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Zweites Buch

 

Erstes Kapitel

William kam es vor, als ob all das Traurige, was er erlebt hatte, schon weit zurücklag, und doch war er erst einen Monat in Sorö. Aber dieser eine Monat war ihm wie eine Ewigkeit vorgekommen. Die Tage kamen und gingen, und ihre friedliche Einförmigkeit fiel gleichsam wie ein sanftes Schneegestöber, das nach und nach alles bedeckt, auf ihn nieder. Es war ein Frieden, der einem Winterschlaf vergleichbar war.

Das Gymnasium gab ihm im Anfange genügend zu tun. Die ersten vierzehn Tage war er sehr fleißig. Er gab sich Mühe, in seinen Aufsätzen einen schönen dänischen Stil zu schreiben, in seinen Übersetzungen ein wirkliches Französisch; er las Tacitus noch privatim und trieb eifrig deutsche Grammatik. Aber nach und nach meinte er, daß doch all diese Anstrengung im Grunde genommen ganz unnütz war, denn er war ja sowieso der Beste in der Klasse, bekam immer Nummer eins, und sicherlich würde er das Abiturientenexamen mit Auszeichnung bestehn. Er hatte die Gabe, viel aus sich zu machen, mit seinen Einfällen zu glänzen, und die Lehrer, die bald sahen, daß er weit entwickelter wie seine Mitschüler war, nahmen seine Schwermut für Tiefe.

Um was es sich ihm vor allen Dingen handelte, das war, ein Ziel zu finden, einmal etwas Großes zu werden – für eine große Aufgabe zu leben! Ja, ein hohes Ziel mußte es sein, grenzenlos wie sein Ehrgeiz, der in seiner Seele wie Feuer brannte. So tief wie sein Geschlecht gefallen war, so hoch sollte es wieder steigen!

In der alten Kirche verbrachte er viele Stunden.

Den ersten Tag hatte er es nicht gewagt, hineinzugehn. Während der Onkel am Morgen, hinter seiner Zeitung begraben, seinen Kaffee trank, schlich er sich sachte hinaus. Er wollte absichtlich nicht sagen, wo er hinging, denn sonst wäre jener am Ende mitgekommen und – nein, er wollte allein sein, ganz allein; es schien ihm, als hätte er es überhaupt kaum herausbringen können, wohin er ging, so wunderlich beklommen war ihm zumute.

Er ging gesenkten Kopfes die Straße hinunter und kämpfte gegen den Sturm; der Überzieher kam ihm zwischen die Beine, er konnte sich kaum vorwärtsarbeiten. Da fiel es ihm plötzlich ein, daß ihn Onkel Hög vom Fenster aus sehen konnte, und so drückte er sich vorsichtig dicht an den Häusern entlang. Er lief über den Marktplatz; der Sturm nahm ihm den Hut vom Kopfe, William hob ihn auf, behielt ihn in der Hand und lief weiter. So erreichte er das Kloster.

Er ging durch die hohe Tür. Wie stark die Mauern waren! Die hatten sie gebaut, seine Ahnen ... Er befühlte die Wände, maß die Wölbungen mit den Augen, Zoll für Zoll, sowohl die Höhe wie die Ausdehnung. Dann ging er in den Klostergarten. Der Wind trieb sein Spiel mit dem welken Laube und ließ es in wirbelndem Kreise um die knorrigen, feuchten Wurzeln tanzen. Wie alt die Bäume waren! Die hatten noch sein Geschlecht gesehn ...

Das Herz wurde ihm weit, er holte tief Atem und füllte sich die Lungen mit dieser kräftigen Luft. Es war ihm, als ob er damit etwas in Besitz nahm, was sein war, etwas, was, von alters her, ihm gehörte. All die düstern Schatten, die das Leben über seine stolzen Träume geworfen hatte, glitten fort und wichen dem Gefühl: Hier stand er im Ruhmesglanz, den die Taten seiner Vorfahren ausstrahlten.

Und bei seiner nervösen Gemütsart beherrschte ihn diese Empfindung ganz und ausschließlich. Er warf alles, was er gelitten hatte, alle Demütigungen, alle Sorgen auf die Schultern der großen Toten; diese mochten nun alles tragen ...

Hier war ihm wohl, hier stand er auf dem Grund und Boden seiner Angehörigen; dies konnte ihm niemand rauben, und hier konnte er sich auch nie allein und verloren fühlen, denn deren Schatten umschwebten ihn.

In jedem Winkel dieses Gebäudes lebten die Erinnerungen an sie und riefen in seinem Geiste nach und nach die lange Geschichte seines ruhmreichen Geschlechtes wach.

Die berühmten Namen, die leuchtenden Werke, die großen Gestalten – er sah sie alle deutlich vor sich ... bis in jene Vorzeit zurück, wo sie sich im Dunkel verloren ...

Die alte Exzellenz, sein Großvater, tauchte vor ihm auf ... der Mutter Erzählungen – – – des Vaters Gestalt – – –

Dann glitten auch sie ins Dunkel, weit fort – –

Nun ließ er seine jetzige lebende Familie Revue passieren. Wer war denn da? Die Onkels – von ihnen war nicht viel zu erwarten, außerdem hatten sie ja auch keine Kinder; Nina? – Sie war ein Weib, also er, er allein. – –

Aber die Sicherheit von vorhin war auf einmal verschwunden, das Licht seiner Begeisterung erloschen, er konnte keinen Punkt finden, an den er sich halten konnte.

Er ballte die Hände zur Faust in der Tasche und kniff die Lippen zusammen. Es kam ihm jetzt vor, als ob es eine körperliche Kraftprobe galt. Aber nein, nein; er mußte können: wenn man nur wollte, so konnte man auch! ...

Er schritt die Stufen zur Kapelle hinauf – die Tür stand offen; es war jemand drinnen, der auf der Orgel spielte. Nun sollte er also der Größe seines Geschlechts von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen! Alles stürmte mit einem Male auf ihn ein, seine Träume, die diese Kirche bevölkert hatten, seine Sehnsucht, all die Gedanken, die er diesem Raume geschenkt hatte. Und eine eigentümliche Scheu bemächtigte sich seiner; mit einem Ruck wandte er sich um – heute wollte er nicht hineingehn, er war es einfach nicht imstande; nein, er mußte Ruhe dazu haben, und Onkel Hög wartete auf ihn. So ging er heim.

Ein paar Tage später schlenderte William, die Bücher unter dem Arm, vom Gymnasium über den Kirchplatz nach Haus. Als er an der Kapelle vorbeikam, sah er die große Pforte offen, die in die Vorhalle führte. Er stieg die Stufen hinauf, öffnete dann die breite Mitteltür, die verschlossen war, aber deren Schlüssel steckte, und sah hinein.

Er wußte selbst nicht, ob er sich die Wölbungen höher, die Säulenreihe länger, den Raum lichter gedacht hatte. Eigentlich hatte er wohl in seinen Träumen keinen andern Raum über die Gräber seiner Väter gebaut als eine große Halle, in der sein Glück sich verlor.

