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Viertes Kapitel

Hög war dieses Frühjahr außerordentlich exaltiert. Er arrangierte einen Ball für Ninas Freundinnen, wo er selbst die ganze Nacht hindurch tanzte; dann unternahm er mit Pastors, die er dazu herumbekam, einen Ausflug nach dem Himmelsberge, wo man bei einem großen Feuer kampierte. In seiner Wohnung ließ er sich eine vollständige Tischlerwerkstatt mit einer kostspieligen Hobelbank einrichten, nahm Stunden bei einem Tischler des Ortes und ließ sich eine Unmasse Zeichnungen aus der Hauptstadt senden.

Zum Mittagbrot verlangte er fünf Gerichte und trank » Chateau la Rose« von den ältesten Jahrgängen. Übrigens war er selten zu Hause, er ritt aus, machte Visiten oder verbrachte die Zeit auf dem Rathause mit Nachforschungen im städtischen Archiv der Stadt. Man mußte oft stundenlang mit den Mahlzeiten auf ihn warten. Wenn er dann endlich ankam, war er ganz rot im Gesicht, und die Augen glänzten fieberhaft. Mit den Kindern sprach er viel; zu seiner Frau war er kühl und oft sogar barsch.

Stella litt im stillen. Sie wurde ganz gelb, magerte ab und hustete.

Doktor Berg war ihr in dieser schweren Zeit ein großer Trost. Sie hatte lange gezögert, sich vor ihm auszusprechen. »Es ist nur Exaltiertheit, liebste Stella,« hatte ihr Schwiegervater zu ihr gesagt, »hüte dich davor, es zu mehr aufzubauschen und dich irgendeinem Menschen anzuvertrauen!« Sie hatte ihn verstanden; außerdem wußte sie ja – – – Aber eines Tags in diesem Frühling war es zu fürchterlich geworden. Sie hatte die ganze Nacht mit Hög gekämpft, der sie mit einem Alpenstock mit eiserner Spitze, den er stets vor seinem Bette stehen hatte, verfolgte. Sie hatte sich auf den Balkon flüchten müssen und da den Nest der Nacht verbracht.

Am Morgen fiel sie in einen dumpfen Schlaf und blieb den ganzen Tag zu Bett liegen. Sie lag in einer Art schlaffer Mattigkeit da, die mit einer sinnlosen Angst abwechselte. Aber am Abend weckte sie ein plötzliches fieberhaftes Grauen aus ihrer Schlaffheit – eine zweite solche Nacht wollte sie nicht mehr erleben ...

Sie raffte sich auf, kleidete sich in Hast an, und nur von dem einen Gedanken geleitet, eine Nacht wie die letzte nicht mehr erleben zu können, lief sie mehr, wie sie ging, zu Bergs.

Es war Gewitterwetter, die heftigen Windstöße in der Allee schlugen ihr den Regen in dicken Tropfen ins Gesicht. Ihr Haar klebte an der Stirn, das Kleid schlug ihr um die Füße. Sie merkte es nicht; vom Fieber geschüttelt, schritt sie schneller und schneller dahin.

Als sie vor der Bergschen Villa angekommen war, hielt sie jäh an. Aber sie mußte, mußte – wenn sie nicht unter den Qualen dieses Schweigens zusammenbrechen sollte.

Wie sie sich die Treppe hinaufschleppte, war es ihr, als ob sie gleichsam die Ruinen dieses elenden Geschlechts auf ihren schwachen Schultern trüge.

Sie klingelte.

Das ihr öffnende Mädchen war ganz verwundert, die Frau Bürgermeister bei diesem Wetter vor sich zu sehen.

Stella hielt den Schleier fest vors Gesicht.

»Ist der Herr Doktor in seinem Zimmer?«

»Ja, gnädige Frau ...«

Sie schritt hastig an dem Mädchen vorbei nach der Tür des Sprechzimmers zu. Und es ging wie ein kurzes Nachgrollen des furchtbaren Kampfes durch ihre Seele, als sie vor dieser Tür stand. Dann öffnete sie sie rasch.

Doktor Berg saß am Schreibtisch und las. Der grüne Schirm über der Lampe dämpfte das Licht. Es war ein angenehmer, starker Duft von feinem Tabak und Medikamenten im Zimmer, und auf den hohen Bücherregalen und den grünen Paneelen lagerte gleichsam Ruhe und Frieden.

Der Arzt stand auf und kam ihr einige Schritte entgegen.

»Endlich,« murmelte er. Stella sah ihn an und traf seinen warmen, milden Blick. »Seien Sie ruhig, gnädige Frau,« sagte er gedämpft, »es ist vielleicht nicht so schlimm, wie Sie glauben.« Sie blieb betroffen stehen und fuhr sich mit der Hand über die Augen, wie um sich zu besinnen, zu sich zu kommen: Was, wußte er es denn? Ja, wahrscheinlich, er mußte es ja wissen, sonst hätte er dies nicht gesagt! Er wußte also alles, und sie brauchte ihm nichts zu sagen ... Sie fühlte, wie er beruhigend mit sanftem Druck seine Hand auf ihren Arm legte ...

Ihre Brust bewegte sich heftig in leisem Stöhnen. Es war, als schnappte sie nach Luft, weil Träten ihre Stimme erstickten; jenes stumme Weinen, das ihr all diese lange Zeit über die Kehle zugeschnürt, sie zu Boden gedrückt hatte. »Sie wissen es also? O, Doktor, Doktor, ich bin so namenlos unglücklich ...« Und während sie dies sagte, machte sie eine eigentümliche Bewegung mit dem Arme, er fuhr zwei-, dreimal hin und her durch die Luft, gerade als ob sie gegen ihr eigenes Elend ankämpfen wollte.

