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Zweites Kapitel

Die meisten waren darüber einig, daß William ein ganz eigentümlicher Knabe war.

Er war sehr dunkel, sowohl von Haut- wie von Haarfarbe, und hatte ungewöhnlich große Augen mit einem schwermütigen, etwas unruhigen Blicke.

Sein Kopf schien im Verhältnis zum Körper zu groß zu sein; außerdem hielt er sich schlecht, so daß er noch einen runderen Rücken zu haben schien, als es in Wirklichkeit der Fall war. Die Natur hatte ihm ein paar ziemlich dünne Beine und allzu lange Arme geschenkt, und seine Bewegungen waren wunderlich, halb eckig, halb theatralisch.

Sein Gang war ungleich und ebenfalls merkwürdig. Er konnte, leise mit sich selbst redend, langsam längs der Häuser hinschlendern – Stella behauptete, daß er Löcher in den Ellbogen bekam durch die Art, wie er sich an den Wänden entlang drückte – mit gebeugtem Kopf und schlenkernden Armen. Dann plötzlich stolperte er über seine eigenen Beine, die er beständig einwärts setzte, und fing zu laufen an. Wie er aussah, wenn er so lief! Man kam darauf, an die kleinen, mißgestalteten Trolle mit ihren unverhältnismäßig großen Köpfen zu denken, die zusammengedrückt in Schachteln liegen und aufspringen, wenn man diese öffnet. Nach einer Weile hielt er dann gewöhnlich mit dem Laufen inne, schlenderte eine Zeitlang wieder in der alten Weise, bis er dann auf einmal wieder zu laufen anfing.

Beim Sprechen gestikulierte er viel. Er wandte gern selten gebräuchliche Worte an, und was er sagte, war oft so stilisiert wie die Repliken in einem Drama.

Nina und William standen zeitig auf, lange vor den andern. An den Wintermorgen kamen sie noch ziemlich verschlafen in die eiskalte Küche, wo die Köchin ihre Butterschnitten, die sie in die Schule mitbekamen, bei einem tropfenden Talglicht schmierte. Sie hatte stets noch ihre Barchentnachtjacke an und schnitt Brot, indem sie dieses gegen ihre Brust hielt. William bekam manchmal geradezu Ekel vor diesem Essen – des Mädchens Nachtjacke war mitunter schon ganz graugelb in der Farbe – und warf das Butterbrot auf dem Wege zur Schule fort. Während die Kinder ihren Kaffee tranken, stand sie und frisierte sich am Küchentisch, wobei sie immer den einen Zopf im Munde hielt, während sie den andern flocht.

Wenn die Kinder fortwaren, kroch sie wieder ins Bett zurück. Um neun Uhr kam der Milchmann und weckte sie; um halb zehn Uhr bekam Stella ihren Tee ins Schlafzimmer.

Ab und zu passierte es, daß Hög bei seiner ewigen Schlaflosigkeit sehr zeitig aufstand.

»Hyß, hyß,« machte das Mädchen, wenn die Kinder zähneklappernd in die kalte, dunkle Küche traten. »Der Herr Bürgermeister ist auf.«

An diesen Tagen wagten Nina und William kaum zu sprechen. Nina stand und las flüsternd in ihrem Katechismus bei dem blakenden Talglicht, William setzte sich auf die Küchenbank neben die Wassertonne, aber er konnte keinen Augenblick stillsitzen und wackelte so unruhig auf der Bank hin und her, daß der Schöpfeimer plötzlich plätschernd in die Tonne fiel.

»Sst, William,« sagte Nina, »du weißt ja, Vater ist auf.«

Wenn er sich dann auf den Zehen sachte durch die Küche schleichen wollte, fiel er über den Kohlenkasten beim Schornstein. Aus Schreck fing er an, auf allen vieren zu kriechen.

»Daß dich der Kuckuck ... du ungeschickter Klotz,« schalt das Mädchen. Im Eßzimmer, welches die Kinder passieren mußten, sahen sie den Vater mit einem Handtuch um den Kopf gewickelt am Tische sitzen. Sie sagten ganz ängstlich, leise »guten Morgen«. Er nickte nur, ohne sich umzudrehen oder zu sprechen. Nina öffnete die Tür und schlüpfte schnell hinaus; der Junge ihr nach, aber in seiner Angst war er nicht imstande, die Tür zu schließen. So stand er lange da und rasselte mit dem Schloß, bis der Vater wütend aufstand und mit einem ungeduldigen »Na« die Tür hastig zuwarf.