Er betrachtete die lange, bunte Reihe der Schilder und Wappen, die den Mittelgang entlang über die hohen Bogen gemalt waren, Schild bei Schild, Wappen bei Wappen.

Er fing an, die Namen und Wahlsprüche, die mit geschnörkelten Buchstaben aufgemalt waren, zu lesen. Das Todesjahr war daruntergeschrieben, und er sah, daß sich die Namen durch Jahrhunderte erstreckten. Mit jeder neuen Jahreszahl, die er las, schien ihm die Familie an Größe zu gewinnen, es war also kein leerer Traum gewesen, wenn er alle Zeiten mit der Berühmtheit seines Geschlechts bevölkert hatte.

Langsam schritt er die Wand entlang und suchte den Namen des Königsmörders; da fiel sein Blick auf das Wappen des Stammvaters – Herzen, Silberbalken und Lilien auf rotem Schilde – und das des Sohnes und der Enkel. Die Schrift dieser Namen kam ihm etwas größer als die der anderen vor, aber das war ja auch kein Wunder – sie waren ja die Kämpen, die Dänemarks Thron gezimmert hatten!

Beständig, solange Dänemark existierte, so lange würde auch ihr Andenken leben; die Erinnerung an die Stützen, die eine berühmte Zeit auf ihren Schultern getragen hatten! Sein Herz klopfte, er fühlte, wie das Blut durch seine Adern jagte, und ein wahnsinniger Stolz bemächtigte sich seiner.

Darauf riß er sich los und ging langsam, in tiefen Gedanken, gesenkten Hauptes um den Altar herum. Da stolperte er und erwachte jäh. Das Hindernis, welches ihn beinahe zu Fall gebracht hätte, war ein Leichenstein, in welchen das lebensgroße Bild des Prälaten Johann mit dem Bischofsstabe in der Hand als Relief gehauen war.

Und ohne zu wissen, was er tat, ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, sank er ehrfurchtsvoll auf den Stein nieder. Die Hände gegen die Brust gedrückt, den Oberkörper tief gebeugt, blieb er lange in stummer Andacht liegen.

Plötzlich weckten ihn einige abgerissene Akkorde aus seiner Versunkenheit. Er stand auf und stieg hinunter. Der Himmel hatte sich inzwischen umwölkt und ein geheimnisvolles Halbdunkel herrschte in dem hohen Raume. Der Orgelklang tönte gedämpft zu ihm herüber.

Er setzte sich in einen der Kirchenstühle, seine Gedanken brauchten Ruhe. Sie glitten nach und nach in die Töne hinüber, die sie sanft einwiegten.

Nach einer längeren Weile stand er auf und ging nach der Tür zu. Fast gleichzeitig war das Spiel verstummt, und er hörte jemanden die Stufen, die zur Orgel führten, hinabkommen. Er wandte sich um und sah eine Dame auf dem untersten Treppenabsatz stehn.

Warum er eigentlich rot wurde, wußte er selbst nicht, aber er fühlte, wie ihm die Röte bis zu den Haarwurzeln hinaufstieg. Sie nahm langsam eine Lorgnette in die Hand und sah ihn einen Augenblick an, während sie nach dem Ausgang zuschritt.

William betrachtete sie aufmerksam von rückwärts. Das Haar hatte sie ganz hinaufgekämmt, und ihren Nacken umgab eine hohe, schwarze Spitzenrüsche.

 

Seitdem brachte er viele Stunden in der Kirche zu.

Wenn eine lange, inhaltslose Unterhaltung mit seinen Mitschülern ihn ermüdet hatte, fühlte er besonders das Bedürfnis, sich in seine liebe, alte Kirche zu flüchten; stundenlang konnte er dann, an die Säule von des Stammvaters Grabmal gelehnt, dasitzen und sich seinen Gedanken und Träumen überlassen.

An den Tagen, wo Fräulein Falk dort Orgel spielte, fehlte er nie.

Er hatte es bald herausbekommen, an welchen Tagen Fräulein Falk zur Stadt zu kommen pflegte, und wenn er um 12 Uhr, auf dem Heimweg von der Schule, den ihm wohlbekannten Wagen vor dem Kirchenportal halten sah, lief er schleunigst dahin.

Er setzte sich in seine alte Ecke und lauschte andächtig, aber wenn er glaubte, daß es nun bald zu Ende war, stand er auf und ging nach vorn, um sehn zu können, wenn die Dame die Treppe hinabstieg.

Es war immer dasselbe Spiel: er stand bei der untersten Säule, sie kam die Treppe herab und lächelte – er grüßte ... So ging es einige Zeit hindurch. Wenn William, an den bestimmten Tagen um die Straßenecke drehend, den bekannten Wagen nicht stehen sah, schnürte es ihm das Herz zusammen. Die letzte Stunde an diesen Vormittagen war er immer ganz unaufmerksam und nervös, von einer eigentümlichen Unruhe ergriffen, die nicht mit sich selbst zurechte kommen konnte. – Er setzte sich gewöhnlich auf eine Bank unter den Bäumen und wartete. Kam sie dann nicht, ging er ganz niedergeschlagen nach Haus.

Eines Tages sagte einer seiner Kameraden zu ihm: »Hörst du meine Cousine gern spielen?«

»Deine Cousine?«

»Ja, du rennst ja jeden Mittwoch und Freitag wie besessen in die Kirche ...«

William wurde verlegen und schlug die Augen nieder. »Ja ... sehr,« murmelte er.

»Kamilla hat dich bemerkt ... Ja, die hat verteufelt gute Augen.«

»Ich wußte nicht, daß es deine Cousine war,« sagte William und stand auf. Sie sprachen nicht weiter darüber. Die ersten paar Tage war es William unangenehm, daß die unbekannte Dame ihm nun so gewissermaßen auf den Leib gerückt war; nun war er nicht mehr allein mit seinem Geheimnis, und gerade das war so schön gewesen! Nun war sie Gersons Cousine, und dieser wußte es, und natürlich würden sie in der Klasse darüber reden, und – kurz und gut, das Ganze war eine langweilige Geschichte! Nun war das geheimnisvolle Rendezvous nicht mehr allein sein eigen und auch sein Heiligtum, die Kirche, nicht ...

William war wütend und ging eine ganze Woche nicht in die Kirche. Aber den nächsten Freitag war er zu dem Resultat gekommen, daß es doch eigentlich lächerlich war, sich durch so etwas abschrecken zu lassen. Gerson hatte gewiß mit seiner Cousine darüber gesprochen, und diese würde ihn auslachen, daß er sich so leicht verjagen ließ. Nein, ein paarmal mußte er nun noch erst recht gerade hingehn und dann auf einmal fortbleiben. Das war das klügste!

Als er eintrat, sah er sie schon bei der Orgel sitzen; er schlich sich leise an seinen gewohnten Platz.