Der Arzt führte sie zum Sofa. Sie riß ihren Mantel auf, begrub ihren Kopf in dem Polster und schluchzte wild, in grenzenloser Verzweiflung.

Dr. Berg wartete ruhig. Man hörte im Zimmer sonst nur das gleichmäßige Ticktack der Wanduhr und dazwischen einige abgerissene Töne eines Walzers, den Frau Berg in der Wohnstube spielte. Stella hörte diesen Tanz mitten in ihrem Weinen.

Endlich wurde sie ruhig. Sie richtete den Kopf vom Polster auf, und während sie unverwandt auf die Quasten des Sofas niedersah, erzählte sie stoßweise und dazwischen leise aufstöhnend die traurige Geschichte ihrer Ehe ...

Von diesem Tage an war Dr. Berg ihr Vertrauter. Er meinte zuerst, daß diese unruhige Periode vorübergehen würde; daß es wahrscheinlich nur die gewöhnliche, öfter wiederkehrende Aufgeregtheit war, die wegen der drückenden Hitze des Jahres diesmal verstärkter auftrat, aber wieder vorübergehen würde.

Aber als die Krise immer weiter vorschritt, wurde er ernstlich besorgt, und eines Tages machte er Stella gerade heraus den Vorschlag, Hög in eine Irrenanstalt zu schicken.

Sie sah ihn erst lange steif und starr an, als ob sie ihn nicht verstünde. Dann machte sie eine angstvolle Bewegung mit dem Arm und sagte: »Unmöglich,« aber in einem so entschiedenen Tone, daß der Arzt nicht mehr darauf zurückkam.

Mit den Kindern sprach sie nie über die Veränderung, die mit Hög vorgegangen war. Aber beide, Nina und William, schreckten instinktiv von Anfang an vor des Vaters Munterkeit zurück.

Sie waren gewöhnt, ihn immer schweigsam, den Kopf in kalte Tücher gewickelt, nervös und griesgrämig zu sehen. Nun redete er unaufhörlich, lachte viel, scherzte mit den Dienstboten und erzählte oft so eigentümliche Geschichten, daß William verlegen auf seinen Teller niedersah und Nina purpurrot wurde. Außerdem sahen sie, daß die Mutter litt, und von Anfang an, gleichsam instinktmäßig fühlten und teilten sie deren Angst, wenn sie auch deren Grund nicht kannten. Und zuletzt, als Hög immer aufgeregter wurde, nagte eine entsetzliche Furcht an ihnen, die sie ebenso wie die Mutter leiden machte. Sophie war die einzige, die ganz ahnungslos bei Tisch plauderte und sich freute, wenn der Vater erzählte, scherzte und lachte. Die andern antworteten nur mit einem scheuen, gezwungenen »Ja« oder »Nein«. Aber ihre beständige Schweigsamkeit irritierte Hög; er wollte sie zum Reden zwingen. Und so wiederholten sich täglich Szenen, wo er barsch und grob zu Stella war und den Kindern gegenüber gewalttätig. Nina weinte leise vor sich hin; die Mutter saß stumm und bleich da, voll Schmerz, die Kinder so leiden zu sehen.

Denn sie sah es klar, daß sie litten; aber sie glaubte, daß es doch besser für sie wahr, sie nicht zu Mitwissern des schrecklichen Geheimnisses zu machen. Und zu fragen, wagten sie nicht. Ja, wie aus stillschweigender Übereinkunft sprachen sie nie über den Vater, erwähnten seiner niemals Stella gegenüber. Auch untereinander nicht; sie trugen schweigend diese unbestimmte Furcht, der sie nicht Herr werden, und über die sie sich auch keine Rechenschaft geben konnten; in stummer Angst erwarteten sie irgendein Unglück, das der eine vor dem andern verbergen wollte.

Mitunter bei Tisch sah William scheu erst die Mutter, dann Nina an. Aber auf beiden Gesichtern begegnete er jenem schwachen, ausweichenden Lächeln, das so schlecht ihre Angst verbarg. Sophie plauderte mit dem Vater.

Wenn Nina und William allein zusammenwaren – Stella schloß sich öfter in ihr Zimmer ein – saßen sie entweder, jeder mit seinem Buche, das er nicht las, oder sie sprachen von allem möglichen, wußten aber selbst nicht recht, wovon sie sprachen; es war gleichsam eine Galoppade von nichtssagenden Worten, die bloß den einen Zweck hatten, ein gegenseitiges Geständnis abzuschneiden. Aber mitunter mitten in einem solchen Gespräche, oder wenn sie sich auf der Treppe trafen, fragte der eine plötzlich angstvoll den andern: »Wo ist Vater?« oder: »Hast du Vater gesehen?« – »Weißt du, wo Vater ist?« Es waren hastig herausgestoßene Fragen, gleichsam wie unfreiwillige Seufzer, mit denen sie ihr in stiller Angst bebendes Herz erleichtern wollten.

Oder auch: »Mutter hat eben nach Vater gefragt ...« Sie schoben es dann auf die Mutter, die indessen fast niemals fragte.

Manchmal, wenn Stella William beim Gute Nacht-Sagen küßte, klammerte sich der Junge leidenschaftlich an sie und blieb lange an ihrer Brust. »Warum weinst du?« fragte die Mutter. Er sah angstvoll fragend zu ihr auf. Sie erriet, was die Frage bedeutete, streichelte ihn zärtlich und sagte tröstend: »Das geht schon vorüber ... mit Gottes Hilfe!«

Sophie war die einzige, die von dem allen keine Ahnung hatte. Stella nahm sie oft auf den Schoß und streichelte ihr Haar mit ihren schönen Händen. » Sie ist glücklich,« murmelte sie.

