr, bald weniger erleichtert In England ist die Ehescheidung ein Privileg der Reichen. Die Prozeßkosten sind so hoch, daß die Ehescheidung für unbemittelte Leute, die noch dazu gezwungen sind, eine Reise nach London zu machen, fast zur Unmöglichkeit wird. Im ganzen Lande gibt es bloß ein einziges Ehescheidungsgericht – in London. . Erst in zweiter Linie kommt der Moralzustand in Betracht, das heißt ein Durchschnittsmaß von Gründen, das bald der Mann, bald die Frau als maßgebend für die Stellung eines Antrags auf Trennung ansieht. Aber die Zahlen bestätigen: Im allgemeinen wachsen die Ehescheidungen rascher als die Bevölkerung, und sie wachsen, während die Eheschließungen vielfach fallen. Darüber weiter unten.

Sehr erheblich wirken auf die Ehescheidungen größere Altersunterschiede der Eheleute ein, sei es, daß der Mann wesentlich älter ist als die Frau oder die Frau als der Mann. Das beweist die folgende Zusammenstellung auf Grund der schweizerischen amtlichen Statistik:

Jährliche Zahl der Scheidungen auf
je 100.000 Ehen desselben Altersunterschiedes
1881 – 1890 1891 – 1900
Mann älter 26 und mehr Jahre 271 328
Mann älter 11 bis 25 Jahre 189 198
Mann älter 1 bis 10 Jahre 193 181
Mann und Frau gleich alt 195 190
Mann jünger 1 bis 10 Jahre 226 226
Mann jünger 11 bis 25 Jahre 365 431
Mann jünger 26 und mehr Jahre 759 870

Über die Frage, wie sich die Ehescheidungsklagen auf die verschiedenen Schichten der Bevölkerung verteilen, liegen uns unter anderem Angaben vor aus Sachsen aus den Jahren 1905 bis 1906 und aus Preußen 1895 bis 1905 Paul Kollmann, Die Ehescheidungen in Sachsen. Zeitschrift des Königl. Sächs. Stat. Landesamtes 1907, II, und F. Kühnert, Die Ehescheidungsbewegung in Preußen in den Jahren 1895 bis 1905. Zeitschrift des Königl. Preuß. Stat. Landesamtes 1907, II.

  Jährliche Scheidungen auf
100.000 verheiratete Männer
Sachsen Preußen
Land- und Forstwirtschaft 59 34
Industrie 220 158
Handel und Verkehr 297 229
Öffentlicher Dienst und freie Berufe 346 165

Die Ehescheidungen waren also am häufigsten in Sachsen in der Beamtenwelt und in freien Berufen, in Preußen im Handel und Verkehr. Dann folgen für Sachsen Handel und Verkehr, für Preußen Beamte und freie Berufe. Die Industrie mit 220 für Sachsen und 158 für Preußen nimmt den dritten Rang ein. Am niedrigsten ist die Zahl in der Landwirtschaft. Die wachsende Zahl der Ehescheidungen in der städtischen Bevölkerung im Vergleich mit der ländlichen spricht dafür, daß im allgemeinen mit der zunehmenden Industrialisierung der ganzen Gesellschaft und der abnehmenden Stabilität des öffentlichen Lebens die Eheverhältnisse immer ungünstiger werden und die Faktoren sich vermehren, welche die Ehe zerstören. Andererseits sind sie ein Beweis, daß eine immer größere Zahl Frauen sich entschließt, das ihr unerträglich dünkende Joch abzuschütteln.


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