Sie spielte herrlich. Mitunter brauste es durch den Raum und klang wie die jubelnde Anbetung von Volksscharen, die sich in tausendstimmigem Lobgesang erheben, dann wieder starben die Töne gedämpft dahin wie leisestes Flüstern, wie der Atemhauch von den Schatten des Raumes. William zwang seine Gedanken, den alten Weg zu gehn, aber es nützte nichts. Sie glitten heut, die ganze Zeit über von den Vorvätern weg und streiften ohne irgendwelches bestimmte Ziel oder einen deutlichen Gegenstand vag umher. Er stand ganz unter dem Banne dieser herrlichen Musik; seine Gedanken verwebten sich nach und nach mit den Tönen und suchten auch keinen anderen Inhalt als ihr Spiel.

Zum ersten Male wurde die Musik etwas Selbständiges für ihn, bis dahin war sie ihm nur Begleitung für seine Phantasien gewesen.

Die Töne erzählten ihm nun nicht mehr vom Stolze des Königsmörders und der Größe des Geschlechts, sondern sangen ihre eigene Weise, die er zwar nicht verstand, aber deren eigentümlich erregende Wirkung er spürte.

Endlich hörte sie zu spielen auf, packte ihre Noten zusammen und stieg hinunter. Als er wie gewöhnlich grüßte, lächelte sie heut so lebhaft, daß ihre kleinen weißen Zähne sichtbar wurden, und sagte »Guten Tag.«

Am Nachmittag war Gerson bei William zu Besuch. Im Laufe ihrer Unterhaltung sagte er auf einmal: »Na, du warst ja heut wieder in der Kirche ...«

William tat, als ob er ein Buch suchte, um seine Verlegenheit zu verbergen. Als er es endlich gefunden hatte, antwortete er ganz gleichgültig, als ob er beinahe vergessen, was der andre ihn gefragt hatte: »Ja, ich sah deine Cousine heut ...«

»Sie erzählte es,« sagte Gerson und lachte, »sie glaubt, du gehst in die Kirche, um bei deinen Vorfahren Andacht abzuhalten – aber du bist doch nicht so verrückt, denke ich.«

William fuhr zusammen und wurde rot. Gerson lachte weiter und kniff verschmitzt die Augen zusammen. »Kamilla ist doch anziehender wie die alten Kerls ... sie ist noch immer schön, trotzdem sie schon ein altes Mädchen ist ...«

»Sie spielt ausgezeichnet ...«

Gerson fing nun zu erzählen an: Falks wohnten eine Meile von hier auf dem Lande. Die Tante war tot, und der Alte, seiner Mutter Bruder, ein unausstehlicher Kauz, aber das Gut war herrlich und Kamilla ein brillantes Mädel. »Sie sitzt gern ein bissel dichte ran an einem im Wagen, aber redet dabei drauflos und tut, als ob sie's nicht merkt – weißt du ...«

Gerson kam vom Hundertsten ins Tausendste, und ohne nur nötig zu haben, eine einzige Frage zu tun, wußte William bald von allen Verhältnissen auf Veilgaard haarklein Bescheid. – – –

Nach und nach entwickelte sich zwischen Fräulein Falk und William eine gewisse Vertraulichkeit. Für diesen hatte ihr stets wiederholtes Grüßen tausenderlei Nuancen, und ihr Lächeln, das allen andern immer dasselbe geschienen hätte, stürzte ihn den einen Tag in grenzenlose Verzweiflung und erfüllte ihn den nächsten wieder mit himmelstürmenden Hoffnungen, je nachdem es ihm mehr oder weniger strahlend, mehr oder weniger freundlich vorkam.

Aber all diese wechselnden Gemütsbewegungen, die ihm die Verliebtheit verursachte, wollte er sich selbst nicht eingestehen. Er wehrte sich gegen diese Wendung der Dinge, die ihn nach der Sonnenseite des Lebens führen wollte, die alte Gewohnheit kämpfte gegen das neue Glück, das er fühlte. Seine Schwermut war ja ursprünglich die Frucht allzu frühen Kummers und einer seelischen Erschlaffung, die ihm teils angeboren, teils aus den Verhältnissen seines Lebens hervorgegangen war. Aber nach und nach war sie ihm gerade zur Gewohnheit geworden und – zu einer lieben Gewohnheit. Ebenso wie Menschen, die sich daran gewöhnt haben, in einer halbdunklen Stube mit vorgezogenen Gardinen zu leben – was auf die Dauer ihre Augen verdirbt und schließlich ihre Sehkraft ganz ruiniert – zuletzt volles Tageslicht überhaupt nicht mehr zu ertragen imstande sind, hatte er seine Fenster mit dem Schleier der Schwermut verhüllt, und als nun jetzt das Leben durch den Nebel schien, hatte er nicht übel Lust, die Augen zu schließen ...

Eines Tages verlor Fräulein Falk, als sie die Stufen hinabstieg, ihren Muff, der gerade zu Williams Füßen niederfiel. Sie trug bereits die Noten, Handschuhe und Schirm, und so war es kein Wunder, daß sie nicht dies alles auf einmal in den Händen halten konnte. Er hob ihn auf und reichte ihn dem Fräulein, aber das Herz saß ihm so im Halse, daß er kein Wort herausbringen konnte. Sie dankte, und ehe er wußte, wie es eigentlich zugegangen war, schritten sie draußen, Seite an Seite, die Allee hinunter, er ihre Noten tragend, sie lebhaft plaudernd, mit lachenden Augen, die öfter im Vorbeigleiten die seinen suchten, wobei es ihm jedesmal ganz heiß wurde und sein Herz zu klopfen anfing, als wenn es ihm die Brust sprengen wollte.

Sie sprach über Musik. Ob er die Orgel liebte? – Sie hatte eine tiefe Altstimme, die gleichsam die Worte lange trug und ihnen eine eigentümliche Bedeutung gab, selbst wenn sie ganz gleichgültige Sachen sagte. Sie ging langsam, den Kopf ein wenig geneigt, und den Muff fest gegen die Brust gepreßt.

»Ich bin nicht eigentlich musikalisch, aber hier in Sorö hört man ja nie Musik – und deshalb war ich so unverschämt ...« Er stockte.

Sie fand es sehr natürlich, daß er ihrem Spiel zuhörte: »Sie hatten doch jedenfalls mehr Vergnügen daran wie die Mauern und die toten Gebeine ihrer Vorfahren.«

William fühlte, daß er bis zu den Haarwurzeln rot wurde. »Sie irren wirklich ...« sagte er schnell.

»Worin?« antwortete sie und sah ihn voll an.

»Es ist nicht deshalb, daß ich in die Kirche ging ...«

»Weshalb?«

Nein, diesen Blick konnte er nicht aushalten, er sah zu Boden. »Wegen der Vorfahren ...« sagte er verlegen.