Die Kinder machten, daß sie so schnell wie möglich die Treppe hinunterkamen. An einem solchen Morgen waren sie froh, wenn sie erst glücklich auf der Straße waren.

 

Hög pflegte zu Mittag zu speisen, wenn die Kinder aus der Schule kamen. Bei Tisch wurde wenig gesprochen. Wenn Nina eine etwas längere Geschichte zu erzählen anfing und die andern einmal lachten, fuhr sich Hög mit einer nervösen Bewegung über die Stirn, und Stella winkle ihnen gleich zu, still zu sein.

Diese Schweigsamkeit drückte auf die Kinder; meist aßen sie ihr Essen hinunter, ohne ein Wort zu sprechen; sie schubsten sich nur gegenseitig unter dem Tisch. Wenn das Mittagbrot vorbei war, küßten sie den Vater – William war immer so wunderlich angst dabei zumute; nach dem Kuß bekam er einen ganz roten Kopf und lief wie besessen hinaus.

Nun war er bis abends sein eigener Herr.

Mitunter sammelten sich alle Kinder der Nachbarschaft auf dem Högschen Hofe, auf dem es sich großartig Verstecken spielen ließ – es gab da hohe Holzhaufen, große Wagenremisen und Schuppen. Auch lagen einige alte Zuckertonnen herum, die der Kaufmann schon jahrelang da liegen lassen hatte; diese stapelten die Jungen zu Festungen auf, wenn sie Soldaten spielten. William war der Kleinste von allen, deshalb war er beständig König – zu etwas anderem taugte er nicht. Aber König zu sein, das verstand er aus dem ff. Er stand mit Würde ganz oben auf den Tonnen und teilte Orden aus: kleine Zigarrenbändchen, die er vom Vater erbettelt hatte, und fabrizierte sich Schärpen aus altem Tarlatan, den ihm Stella gab.

Er hielt lange Reden, und jedesmal, wenn seine Truppen gesiegt hatten, ließ er sich mit der Pappkrone krönen, die ihm seine Cousine zum Geburtstag geschenkt hatte.

Und seine Truppen siegten immer. Nina war Bischof und setzte ihm die Krone aufs Haupt – mit Nina konnte man sich doch nicht prügeln, weil sie ein Mädchen war, deshalb repräsentierte sie mit ihrer besten Freundin des Reiches höchste Geistlichkeit.

Ein anderes Mal wieder mußten die Tonnen Schiffe vorstellen. Sie segelten weit, weit fort. William war Kapitän; er stellte Kolumbus vor und entdeckte Amerika. Traurig saß er tief drinnen in einer der Tonnen; die Matrosen hatten ihn gebunden. Aber als dann Nina: »Land – Land!« rief, wurde er befreit, und, jubelnd eine alte Fahne schwingend, ließ er sich im Triumph von den anderen Jungens im Hofe herumtragen.

Der Himmel weiß, wie viele Male er Amerika entdeckt hatte!

Oft aber spielte Nina allein mit den Knaben. William blieb oben, um zu lesen. Er lag dann auf dem Bauch platt am Boden ausgestreckt, den Kopf auf beide Hände gestützt, und las und las. Wenn er besonders eifrig wurde, kroch er – beständig die Augen auf das Buch geheftet – von einem Ende des Zimmers bis zum andern. Oft las er auch laut, ohne daß er es selbst wußte, oder er deklamierte Verse; bald flüsternd, bald mit erhobener Stimme. Mitunter erhob er sich auch wie ein Nachtwandler ganz mechanisch vom Boden, ging, das Buch immer offen in der Hand haltend, auf und nieder und rezitierte, bis ihm vor Anstrengung die Stimme überschlug.

Stella war ganz still dabei und beobachtete ihn. Mitunter legte er auch das Buch aus der Hand, ging vor den Spiegel und sprach mit sich selbst, wobei er mit den Armen allerlei Gesten machte und verschiedene Stellungen probierte.