Hög kam nie zur bestimmten Zeit heim. Sie konnte dasitzen und warten und warten. Stella und die Kinder gingen dann ganz ruhelos vor Angst umher und lauschten auf jeden Schritt. Eines Tages blieb er noch länger als gewöhnlich aus. Das Essen war schon seit zwei Stunden fertig; der Diener hatte wohl schon an viermal gefragt, ob er nicht servieren solle. Und jedesmal antwortete Stella mit derselben erkünstelten Gleichgültigkeit, während sie zu Boden sah: »Der Herr ist noch nicht da, Johann.«

William stand am Fenster hinter der Gardine und spähte aus. Die Mutter saß am Nähtisch und stopfte einen Strumpf. Aber jeden Augenblick fiel dieser in ihren Schoß, und sie stützte den Kopf in die Hand. Darauf bezwang sie sich gewaltsam und ging ein paarmal im Zimmer auf und nieder. Dann setzte sie sich wieder und versuchte die Arbeit aufzunehmen.

Nina blätterte in einem Buche.

»Siehst du ihn?« fragte Stella. William beugte sich vor. »Nein.« Und es war, als ob durch dieses Nein die Luft im Zimmer noch drückender wurde.

Eine Weile herrschte Schweigen. Die Fliegen summten unter der Decke.

»Du solltest einen Fliegenfänger aufstellen, Nina,« sagte Stella.

»Ach, es nützt ja nichts, Mama ...« Nina stand auf, aber ohne den verlangten Gegenstand zu holen. Die Fliegen summten weiter. Auf der Straße pfiff jemand.

»Ist er da?« fragte Stella, ohne aufzusehen, hastig weiterstichelnd.

»Nein.«

Und nach einer langen Pause wieder: »Siehst du ihn nicht?«

William beugte sich noch weiter hinaus: »Noch nicht,« sagte er.

»Auch nicht an der Adelstraße?« Sie stand auf, um selbst ans Fenster zu gehen. »Es ist das beste, wir essen jetzt, Kinder!« Aber niemand ging. Sie setzte sich wieder und arbeitete krampfhaft weiter; auf ihren eingefallenen Wangen zeigten sich runde, rote Flecke.

»Der Vater ist gewiß auf dem Rathaus,« sagte Nina leise.

Stella nickte. Die Haustür ging. »Nun endlich«, rief sie erleichtert aus.

»Es ist Johann,« sagte William zögernd, »es war nicht Vater.« Er ging vom Fenster fort, er wollte nicht mehr da stehen und auch gar nichts mehr sehen.

Am Klavier vorübergehend, schlug er ein paar Akkorde an.

»Nina, du hast heute noch nicht geübt,« sagte Stella.

Nina setzte sich gehorsam an den Flügel und spielte Tonleitern. Während sie übte, ging William im Zimmer auf und nieder. Plötzlich blieb er hinter Stellas Stuhl stehen und sagte leise:

»Sollen wir nicht den Doktor fragen?« Er schnappte förmlich nach den Worten, wie wenn ihm die Angst die Kehle zuschnürte, und wurde glühend rot, während er dies sagte.

»Ich habe gefragt,« sagte die Mutter, kein Wort mehr. Er senkte den Kopf und fing wieder an, auf und ab zu gehen.

Bald darauf kam Hög endlich.

Einige Tage später reiste er plötzlich nach Kopenhagen. Dr. Berg ließ ihn ruhig reisen, hatte aber sofort an den alten Hausarzt des verstorbenen Ministers geschrieben, der die unglückselige Entwicklung der Krankheit von Kindheit an beobachtet hatte.

Es war wie eine Befreiung für das ganze Haus, gleichsam als ob man alle Fenster eingeschlagen hätte und nun frische Luft in die schwülen, drückenden Räume hineinströmte. Selbst Stella wurde jetzt eine andre, wo sie ihn nicht vor sich sah; sie hoffte, daß die Ärzte der Hauptstadt etwas ausrichten würden.

Den Tag nach Högs Abreise fuhr sie mit den Kindern in den Wald. Es war ein schöner Tag, und der Wald und die frische Luft, die Freiheit stimmte sie nach und nach heiterer. Man spazierte herum, spielte »Verstecken« und »Bäumchen wechseln« und verzehrte das mitgenommene Mittagbrot auf einer Anhöhe im Freien. Nina sang; Sophie rutschte den Abhang hinunter wie ein Bündel, und alle lachten. Im Anfang klang ihnen ihr Lachen so eigentümlich fremd, sie wunderten sich selbst, daß sie überhaupt noch lachen konnten.

Aber nach und nach berauschten sie sich gleichsam daran und an der Munterkeit, die ihr Geplauder weckte; es war so lange, lange her, seitdem sie einen solchen Tag gehabt hatten! Und des abends kamen sie in einer gewissen nervösen Aufgeräumtheit zu Hause an.

Johann meldete, als er den Schlag öffnete, daß ein Telegramm angekommen war. Es war ihnen, als ob man sie mit kaltem Wasser begossen hätte.

»Woher?« stieß Stella hervor, es klang wie ein unterdrückter Aufschrei.

Johann brachte es ihr. Sie klammerte sich einen Augenblick krampfhaft an den Wagen, dann faltete sie es auseinander und las.

»Gut,« sagte sie. Es kam so tonlos heraus, so dumpf, wie aus einem leeren Raume; dann stürzte sie die Treppe hinauf.