»Das würde ich natürlich gefunden haben,« sagte sie mit Nachdruck. Es klang eigentümlich tief und ernst.

»Das würden Sie wirklich?« entfuhr es ihm schnell. Er sah sie ganz erfreut an.

Sie sah lächelnd auf. »Also hatte ich doch recht!«

Sie blickte nach dem Portal hin, der Wagen war nicht gekommen. Halb erstaunt, halb mißvergnügt schüttelte sie den Kopf, dann bog sie in eine Seitenallee, nach dem See zu, ein. William blieb an ihrer Seite.

»Ich habe ja keine andere Familie,« sagte er nach einer kurzen Pause.

»Und Ihre Schwestern?«

»Ja – ich habe Schwestern, es ist wahr,« er sprach langsam und vor sich hin, als ob er in die Luft spräche, »aber deshalb kann man sich doch allein fühlen.«

»Das kann ich gut verstehen,« sagte sie. Schweigend gingen sie einige Schritte weiter. »Und so ist es mir lieb, daß ich diese wenigstens habe ... diese großen Toten ...« Sie zog die Hand aus dem Muff und glättete das schwarze Fell mit ihrem Handschuh. »Es muß leichter sein, etwas zu werden, wenn man so Jahrhunderte alte Ahnen hat, die auf einen herniederschauen!«

William antwortete nicht; Fräulein Falk fuhr fort, ihren Muff zu glätten. »Und Sie sind ja der Letzte der Familie?« sagte sie, ihn von der Seite ansehend.

»Ja – das Geschlecht ist ausgestorben.«

»Welcher Weltschmerz ... Wie alt sind Sie eigentlich?«

William wurde rot. »Sechzehn Jahr.« Er versuchte, dies in einem ironischen Tone zu sagen, aber es gelang ihm nicht, die Stimme versagte, und das letzte Wort blieb fast in der Kehle stecken.

»Und schon so bitter gegen die Welt! ... Ja, das ist man manchmal gerade in der frühesten Jugend ...« sie hielt einen Moment inne, dann setzte sie etwas schneller hinzu: »Aber später findet man dann ein mächtiges Argument, sich wieder mit der Welt auszusöhnen.«

»Viele finden es ...«

»Ach ...« sie lachte wieder, »sagen wir, die allermeisten. Man versöhnt sich dann wieder mit dem Schicksal, schon aus dem ganz einfachen Grunde – daß es so langweilig wird, auf die Dauer zu schmollen!«

»Das tue ich nicht.«

»Nein, vielleicht ist es nicht das richtige Wort. Sie sind natürlich unglücklich! Aber Scherz beiseite« – sie fing an, schneller zu gehn – »ich weiß, daß Sie viel durchgemacht haben ... aber – viel erleben ist nicht viel leben ... Doch, was verstehen Sie davon!«

William antwortete nicht darauf. Er war noch bei seinem früheren Gedankengange und sagte: »Es ist nicht Weltschmerz bei mir. Unsere Familie ist fertig ...«

»Fertig! ... Doch nur für den Fall, daß Sie nicht von neuem beginnen wollen! Man muß beginnen sagen, denn es wäre ja geradezu dumm und unlogisch, zu glauben, daß man fertig sein kann, ohne überhaupt je begonnen zu haben!«

»Ja, aber was soll ich denn Großes ausrichten?«

Sie lachte auf. »Entschuldigen Sie, daß ich so etwas sage, Herr Hög« – sie betonte das Wort »Herr« etwas stärker – »aber erst sollten Sie vor allen Dingen sehn, ein gutes Examen zu machen!«

William wurde bleich und biß sich in die Lippen. Und als sie, ihn lächelnd ansehend, hinzusetzte: »Sie sind doch wohl nicht böse?« wurde ihm so zumute, daß er am liebsten davongelaufen wäre.

Ganz zusammengefallen ging er weiter neben ihr her, so daß er noch kleiner aussah, als er ohnehin war. Sie war wieder ernst geworden, »übrigens verstehe ich gut« ...sie hielt inne; er sah sie stumm fragend an, »daß Sie an den Darwinismus glauben,« setzte sie hinzu.

Sie gingen wieder eine Weile still nebeneinander her, jeder seinen Gedanken nachhängend. Sie brach zuerst das Schweigen.

»Und wenn Sie Student geworden sind, was dann?«

»So will ich sehen, Kandidat zu werden.«

»Du lieber Gott ... Könnten Sie denn nicht ein bestimmtes Ziel suchen, nach dem Sie streben könnten?«

»Ja, wenn ich ein solches hätte ...«

»Nun reden Sie Unsinn,« sagte sie ungeduldig, »wenn man etwas hat, braucht man es doch nicht zu suchen. Aber ich bin überzeugt, Sie tun es auch ... ich meine, Sie lassen Ihrer Phantasie freien Lauf ...«

Sie hielt inne, William ging weiter gesenkten Hauptes neben ihr. »Und wo soll man denn eigentlich suchen?« fragte er in gedämpftem Tone.

»Zum Beispiel in Ihrer Kindheit – in Ihrem ganzen Leben – in Ihren Neigungen ... denken Sie über die Voraussetzungen nach, die Ihnen das Leben gegeben hat ...«

William blieb stehn. Fräulein Falk sah, daß ihre Worte Eindruck gemacht hatten. Und während sie ein leichtes Lächeln hinter ihrem Muff verbarg, sagte sie weiter: »Sie haben immer noch einen großen Vorzug, überhaupt suchen zu können. Wir Frauen können nur warten ...«

»Wie meinen Sie das, Fräulein?«

»Ganz einfach: Wir Damen sitzen unser halbes Leben und warten darauf, glücklich zu werden, und das andre halbe versitzen wir in einem Winkel und trauern darüber, daß wir es nicht geworden sind ...«

Sie bogen jetzt in den Weg, der um den See herumführte, ein. Fräulein Falk trällerte leise vor sich hin. William war es ganz eigentümlich zumute. Er hatte auf einmal so viel zu sagen, wenn er bloß wüßte, wie ...

So fing er plötzlich ganz unvermittelt von seiner Mutter zu sprechen an. Fräulein Falk hörte aufmerksam zu. Sie sagte wenig; nur ab und zu warf sie ein Wort ein oder ermunterte ihn durch ein Nicken oder einen Blick, in seiner Erzählung fortzufahren.

Er wußte selbst nicht recht, was er eigentlich gesagt hatte ... wurde plötzlich verlegen und holte tief Atem. Aber als er sie ansah, um gleichsam schweigend um Verzeihung zu bitten, begegnete er einem eigentümlichen Blicke, der ihn erröten machte. Er war nicht eigentlich freundlich oder mild, aber doch so warm – William konnte ihn lange nicht vergessen.