Nina ging der Mutter nach und blieb dann in der Ecke bei der Tür ihres Kabinetts stehen, William folgte ihr nach. Eine Weile standen sie stumm nebeneinander und lauschten ihren Atemzügen, dann plötzlich drückte sich William nah an die Schwester.

»Vater ist geisteskrank geworden,« sagte er tonlos.

»Ja,« antwortete sie, »geisteskrank«. Es klang, als ob sie all das Elend, was das Wort enthielt, in diesen kurzen Laut legte.

Sie zitterten beide. Dann in einer plötzlichen Aufwallung schlang Nina ihre Arme fest um den Hals des Bruders, drückte ihn fest an sich und brach in Schluchzen aus.

»Wir haben es ja schon lange gewußt.«

Tags darauf reiste Stella nach Kopenhagen.

 

Vier Wochen später kam sie mit ihrem Manne zurück. Er war nun wieder ruhig geworden, sprach äußerst wenig und schlief den größten Teil des Tages. Stella hustete viel und war sehr abgemagert, übrigens blieben sie nur drei Tage zu Haus, dann gingen sie nach der Schweiz. Die Kinder wurden auf einem Nachbargute untergebracht, und aus der ihnen versprochenen Reise nach Sorö wurde nichts.

Ja – William dachte doch mitunter an die alte Kirche mit den berühmten Gräbern. Und dann bemächtigte sich seiner eine tiefe Bitterkeit, die er selbst nicht verstand, im Bunde mit jenem wunderbaren Gefühl von Scham, welches die Familien haben, in denen Geisteskrankheit wütet. Es war ihm, als müßte er nun die Augen niederschlagen, da etwas so Fürchterliches sich ereignet hatte.

Alle drei Kinder blieben bis Mitte Oktober auf dem Lande. »William war ja so tüchtig in der Schule, ihm würde die Versäumnis gewiß nichts schaden,« meinte Doktor Berg, und sie waren, solange die Eltern wegblieben, auf Vornaes am besten aufgehoben.

Stella schrieb ihnen jede Woche lange Briefe, worin sie von den schönen Gegenden erzählte, die sie gesehen hatte, von der Table d'hote der großen Hotels und den Theatern, die sie besucht. Ihre Briefe klangen sehr tröstlich: »Dem Vater geht's wieder gut, er ist etwas melancholisch, wie Ihr ihn zu sehen gewohnt seid, aber weiter nichts. Ich fühle mich auch wohl, huste nur ein bißchen ...«

Und in einem anderen Briefe: »Vater ist nun ganz wohl, ganz wie früher. Dankt Gott, geliebte Kinder, daß es so vorübergegangen ist. Ich huste ein bißchen des Nachts und bin ziemlich alt geworden. Ich kann mir nun nicht mehr die grauen Haare herausreißen, wie William so gern wollte, es sind ihrer zu viele geworden ...«

Der letzte Brief war schon in Randers geschrieben. Sie waren drei Tage eher gekommen, um schon zu Hause zu sein, wenn die Kinder ankamen. »So werden wir uns nun bald wiedersehen, geliebte Kinder, nach so viel Sorgen – die alt machen. Ihr werdet eine alte Mutter finden, die Ihr kaum wiedererkennen werdet, aber die doch dieselbe geblieben ist, und Euch treu und innig liebt ...«

»Mutter schreibt immer so eigentümlich, als wollte sie uns vorbereiten,« sagte William.

»Und wie ihre Handschrift undeutlich geworden ist,« sagte Nina.

Den nächsten Nachmittag kamen sie zu Hause an.

Hög empfing sie im Hausflur. Er stützte sich ans Treppengeländer und drückte sie einen nach dem andern heftig an sich, ohne ein Wort zu sagen. Nina sah sich suchend um.

»Mutter ist oben,« antwortete Hög, zu Boden sehend, »sie ist nicht gesund.«

Die Kinder liefen die Treppe hinauf, stürzten ins Wohnzimmer und von da nach Mutters Stübchen. Das Herz war ihnen so schwer geworden, als erwarteten sie ein Unglück. Sie rissen die Tür auf und sahen sie vor sich, aber wie verändert!

Stella war aufgestanden und ihnen entgegengegangen, aber mitten im Zimmer verließen sie die Kräfte, und sie stützte sich an den Tisch, um nicht umzufallen.

Unwillkürlich traten die Kinder einen Schritt zurück. »Mutter!« riefen sie, »Mutter!« Ja, sie hatte recht, sie hätten sie beinahe kaum wiedererkannt.

»Fürchtet ihr euch vor mir?« sagte sie traurig. Selbst die Stimme hatte sich verändert, sie war so hohl, so geisterhaft geworden. Es schien, als ob die geflüsterten Töne auf ihren Lippen erstarben.

Sie zog die Kinder an sich und streichelte ihr Haar mit ihren durchsichtig zarten Händen, während sie mit gesenkten Köpfen vor ihrem Stuhle knieten.

»So hattet ihr mich doch nicht zu sehen erwartet.«

Keines von ihnen antwortete; Nina weinte mit fortgewendetem Gesicht leise vor sich hin.

Hög kam mit Sophie. Stella streckte dem Kinde die Arme entgegen. »Küß' Mama!« sagte sie. Aber Sophie fing zu schreien an. Sie wollte nicht zur Mutter gehen.

»Sie ist erschrocken,« sagte Stella. Ihr Hände fielen schlaff herab. »Geht jetzt, liebe Kinder ...« Sie wandte das Gesicht zur Seite. »Geht, geht ...!«

Als sie hinaus waren, bat sie das Mädchen, ihr einen Spiegel zu reichen. Sie saß lange mit dem Spiegel in der Hand da und betrachtete ihr Gesicht.

»Ja, es geht zu Ende,« flüsterte sie vor sich hin und fiel in den Stuhl zurück.

Die Krankheit machte rasche Fortschritte.

William wurde oft des Nachts durch den schrecklichen Husten der Mutter geweckt, so hohle Töne, die wie schmerzliches Heulen klangen und ihm ins Herz schnitten. Er wickelte seinen Kopf in die Decke und grub sich tiefer in die Kissen; aber es nützte nichts, beständig hörte er den schneidenden Messerklang des Hustens und dazwischen das Stöhnen und Nach-Luft-Ringen der Kranken.

Mitunter hörte er auch, wie die Mutter in leisem Klageton die Wärterin rief, und wie diese dann auf ihren Filzpantoffeln durchs Zimmer zum Kachelofen schlüpfte, um einen dort warmgestellten Trank zu holen.

Es war ihm unmöglich zu schlafen; der Husten verfolgte ihn. Manchmal fiel er aus Müdigkeit in einen wirren Halbschlummer, aus dem er dann wie im Fieber glühend und schweißtriefend erwachte. Wenn Stella inzwischen ein wenig eingeschlafen war und der Husten aufgehört hatte, lauschte er voll Angst, und ein lähmender Schreck befiel ihn, die Mutter könnte inzwischen, während er schlief, gestorben sein. Er riß die Decke von sich, sprang aus dem Bett, öffnete hastig die Tür und lief in die Wohnstube, die von dem daranstoßenden Kabinett, wo Stella lag, durch eine Portiere getrennt war. Die Wärterin schlief im Lehnstuhl hinter dem Klavier; das Kinn war auf die Brust gesunken, der Mund stand weit offen. Es lag etwas Unheimliches, Beklemmendes in diesen stillen Nächten über dem Zimmer. Der Lampenschirm dämpfte das Licht, die Schatten lagerten gespensterhaft auf allen Möbeln. Und in der schwülen Atmosphäre, wo sich Stellas Lieblingsparfüm mit der Krankenluft mischte, hörte man nur die heiser schnarchenden Atemzüge der Pflegerin, die, mit gefalteten Händen in ihren Sessel zurückgelehnt, schlief.

William ging sachte vorwärts und schob die Portiere zur Seite. Es war ganz still in dem kleinen Raum. Die Lampe auf dem Kamin vor dem Spiegel war heruntergeschraubt, die Palmen in der Ecke waren in eine heimliche Dämmerung gehüllt. Unter den Vorhängen des großen Betthimmels lag Stella ganz an der Wand; das Nachtlicht brannte schwach, ein fahler, gelber Schein fiel auf das bleiche Gesicht der Kranken, deren glänzendes, reiches Haar aufgelöst über das weiße mit Spitzen garnierte Kissen herabfiel.

Sie schlief. Den linken Arm um den Kopf gelegt, lag sie ruhig da; aber ihre Atemzüge waren röchelnd und klangen wie unterdrückte Seufzer. Die weiße, abgezehrte Hand leuchtete förmlich in dem dunklen Haar beim Schein des Nachtlichts.

William beugte sich über die Mutter, lauschte vorsichtig einen Augenblick ihrem schweren Atem, ließ dann die Portiere wieder hinter sich niederfallen und schlich sich an der Wärterin vorbei in sein Zimmer. Schlafen konnte er aber nicht.

Mitunter, wenn er so mit offnen Augen dalag, sah er den Vater durch sein Zimmer schleichen. Hög fand keine Ruh. Fürchterliche seelische Leiden peinigten ihn, und in verzweifelter Melancholie glaubte er selbst nach und nach, wie Stellas Leben schwand, dahinzusterben. Und so trieb es ihn rastlos Tag und Nacht herum, aber er mied die Nähe seiner Frau, es war, als ob ihn eine geheimnisvolle Scheu von ihr fernhielt.

Am Tage konnte er manchmal stundenlang im Wohnzimmer, den Kopf in die Hände gestützt, ganz apathisch dasitzen. Ohne zu sprechen, ohne sich irgendeine Beschäftigung vorzunehmen, ganz in dumpfen Schmerz versunken, saß er in irgendeiner Ecke, sich langsam mit der Gleichmäßigkeit eines Perpendikels nach vorn und wieder zurück bewegend.

»Willst du nicht zur Mutter hineingeh'n?« pflegte dann Nina zu fragen.

Er antwortete meistens nicht, schüttelte nur den Kopf. Oder auch, er sagte: »Ich will sie nicht stören!« und ging still wieder hinaus, wie er gekommen war. Stella fragte nie nach ihm. Nach Tisch, wenn er zu ihr hineinging, um »Gesegnete Mahlzeit« zu sagen, reichte sie ihm die Hand mit einem freundlichen Lächeln; er ließ sich dann auf einem Stuhl am Bette nieder, behielt ihre schmale Hand in der seinen, aber schweigend, ohne ein Wort zu sagen. Es lag eine gleichsam um Verzeihung flehende Gedrücktheit über seinem ganzen Wesen. Manchmal reichte ihm Stella die Stirn zum Kuß, dann beugte er sich demütig nieder und berührte sie leise mit seinen Lippen.

»Danke,« flüsterte er.

Wenn er des Nachts durch Williams Zimmer ging, hielt er die Hand vors Licht, das er trug, um den Sohn nicht zu wecken.

»Ich schlafe ja nicht,« sagte William.