Fräulein Falk zog die Uhr unter dem Paletot hervor. »Mein Gott, vier,« rief sie bestürzt aus. »Jens muß ja wirklich glauben, ich bin verrückt geworden!«

Sie gingen schnell zurück und wechselten nur wenige Worte; aber was sie sagten, kam ganz ungezwungen heraus, wie zwischen alten Bekannten. Ganz dicht nebeneinander hergehend, kamen sie an das Kirchenportal.

Jens kam fast gleichzeitig an.

Das Fräulein fragte heftig, wo er denn geblieben war, und als er darauf ganz ruhig antwortete, daß sie ihn ja erst auf »vier« bestellt hatte, wurde sie ein wenig verlegen und errötete unter ihrem Schleier.

William stand mit dem Muff an der Wagentür. »Adieu – auf Wiedersehn!« sagte sie und lehnte sich in den Wagen zurück.

»Ihren Muff!«

»Ach ja, den hätte ich beinahe vergessen!« Sie beugte sich aus dem Fenster und griff danach, während ihre Augen die seinen trafen. Dann ließ sie sich mit einem stillen Lächeln wieder in die Wagenkissen zurückfallen.

Von diesem Tage an waren sie viel zusammen.

Es kam nun selten vor, daß Camilla Orgel spielte; meist erklärte sie, nicht aufgelegt zu sein, und so machten sie nun dafür gewöhnlich an diesen Tagen lange Spaziergänge in der am See sich hinziehenden Allee. Meist war es William allein, der sprach. Er erzählte ihr alles.

Trotzdem er ja eigentlich nichts erlebte, hatte er ihr dennoch täglich immer sehr viel zu erzählen. Der bunte, verworrene Strom seiner Rede – den sie mit einem Wort steuerte, mit einem Lächeln weiterleitete, – in welchem lange Erzählungen, weitschweifige jugendliche Deklamationen mit kurzen, leidenschaftlichen Ausbrüchen wechselten, spülte tausend seltsame Bruchstücke ungeborener Träume von Verlangen, von Sehnsucht und frühzeitiger Lebensmüdigkeit ans Land, das ganze wilde Chaos von Gedanken, Empfindungen, Begierden und Ahnungen, das in der ersten Jugend uns Herz und Hirn füllt, in uns gärt und wühlt.

Sie nahm diese Geständnisse und Ergüsse eines jungen, leidenschaftlichen Herzens schweigend entgegen. Mit leicht geneigtem Kopfe, lächelnd, so daß die kleinen, spitzen Zähne zum Vorschein kamen, ging sie, aufmerksam lauschend, neben ihm einher. Sie hörte ihm gern zu; denn was er sagte, war so eigentümlich, so etwas ganz neues für sie, und sie hatte doch viel gesehn und ihr gut Teil erlebt!

Sie war vor mehreren Jahren längere Zeit verlobt gewesen, aber eines Tages ging die Verlobung auseinander, und sie reiste ganz plötzlich fort. Es ruhte ein Schleier darüber, und natürlich wurde so manches geflüstert und getuschelt. So viel war jedenfalls daran wahr, daß während der Verlobungszeit ein Maler bei Falks zu Besuch gewesen war, der Kamillas Porträt gemalt hatte, und dann die zweite Tatsache, daß sie über ein Jahr auf ihrer Reise blieb!

Als sie zurückkam, war man erstaunt, sie schöner zu finden. Ihre hohe Gestalt hatte etwas Junonisches bekommen, und wie um das Geschwätz dadurch verstummen zu machen, trat sie sicherer und selbstbewußter auf als früher ...

Seit damals war nun eine geraume Zeit verflossen, aber trotz ihrer Schönheit und trotz des Reichtums ihres Vaters blieb Kamilla auf Veilgaard sitzen.

... Dann waren ihre Vettern Gerson als Gymnasiasten nach Sorö gekommen, und wie es sich von selbst verstand, verbrachten sie ihre Sonntage und die kürzeren Ferien bei dem Onkel auf Veilgaard. Kamilla behandelte die Cousins als Knaben – sie war ja auch zehn Jahr älter als sie – doch schien sie einigen von deren Mitschülern, die zuweilen mit eingeladen waren, eine gewisse Aufmerksamkeit zu schenken.

Und nach und nach fand sie die Kameraden ihrer Vettern immer netter und netter. So wie sie sich jetzt Williams bemächtigte, hatte sie es vorher mit verschiedenen anderen getan, und das Spiel mit dem ersten sehnsuchtsbangen Herzklopfen dieser jungen Seelen war nun bei Fräulein Kamilla rein zum Sport geworden ...

... Manchmal, wenn sie so zusammen längs des Sees wandelten und er zu ihr in überströmenden Worten sprach, die wie schmachtende Liebesgedichte, wie um Minne flehende Lieder klangen, wie furchtsame Hymnen eines Jünglings, der es noch nicht gewagt hat, den Gürtel der Liebesgöttin zu lösen, sondern ahnungsvoll deren Schönheit besingt – konnte er sie plötzlich mit einem derartigen Blicke ansehen, daß sie ganz verwirrt und verlegen die Augen niederschlug. Manchmal war er ganz das liebebedürftige, hingebende Kind; dann zuweilen wieder machten ihn seine Theorien zu dem wissenden Manne, der es vermag, aus einem unfruchtbaren Liebesspiel fast dieselben Genüsse zu ziehen wie aus einem wirklichen Liebesverhältnis. Zu andrer Zeit wieder überfiel ihn eine leidenschaftliche Unbändigkeit, die alles das erreichen wollte, was seinem Wissen nach die Liebe nur irgend schenken konnte; und wieder ein andermal fühlte er sich grenzenlos müde, und es schien ihm, als ob er mit allem fertig war, auch mit diesem …

Dieses Zusammengesetzte einander oft widersprechender Gefühle war es, was Kamilla nicht verstehen konnte und beständig immer eifriger zu verstehen suchte.

... Sie saßen in der Kirche. Sie spielte gedämpft, einschmeichelnd, wehmütig. Er hatte sich gleich, als sie kam, an die Orgel gesetzt und schweigend die Register geordnet, kaum daß sie ein paar Worte miteinander gewechselt hatten. William sah sie von der Seite an; sie saß aufrecht und gerade da, während sie mit fast geschlossenen Augen spielte.

Es war ein Adagio.

William saß ganz still, ohne sich zu rühren, den Kopf auf die Hände gestützt, die Ellbogen auf den Knien, und wandte keinen Blick von ihr.

»Waren Sie in den letzten Tagen böse auf mich?« fragte sie, das Schweigen unterbrechend, dabei ruhig weiterspielend.

»Warum sollte ich wohl böse gewesen sein?«

»Das weiß ich selbst nicht ...« ihre Finger glitten über die Tasten der tiefen Töne – »aber es hat mich traurig gemacht.«

Er schwieg, während er sie weiter anstarrte.

»Sie wissen doch, daß ich Ihre Freundin bin ... es gut mit Ihnen meine,« sagte sie warm und wandte den Kopf halb herum.

Der Ton, in welchem sie dies sagte, ergriff ihn; er fühlte sein Herz schneller schlagen und stand auf.