»Bist du krank?« fragte er ängstlich. Er war sehr zärtlich zu den Kindern geworden, eine Art eigentümlich rührender, demütiger Zärtlichkeit, als wenn er ihnen vieles abbitten wollte – William wußte selbst nicht, wie das zuging, aber er fühlte, daß er diesem Vater, der ihm beständig ein so tiefes Mitleid einflößte, über den Kopf gewachsen war ...

»Nein ... aber Mutter hustet so,« antwortete er. Hög seufzte:

»Aber, das kann doch nicht so weiter gehen ... wir müssen dein Bett umstellen ...«

»Ich könnte doch trotzdem nicht schlafen. Ich ängstige mich so um Mutter ...«

Hög seufzte wieder – ein tiefer Seufzer, der so eigentümlich hilflos klang. »Du kannst etwas Schlafsaft bekommen,« sagte er. Er selbst brauchte massenweise Opium, Morphium und Chloral, mitunter auch alle drei gemischt; die Ärzte hatten es aufgegeben, die Hilfsmittel dieser ruinierten Natur zu kontrollieren.

Er gab William einen großen Löffel voll. Aber nach Verlauf einiger Wochen half auch dies nicht mehr. Hög verdoppelte die Dosis und gab ihm zwei große Portionen bald hintereinander.

So fiel der Junge in einen dumpfen Schlaf und erwachte am nächsten Morgen mit bleischweren Gliedern.

Des Nachmittags las William der Mutter laut vor. Die Gardinen wurden dann zugezogen und die Lampe angezündet. Stella hatte während ihrer Krankheit einen Widerwillen gegen Tageslicht. »Das dumme Licht,« sagte sie, »es zeigt so unbarmherzig, wie häßlich ich geworden bin.«

Sie lag ruhig da, ganz weiß in dem schimmernden Lichtschein, dessen Strahlen mit leuchtendem Glanze von der goldgelben Seide der Bettvorhänge zurückgeworfen wurden. »Du liest schön, mein Junge,« flüsterte sie. Aber mit einem Male wurde sie in ihrem Bette unruhig, öffnete die Augen und ließ die Hände hin und her durch das aufgelöste Haar gleiten.

»Gieb mir das Buch,« bat sie.

Sie nahm es, und sich im Bette aufrichtend, las sie nun den Kindern vor.

William setzte sich auf die Chaiselongue und lauschte mit geschlossenen Augen.

Aber das dauerte meist nur kurz, dann kam ein Hustenanfall, und Stella ließ das Buch fallen. »Es ist vorbei,« sagte sie traurig, »ich kann nicht mehr.«

Aber manchmal, wenn sie sich, an dunkleren Tagen, wo das Himmelbett in einer Art Dämmerlicht dalag, mit von Fieber geröteten Wangen in ihrem Handspiegel betrachtete und auf einmal besser und gesünder aussehend fand – fühlte sie sich auch wohler oder bildete es sich wenigstens ein. Sie setzte sich dann auf, strich das Haar zurück und klammerte sich an das bißchen Lebenshoffnung, die ihr das Spiegelbild schenkte.

Wenn die Kinder dann heimkamen, scherzte sie mit ihnen, sprach von einer Reise nach dem Süden, von Nizza, wo sie wieder gesund werden würde. »Es geht mir schon viel besser,« sagte sie. Sie versuchte auch aufzustehen, nahm Besuche an und sprach davon, einen Tee für Ninas Freundinnen zu geben.

Dr. Berg ließ sie auf die Chaiselongue bringen. Nina fragte, ob sie die Rouleaus aufziehen sollte. »Noch nicht ... aber in acht Tagen ... in acht Tagen wollen wir's schon hell machen ...«

»Nicht wahr?« fragte sie Dr. Berg, »in acht Tagen werde ich schon besser aussehen, da brauchen sich die Kinder nicht mehr vor mir zu erschrecken?« Sie lag dann am Tage in einem weißen Morgenrock mit Spitzen auf der Chaiselongue, ließ sich von der Jungfer frisieren und steckte eine Brillantbrosche vor.

Hög war überglücklich; er glaubte fest an diese Besserung und sprach auch dem Arzte davon. »Aber, Doktor, es geht ihr doch besser,« sagte Hög, »sie sieht gesünder aus, viel gesünder als vor vier Monaten ...«

»Vielleicht,« murmelte Dr. Berg und zuckte die Achseln.

Ein paar Tage später, als William aus der Schule kam, fand er das Haus ganz in Aufruhr.

William wollte sofort hineinstürzen, aber in der Tür stieß er auf Dr. Berg, der ihn zurückhielt.

»Stirbt sie?« flüsterte der Junge, »stirbt sie?«

»Das wollen wir nicht hoffen,« antwortete der Arzt und ging wieder hinein.

»Das wollen wir nicht hoffen,« sprach William mechanisch nach. Er stützte sich an den Türpfosten und zerrte krampfhaft an der Portiere. Es war ihm, als ob ihn die plötzliche Verzweiflung ersticken sollte.

Nina kam zu ihm, sie war sehr bleich und hatte rote, verweinte Augen.

»Glaubst du, daß sie stirbt?« fragte er. Er konnte die Worte kaum herausbringen.

»Ich weiß es nicht,« antwortete sie tonlos. Und in einer Aufwallung von Zärtlichkeit strich sie ihm liebkosend übers Haar.

»Ist hier jemand?« fragte Stella schwach, als sie wieder zu sich gekommen war. Dr. Berg neigte sich über das Bett. »Schicken Sie die andern hinaus und schließen Sie die Tür,« sagte sie matt. Hög ging hinaus; Berg schloß hinter ihm ab und kehrte wieder zum Bett zurück.

Sie lag einige Augenblicke schweigend da, und ein paar Tränen rollten die abgemagerten Wangen hinab. Dann wandte sie dem Arzte das Gesicht zu und sagte: »Wann muß ich sterben, Doktor?«

»Aber liebe Frau Hög, es ist noch durchaus nicht sicher, daß Sie überhaupt sterben müssen ...«

Sie schüttelte den Kopf. »Warum wollen Sie mir nicht die Wahrheit sagen?«

»Weil ich sie selbst nicht kenne, Frau Hög.«

Stella dachte einen Augenblick nach, dann fing sie wieder an:

»Aber wann glauben Sie?«

»Sie können sich ja noch wieder erholen ...« Der Arzt sah vor sich nieder, dann sagte er, während er den Bettpfosten fest umklammerte, »wenn Sie indessen vielleicht dies oder jenes zu ordnen wünschen ...«

Einige Augenblicke herrschte dumpfes Schweigen. Dann hörte der Arzt vom Dunkel des Bettes her einige Laute, die wie unterdrücktes Schluchzen klangen, worauf sich die Kranke wieder nach ihm umwandte und, ihm die Hand reichend, leise sagte:

»Danke, lieber Doktor. Ja, ich habe noch viel zu ordnen.«

Den ganzen Tag hindurch wollte Stella allein bleiben. Es war sehr hell im Stübchen, sowohl die Lampe wie die Krone brannten. Sie saß, an die Kissen gelehnt, im Bett aufgerichtet und schrieb mit Bleistift; Worte, von denen jeder Strich sie Schmerzen kostete und jeder Buchstabe Tränen ... Am Abend fiel sie ohne Schlafmittel in Schlummer und schlief ruhig wie ein Kind.

William saß am Bett, als der Arzt wiederkam.

»Sie schläft so schön, Herr Doktor ... ist das vielleicht eine Krisis?«

Der Arzt beugte sich über die Kranke und betrachtete sie lange.

Der Schlaf hatte eine zarte Röte auf ihre Wangen gehaucht, die Brust bewegte sich ruhig. Mit dem Kopf zur Seite, den linken Arm unter den Nacken geschoben, die gelbe Seidendecke etwas zurückgeschoben, lag sie inmitten ihrer Blumen, vom Licht der Krone hell beleuchtet, da.

»Wie schön Mutter aussieht!« sagte William leise, während ihm Tränen in die Augen traten. »Es war nur eine Krisis ... nun wird sie sich wieder erholen ... nicht wahr Herr Doktor?« fragte er atemlos. »Ja, es ist eine Krisis,« sagte dieser langsam. »Sie wird wohl nicht mehr erwachen,« setzte er in Gedanken hinzu.

Beruhigt schlief William fest die ganze Nacht.

Er träumte, daß die Mutter wieder gesund geworden war, und daß sie über eine große Wiese zusammen liefen und weiße Blumen pflückten, so viele, so viele, daß er sie nicht mehr zu tragen imstande war und fast unter der Last beim Laufen zusammenbrach ... Da hörte er plötzlich jemanden rufen: »Du fällst hinein, du fällst hinein,« während er sich derb am Arm gepackt fühlte. Es war ihm, als ob er trotzdem tief, tief fiele – da erwachte er.

»William, William,« es war Nina, die ihn gerufen hatte.

»Die Mutter stirbt, die Mutter stirbt!« Er rieb sich die Augen und sah plötzlich Nina, die, nur halb angekleidet, mit offenem Haar, das Gesicht in Tränen gebadet, vor ihm stand.

»Ich komme,« rief er bloß. Dann sprang er schnell aus dem Bett und kroch auf dem eiskalten Fußboden herum, um seine Sachen zu suchen. Es war noch ganz dunkel, und Nina war mit dem Licht davongegangen. Zitternd vor Kälte und Erregung, daß er sich kaum aufrechterhalten konnte, fand er endlich dies und jenes von seinen Sachen und stürzte, notdürftig bekleidet, ins Wohnzimmer, wo beide Dienstmädchen weinend an der Tür standen, während die Wärterin auf ihn zukam und ihn zu trösten suchte.

In diesem Augenblick kam Nina aus Mutters Stübchen heraus. Sie hielt das Taschentuch vors Gesicht und schluchzte heftig.

»Mutter will dir Lebewohl sagen, William ...«

William ging auf die Tür des Kabinetts zu und zog die Portiere zur Seite. Alles zitterte in ihm. Stella lag mit dem Gesicht der Wand zugekehrt.

Er näherte sich lautlos dem Bette der Sterbenden, und mit gefalteten Händen, tränenlos kniete er nieder.

»Bist du's, William?« fragte Stella, und als der Knabe den Kopf hob, sah er ein bleiches, überirdisch verklärtes Antlitz mit großen Augen sich über ihn neigen, die sich wie in einem heiligen Glanze erweitert hatten.

»Mutter,« rief er und streckte die Arme nach ihr aus.

Aber ohne sich zu rühren, beständig mit demselben Blicke, flüsterte sie schwach – es klang wie ein langer, schmerzlicher Seufzer:

»Armer Junge!«

William wußte selbst nicht in diesem Augenblick, warum er unter diesem Seufzer förmlich erstarrte ...

Um 8 Uhr begann der Todeskampf. Der Arzt und die Wärterin hielten die Hände der Sterbenden. Nina trocknete ihr den Schweiß von der Stirn.

In der Wohnstube saß die kleine Sophie ganz still, von dem der Kindheit eigentümlichen Kummer benommen, der nicht versteht, aber fürchtet; eine namenlose Angst ohne Tränen, die die Glieder erstarren macht.