»Sein Sie auch ein bißchen gut zu mir,« flüsterte sie, während sie ganz leise spielte, »ich bin wirklich so einsam, so ... liebebedürftig!«

Er wußte nicht, was er antworten sollte; plötzlich traten ihm Tränen in die Augen.

Es war wohl ihr schmelzendes Spiel, das ihn so rührte – die Töne klangen fast wie Seufzer.

»Glauben Sie, daß ich glücklich bin?« sagte sie gedämpft eine Weile darauf.

»Wer ist denn überhaupt glücklich?« sagte er, sich vorbeugend. Seine Wange berührte ihr Haar. Plötzlich aber fuhr er zusammen, man hörte eine Seitentür klappern.

Auch sie erschrak, spielte aber ruhig weiter. Er stand hinter ihr, und sein Atem streifte ihren Hals, der sich leuchtend weiß von dem dunklen Kragen abhob.

»Und im Sommer werden Sie natürlich fortreisen und mich vergessen ...« sagte sie wehmütig.

Er konnte vor Erregung kein Wort hervorbringen und umklammerte krampfhaft den Rücken ihres Stuhles, so daß er ihren Mantel berührte.

»So geht es immer ... immer ...« Die Orgeltöne stöhnten förmlich unter ihren Händen, »immer ...«

Er trat einen Schritt vor. Sie ließ die Tasten los und sah zu ihm auf. Er war ganz bleich geworden und hatte Tränen in den Augen.

»Warum wollen Sie mich zum Narren machen?« sagte er gequält. Die Worte klangen wie halberstickte Ausrufe, man hörte ihren Widerhall oben im Chore ... »Das ist Sünde, Sünde von Ihnen ...«

Sie unterdrückte ein flüchtiges Lächeln, und während sie sich zu ihm beugte, sagte sie mit sanfter, weicher Stimme: »Ich halte Sie nicht zum Narren, Hög, ich habe Sie – – – lieb.« Ein warmer Blick ihrer großen Augen traf ihn, als wollte sie ihm die Seele aus dem Leibe trinken.

Er preßte ihr Handgelenk, daß es sie schmerzte. »Sie tun mir weh!« rief sie und riß ihre Hand los.

»Warum sind Sie da so zu mir?« fragte er ganz leise.

Sie lächelte schwach und schüttelte den Kopf. Dann fing sie wieder zu spielen an.

Er nahm seine frühere Stellung wieder ein, den Kopf in die Hände gestützt, ganz wie vorher, und sah sie unverwandt an. Wenn sie sich zur Seite wandte, begegnete sie diesen brennenden schwarzen Augen, deren glühende Blicke sie verzehrten.

»Warum spielen Sie nicht mehr weiter?«

Sie schüttelte den Kopf. Es kam ihm vor, als ob sie weinte.

Nun konnte er nicht länger an sich halten, es stürmte in ihm. Mit einem Ruck schob er den Schemel zur Seite, stürzte zu ihren Füßen nieder und legte den Kopf in ihren Schoß. Sie stieß einen halberstickten Schrei aus und versuchte, seinen Kopf in die Höhe zu heben.

»Warum sind Sie unglücklich?« fragte er und sah ihr in das von Tränen überströmte Gesicht.

Sie streichelte sein Haar und beugte ihr Antlitz zu dem seinen nieder. Es war, als ob ein ihnen gemeinsamer Durst ihre Lippen zusammentrieb.

Keiner von beiden sprach. Die Kirche lag in stiller Ruhe da; sie hörten nur ihre Atemzüge, die kurz und stoßweise gingen. Von seinem Haare ging sie über, die Wangen zu streicheln.

Dabei lächelte sie zärtlich, und das Lächeln steckte an. Aber plötzlich schob sie ihn von sich und sprang auf.

»Wir sehen uns wohl Freitag wieder.« Der Küster war hinter der Orgel aufgetaucht. Die Stimme klang auf einmal ganz verändert; sie sprach wieder in ihrer gewöhnlichen Art und Weise, aber sie lächelte weiter, und ihre Augen ruhten ineinander.

Am Freitag darauf bekam William, ehe er zum Gymnasium ging, einen Brief von Damenhand. Er war von Kamilla und lautete:

 

»Ich komme morgen nicht zur Stadt. Vater ist nicht ganz wohl, und ich finde es richtiger, zu Haus zu bleiben. Dagegen darf ich Sie wohl als alte Freundin auf Ehre und Gewissen fragen, ob Sie sich nicht gar zu sehr langweilen würden, wenn Sie die Osterferien bei uns verlebten? Wir bitten Sie, wenn Sie glauben, es hier draußen bei uns aushalten zu können, mit meinem Vetter am Dienstag herauszukommen und vorliebzunehmen. Ihr Kommen würde uns sehr erfreuen.

Ihre alte Freundin
Kamilla Falk.«

 

Am folgenden Dienstag zogen William und Gerson gen Veilgaard. Sie kamen da um fünf Uhr, gerade zum Mittagessen an und gingen gleich, nachdem sie sich ein bischen zurechtgemacht hatten, in den Speisesaal hinunter.

Der Hausherr, ein alter, gebeugter Mann, ging mit den Händen auf dem Rücken im Zimmer auf und nieder. Der Diener stand beim Büfett und wartete.

William hatte das Gefühl, als ob ihm etwas Heimatliches aus diesem lichten Saale entgegenschlug, und als ob er schon einmal früher dagewesen war.

Herr Falk grüßte nachlässig. Seine Tochter käme gleich, sagte er, und ging weiter auf und ab.

Da ging auch die Seitentür, und Kamilla trat ein. Sie reichte den Gästen die Hand und hieß sie willkommen. Darauf bat sie diese, zu Tisch zu kommen, nahm selbst Platz und fing eifrig an, sich mit dem Vater zu unterhalten. William sah sie kaum an. Er suchte ihren Blick zu fangen, aber es glückte ihm nicht.

Späterhin wurde sie still, und Gerson führte die Unterhaltung. Er gab einige Schulgeschichten zum besten, z. B. daß sie den englischen Lehrer mit kleinen Papierkugeln beworfen hatten, von denen dann viele in seinem Haar hängengeblieben waren.

William mochte diese Art Geschichten nicht und sagte, ganz irritiert, heftig zu Gerson: »So etwas erzählt man doch nicht!«

»Na, warum denn nicht?« antwortete dieser. »Du bist ja selber der Ärgste.«

»Was?« rief Kamilla erstaunt, »und ich glaubte, daß Herr Hög Melancholiker ist!«

»Ach jeh, das ist er ja auch,« rief Gerson aus. »Du hättest bloß hören sollen, was für'n Gedicht er gestern in der Klasse vorlas!«

»Aber, Gerson! ...«

»So, Herr Hög macht Gedichte – und wovon handeln diese, wenn man fragen darf?« sagte das Fräulein lachend.