Hög ging um den Tisch herum, immer wieder herum, wie gejagt. Mitunter hielt er inne, schlich zur Tür des Kabinetts und lauschte. Dann setzte er wieder seine Wanderung fort, sich dabei die Hände pressend, als wollte er seine blauweißen Finger zerbrechen. Er war fürchterlich bleich und die Augen blutunterlaufen.

Am Tisch saß William und zerschnitt nervös eine Zeitung in kleine Schnipsel; der Arzt hatte ihm verboten, hineinzugehen, und so zwang er sich, ruhig sitzenzubleiben, während er, ohne aufzuhören, leise ein Gedicht hersagte, daß er für morgen in der Schule aufhatte, und mechanisch weiterschnitzelte ...

Gegen den Nachmittag hin fiel Stella in Schlaf. Hög saß am Bette und hielt ihre Hand in der seinen. Sie war feucht und kalt, schon halb im Tode erstarrt.

Eine halbe Stunde später öffnete die Sterbende die Augen; sie sah Hög, und ein Lächeln des Wiedererkennens huschte über ihr Gesicht.

»Hörst du die Nachtigall?« flüsterte sie. Ein glückliches, wie verklärtes Lächeln, darauf ein leises Zusammenzucken, ein Seufzer ... Sie hatte ausgelitten.

Hög ließ die Hand seiner toten Gattin langsam los.

Wie gebrochen schleppte er sich hinaus und machte die Tür des Kabinetts vorsichtig hinter sich zu.

Und blitzartig verstanden alle, daß der Tod eingekehrt war. Die Kinder standen in den Ecken herum und weinten, Hög tränenlos mitten im Zimmer und rieb sich unaufhörlich die Hände. Dr. Berg kam bald darauf. Er ging einen Augenblick zur Toten. Als er wieder herauskam, gab er Nina einen Brief – Hög war inzwischen hinausgegangen – und sagte, daß ihre Mutter sie bitten ließ, ihn zusammen mit William zu lesen. Nina schluchzte laut auf. Der Arzt küßte sie auf die Stirn und sprach ein paar tröstende Worte, dann ging er, um mit der Wärterin Rücksprache zu nehmen, die er im Speisezimmer antraf, eifrig beschäftigt, Schirting in Stücke zu reißen, Rosetten zu nähen und Trauerflorstreifen zu verfertigen, wobei ihr die Mädchen halfen.

Nina brachte Sophie zu Bett und kehrte dann ins Wohnzimmer zurück.

William hatte die Lampe hoch hinaufgeschraubt und versuchte zu lesen. Er hatte den Tisch nahe an die Speisezimmertür gerückt, die ein wenig offen stand.

Ein fürchterlicher Schrecken hatte sich plötzlich seiner bemächtigt, ein entsetzliches Grauen vor dem Leichnam in seiner Nähe, das fast seinen Schmerz ertötete. Er hatte gar nicht mehr die Empfindung, daß es seine Mutter, die da drinnen lag, er fühlte nur, daß der Tod im Hause war.

»Wir wollen jetzt den Brief lesen, komm!«

William sah auf und erblickte auf einem weißen Blatte die Schriftzüge der Mutter. »An Nina und William« stand da. Die Röte schoß ihm ins Gesicht, er schämte sich seiner Angst von vorhin. Sich umschlungen haltend, den Kopf geneigt, lasen die beiden Geschwister beim Lampenschein der Mutter letzten Brief.

»Geliebte Kinder! Meine Hand zittert, daß ich kaum schreiben kann, und jeder Buchstabe schmerzt mich, aber Eure Liebe zu mir wird Euch meine undeutliche Schrift lesen lehren ...«

William lehnte den Kopf an Ninas Brust und preßte sie in einer langen, verzweifelten Umarmung an sich ...

»Komm, komm, wir wollen uns zusammennehmen und ganz ruhig lesen,« sagte Nina mild und riß sich los.

»Eure Mutter, die nun sterben muß, obgleich sie noch gar so gerne Euretwegen gelebt hätte, ist, meine lieben, guten Kinder, nicht immer glücklich gewesen. Es gibt Sorgen, die man unter einem Lächeln verbirgt, und diese sind es gewesen, die mein Leben untergraben haben. Doch wollte ich nicht darüber sprechen, es ist nicht nötig, daß ich Euch damit plage. Meine letzten Worte sollen eine Bitte sein. Ich habe Euch oft, wenn wir allein des Abends zusammensaßen, von dem berühmten Geschlecht erzählt und Eurer alten Familie. Eures Geschlechtes willen flehe ich Euch nun an, meine Bitte zu erfüllen und Eurem teuren Großvater zuliebe, dessen letzte Worte es waren, und um meinetwillen, die ich daran zugrunde gegangen bin, seinen Wunsch zu erfüllen.«

Eine Träne hatte an dieser Stelle die Worte verwischt. Atemlos vor Erregung hielten sie das Papier an die Lampe, um besser zu sehen.

William weinte nicht mehr; hinter Nina stehend, verschlang er die Worte mit den Augen.

 

»Euer Vater ist geisteskrank – wird wahrscheinlich nie wieder gesund werden. Die Auffassung unserer Zeit, geliebte Kinder, ist noch beschränkt genug, dieses Unglück für eine Schande anzusehen; außerdem würde Euer Vater sein Amt verlieren, wenn man von seiner Krankheit erfährt – und Ihr seid nicht reich – deshalb sucht es vor der Welt zu verbergen, tut alles mögliche, daß es keine Menschenseele erfährt – – – Ihr seid noch jung; das Leben wird Euch einmal dafür entschädigen – Euch Glück bringen – – das glaube ich fest – –

Ich kann nicht mehr. Tausend-, tausendmal lebt wohl!

Eure Mutter.«


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