»Pph« – Gerson schleckte eifrig die Kompottsauce mit einem Löffel aus – »natürlich von Liebe ...«

»Von unglücklicher?« Sie sah William an, und ihre Blicke trafen sich zum ersten Male.

»Ja, rein um sich zu erschießen,« sagte Gerson, weiter seine Sauce schlürfend.

William war glühend rot geworden, er bearbeitete unnötig lange sein Stück Roastbeef, um seine Verlegenheit zu verbergen.

»Sie haben gewiß ein schlechtes Stück bekommen,« sagte Kamilla teilnahmsvoll zu ihm. Darauf wandte sie sich zum Diener: »Ach, Petersen, geben Sie doch Herrn Hög ...« darauf lächelnd: »Sie wollen nicht?«

»Übrigens ist das sein erstes Gedicht,« setzte Gerson fort und sah lachend von seinem Teller auf, »also muß er erst in allerjüngster Zeit eine Muse bekommen haben!«

Kamilla lachte herzlich. Der Diener reichte Obst herum.

»Spendierst du heut keinen Champagner, Onkel?« sagte Gerson, »'s ist das erstemal, daß ein Hög bei dir zu Gaste ist!«

Nach Tisch spielten Herr Falk und Gerson im Wohnzimmer »Piquet«, während sich Kamilla und William in eine Art Galerie, die an den Speisesaal stieß, begaben. Diese war vermittelst einer Menge von Palmen, Lorbeerbäumen und großen Farnkräutern zu einem Wintergarten umgewandelt worden. In der einen Ecke hatte man eine Laube aus Gitterwerk arrangiert, die ganz mit Efeu bewachsen war, und vor deren Eingang ein mächtiger Lorbeerbaum stand, der sie ganz verdeckte.

»Wir wollen uns in die Hütte setzen,« sagte Camilla.

Sie ging ihm voran und setzte sich auf die Grasbank. Es war dunkel in der Laube, und William meinte, daß er sie kaum erkennen konnte.

»Ist das Heliotrop?« fragte er, den starken Geruch tief einatmend.

»Ja. Die ganze Treppe hier hinter uns ist voller Heliotrop. Es ist meine Lieblingsblume.« Sie rückte ein wenig zur Seite. »Aber setzen Sie sich doch ... Hier ist ja Platz genug!«

Er setzte sich neben sie. Beide schwiegen; man hörte nur das leise Plätschern des kleinen Springbrunnens in der andern Ecke des Raumes.

»Das ist die Hütte, von der ich Ihnen erzählte ...«

»Ich hatte auch eine Art Hütte zu Hause, mit roten Gardinen ... auf dem Boden oben,« erzählte er, um doch etwas zu sagen. Er fürchtete das Schweigen instinktmäßig.

Sie erwiderte nichts. Er sah im Halbdunkel, wie sie eine Heliotropblüte pflückte und diese dann im Munde hielt, während sie tief atmete.

»Das ist so wundervoll,« sagte sie, »versuchen Sie's einmal. Man hat auf diese Weise den Geschmack der Blumen.«

Er pflückte mechanisch eine Blüte. »Ja,« sagte er, den Duft der Pflanze einsaugend, »es ist herrlich.« Dann war es wieder still.

Kamilla neigte den Kopf und faltete die Hände über ihren Knieen.

»Wir waren Mittwoch doch ein paar große Kinder,« sagte sie leise.

»Ja ...«

»Und Sie haben darüber ein Gedicht gemacht?«

»Warum haben Sie vorhin gelacht?« – er beugte sich ein wenig näher zu ihr heran und sagte darauf leiser: »Sie wußten ja gut ...«

»Kann ich nicht das Gedicht zu lesen bekommen?«

»Um sich darüber lustig zu machen?«

»Nein ... Hög ...« Sie atmete tief auf, es klang wie ein Seufzer.

»Deklamieren Sie etwas, ein Gedicht, ja? ... bitte, bitte..«

»Ich kann nur eins auswendig ...«

»Was ist es?«

»Der Monolog aus ›Ninon‹ ...«

»Aber das ist ja herrlich ... Hertz ist einer meiner Lieblingsdichter!« William saß anfangs gebückt, den Kopf tief auf die Brust gesenkt, da. Ganz beklommen, fing er leise zu deklamieren an. Er mußte zuerst jedes Wort fast mit Gewalt hervorzwingen; aber nach und nach wurde seine Stimme weicher und weicher, und die melodischen Verse mit ihrem Gepräge schmerzlicher Schwermut flossen wie ein murmelnder Strom dahin.

Sie öffnete die Augen und sah ihn lange an. Darauf schloß sie sie wieder und überließ sich dem Zauber. Er war im Laufe des Vortrags aufgestanden. Und als ob sich die eingedämmten Wogen der Erregung aus seiner Brust Luft machen wollten – der Unterstrom von Schmerz gab seiner Stimme einen Klang von verhaltenen Tränen – stieß er leidenschaftlich die Worte hervor:

»Gleichmäßig? Nein, gleichmäßig kannst du nimmer schlagen,
Du, mein unruhiges, mein heißes Herze!
Und wie der Sterne Feuer ewig brennt und nie erlischt –
So ihr nicht, meine trunk'nen, himmelstürmenden Gedanken! –«

Es klang wie eine schmerzliche Klage. Er preßte die Hand gegen die Stirn, und die Stimme immer lauter steigernd, schrie er fast:

»Und um mein Herze tobt ein aufgeregtes Meer,
Ein reißend wilder Strom von heißen, dunklen Wünschen,
Und Stimmen rufen – –«

Bei den letzten Worten fiel sein Kopf plötzlich tief auf die Brust, und er preßte die Hand gegen den Mund, wie um den Schrei zu ersticken, der sich seinen Lippen entringen wollte.

Eine Weile hielt er inne, um seiner Bewegung Herr zu werden, und setzte sich wie erschöpft nieder, dann begann er wieder von neuem zu rezitieren. Sie hörte nichts. Seine Stimme glitt in ihre Träume wie eine ferne Musik über, wie sanfte Tonwellen, zu denen sie selbst den Text verfaßte.

Sie wußte nur, daß es Liebe war, wovon er sang ....

Der Springbrunnen plätscherte leise; von der Bank neben ihr klang ersticktes Weinen an ihr Ohr. Da beugte sie sich nieder, und während sie seinen Kopf mit beiden Händen sanft aufrichtete, flüsterte sie zärtlich:

»Hast du so viel gelitten?«

– – – –Und ihre Lippen trafen sich in einem langen Kusse ...

– – William konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Am Abend hatte Gerson, als sie sich auskleideten, in einem fort geplaudert, während William nur immer »ja« oder »nein« sagte, ohne auch nur ein Wort von dem zu hören, was dieser erzählte. Er ging unaufhörlich im Zimmer auf und ab, trällerte und summte vor sich hin, ohne zur Ruhe kommen zu können.

Er hatte Lust, laut aufzuschreien vor Freude, Stolz und Triumph, sein Glück hinauszurufen oder wenigstens doch es einem menschlichen Wesen zu erzählen, um sich von all dem Jubel zu befreien, der seine Brust erfüllte und ihn fast zu ersticken drohte.

»Das ist ja eine Teufelssingerei,« sagte Gerson und löschte das eine Licht aus, »seit wann bist du denn bei der Oper?«

William kleidete sich endlich aus und ging zu Bett. Er wickelte sich ganz und gar in seine Bettdecke ein, auch den Kopf, lag so ganz bewegungslos da und flüsterte mit sich selbst. Es schien ihm, als ob alles sang – in ihm und rings um ihn herum.

Bald darauf hörte er Gerson schnarchen. Da setzte er sich auf, sah sich träumerisch im Zimmer um, und die Hände unter der Decke auf seinen Knien faltend, fing er an, den Monolog aus »Ninon« zu deklamieren.

Dieses plötzliche Glück hielt sich noch die ganze nächste Zeit über auf seiner Höhe; es war, als ob die Handlung, die durch dieses Liebesverhältnis in sein Leben kam, seine ungesunden jugendlichen Träumereien in die Flucht jagte, und als ob er durch diese Krisis aus einem Winterschlaf erwacht war.

Vetter Gerson ahnte ebensowenig etwas von dem wahren Sachverhalt wie Herr Falk oder sonst irgend jemand.

So blieben die Liebenden allein.

Wunderlich genug sprachen sie meist von der Zukunft.

Kamilla schien es, als sei sie von der Vorsehung zu der Mission ausersehen, dieses stolze Geschlecht wiederaufzurichten, und wenn sie, während sie zusammen dahinschlenderten, in plötzlichem Liebesdurst die Arme um seinen Hals schlang und den erbebenden Jüngling mit heißen versprechenden Blicken und zärtlichen Liebkosungen an sich drückte, kam es ihr vor, als ob sie einen Ritter, der hinauszog ein heiliges Werk zu vollbringen, zum Kampf des Lebens weihte.

Und diese echt weibliche Begeisterung für die Zukunft dieses Jünglings, der in ihren Armen bebte, ließ sie vergessen, daß sie ja selbst auf dem Steg zurückblieb, während William in ihren Träumen stets blumengeschmückt allein im Boot durch das Meer der Zukunft der Morgenröte und dem Glücke entgegensteuerte. Und auch er schien nicht daran zu denken, denn in ihren kühnen Projekten war ja stets nur vom Hinausziehen die Rede, nie vom Wiederkehren!

Mitunter verbrachten sie den größten Teil des Tages in der Efeulaube des Wintergartens. Dieser Ort war gleichsam mit ihrer Liebe verwachsen. Der Duft des Heliotrops, die Grasbank, auf welcher sie den Rausch des ersten Liebesglücks genossen hatten, die hohen Pflanzen, an die sie sich gelehnt – alles sprach ihnen von den süßen Augenblicken des ersten Nehmens und Gebens.

Hier sprachen sie stets gedämpft und flüsternd; hier waren sie oft Arm in Arm und betrachteten einander mit jenem stummen Lächeln, das zu gleicher Zeit eine Erinnerung und eine Verheißung war.

Er sprach von jenem ersten Mal, wo sie in der Kirche seinen Gruß erwidert. Sie hatte dabei so eigentümlich gelächelt. Ob sie schon damals angefangen hatte, ihn zu lieben?

Sie antwortete nicht, sondern lächelte von neuem und küßte ihn. Das erste, was er an ihr gesehen, war ihr Nacken, er hatte ihn durch die schwarze Spitzenrüsche leuchten sehn! – Und das erste, was sie an ihm geseh'n, waren seine Augen gewesen! Sie hatte dabei gedacht, daß es doch zu merkwürdig war, solch dreißigjährige Augen in das Gesicht eines Sechzehnjährigen zu setzen. Manchmal lasen sie auch laut zusammen.

So war ihnen auch eines Tages »Tartüffe« in die Hände gekommen.

William las nun die Auftritte Tartüffes mit Elmire vor.

Und die Luft in diesem Raume, die Erinnerungen, die ihn bevölkerten, die Stimmen, die William von den süßen Stunden in dieser duftgeschwängerten Hütte sprachen – alles das gab diesem liebeskranken Heuchler Farbe und wurde für Kamilla zu einem berauschenden Bilde. Andachtsvoll lauschte sie den Worten des Dichters, die ihr wie eine wunderbare Liebeshymne klangen.

Als William geendet hatte, nahm sie die Hände von den Augen, sah ihn lange an, dann sagte sie einfach:

»Warum willst du nicht Schauspieler werden?«

Er rührte sich nicht, sah sie ganz starr an, errötete und schwieg.

Sie blätterte eine Weile mechanisch in dem Buche; es war nicht weiter die Rede davon. Aber den Rest des Tages waren beide zerstreut und schweigsam. Und am nächsten Morgen reisten Gerson und William nach Sorö zurück.

Ein paar Tage später verkündete der Gymnasialdirektor, daß sich die oberste Klasse nach Schulschluß im Lehrerzimmer versammeln sollte. Man forschte in seinem Gewissen nach irgendwelchen besonders schwarzen Flecken und sah gespannt der Mitteilung des Direktors entgegen.

»Es ist nichts Schlimmes,« sagte dieser beim Hereinkommen und sah – die Hände über dem Bauch gefaltet – lächelnd von einem zum andern. »Ihr seid wohl sehr ängstlich gewesen, daß irgendein Unglück passiert ist, was, Hög?«

»Nein, nicht gerade das, aber ...«

»Aber es ist im Gegenteil eher etwas Angenehmes ...« Der Direktor sprach möglichst langsam, die Zeigefinger spielend umeinander gleiten lassend, während er die etwas rötliche Nase fast in Williams Gesicht steckte. »Im Gegenteil ... etwas sehr ... Erfreuliches!«

Endlich kam es heraus, daß ein berühmter Schauspieler von Kopenhagen eine Wohltätigkeitsvorstellung auf dem Soröer Theater arrangieren wollte und sich dazu für die Besetzung der Nebenrollen den Beistand der Primaner ausbat.

Fünf Minuten später wußte die ganze Stadt, daß der berühmte X. nach Sorö kam, um eine seiner Glanzrollen zu spielen, daß die Prima ihm assistieren sollte und William Hög die zweitgrößte Rolle spielen würde. Seit lange war der Ort nicht in einer solchen Aufregung gewesen.

Die Gymnasiasten waren die nächsten acht Tage ganz aus dem Häuschen.

In den Freistunden herrschte ein Höllenlärm, und während der Unterrichtsstunden hörte man ein beständiges Flüstern. Am Abend wurde geprobt.

William war der einzige Ruhige in diesem Schwarm. Aber am Sonntag zog Vetter Gerson allein nach Veilgaard.


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