Eine Weile später lag er dann wieder auf dem Bauche, ganz rot im Gesicht und vor Erregung und Anstrengung förmlich schwitzend. Man konnte ganz gut um ihn herum sprechen, das störte ihn nicht. Er hörte die Unterhaltung nur als etwas ganz Fernes, weit, weit fort. Es war ihm dann, als wäre er in einem tiefen Brunnen, und ganz oben über ihm wurde Spektakel gemacht. – Er hatte sich auf dem Boden ein Zelt aus ein paar alten, roten Gardinen fabriziert, eine kleine Hütte mit einem Lager aus wollenen Schlafdecken. Dort saß er stundenlang und las ... Er las leidenschaftlich gern. Aber mitunter entfiel das Buch seiner Hand, und er konnte lange mit der Nase in der Luft auf seinem Lager unbeweglich daliegen, ganz wach, aber mit geschlossenen Augen. Er träumte. Wunderliche, vage Träume, so daß es ihm ganz heiß ums Herz wurde. Wenn dann die Dämmerung hereinbrach und die Abendröte durch die alten Gardinen schimmerte, bekamen seine Phantasien immer wärmere Farben und Töne.

Er träumte, daß er König war mit vielen Rittern und Knappen, so ein König, wie er in den Büchern, die er las, vorkam: mächtig, reich und groß. Er kleidete sich in Gedanken in Hermelin und Purpur, in Goldbrokat und schimmernden Atlas; vor seinen Augen funkelten bunte Edelsteine und Perlen, Diamanten und Silber, daß es ihn mitunter geradezu blendete.

Aber dann kam der Feind ins Land und bedrohte ihn. In Regen, Sturm und rauhkaltem Unwetter mußte er hinaus ins Feld. Und dann kam der Kampf. Es gab ein wildes Getümmel, Lärm von Schlägen und Geschrei; die Schwerter schlugen klirrend aneinander, Gewehre knallten; es gab auch Kanonen in seiner großen Schlacht.

Oder er träumte, daß er unermeßlich reich war. Er badete sich in duftendem Wasser wie der Prinz im Märchen, aß nichts als herrliche, seltene Früchte und verheiratete sich mit der schönsten Frau im Lande. Sie hatte ein weißes Kleid mit blauen Schleifen wie die kleine Julie aus der Tanzstunde. Er hatte sie einmal hinter der Tür geküßt, und sie hatte geweint. Aber nun war sie seine Königin, und er betete sie an und küßte sie auf ihre marmorweißen Hände. Dann aber kamen böse Zeiten, und sie mußten sich trennen. Sie ging weinend die hohe Freitreppe hinab und winkte mit ihrem weißen Schleier – ein langer, silbergestickter Schleier, der im Winde flatterte – und er stand allein auf dem Balkon. So warf er sich auf den Fußboden nieder und küßte die Stelle, wo sie gestanden hatte.

Das hatte er auch damals getan, als die kleine Harriet, ein Nachbarkind, abreiste. Sie hatten noch zuletzt »Kirche« zusammen gespielt. Nina war der Geistliche, Harriet Braut und er der Bräutigam. Der Altar war im Musikzimmer arrangiert, die Puppen bildeten das Gefolge; Stella spielte einen Marsch auf dem Flügel. William und Harriet waren ganz rot im Gesicht und schritten, ohne sich anzusehen, zum Altar hinauf, wo Nina sie traute und ihnen zwei Ringe aus Goldperlen ansteckte.

William war es zumute, als ob es Ernst war, und mitten während der Trauung fing Harriet zu weinen an. Den nächsten Tag schrieb William ein Gedicht von einer Fee und blauen Veilchen; Stella lachte, als sie es las, daß ihr die Tränen über die Wangen liefen. Als Harriet »Adieu« sagen kam, gab er ihr das Gedicht. Sie standen draußen auf dem kleinen, dunklen Gang bei der Bodentreppe. Er küßte sie, und sie umfaßte ihn mit ihren Armen, und beide weinten. Da rief ihn die Mutter, aber Harriet klammerte sich an seine blaue Jacke und wollte ihn nicht gehen lassen. Und plötzlich schluchzte sie ganz laut auf und lief schnell die Bodentreppe hinunter. Die Mutter rief wieder; er aber sah traurig Harriet nach, und während er noch ihr Schluchzen hörte, beugte er sich nieder und küßte die Treppenstufe, auf der sie gestanden hatte.

Als er dann zu Stella hinunterkam, war er purpurrot im Gesicht. Stella seufzte: Der Junge kannte kein Maß – in nichts! Wie sollte das noch einmal mit ihm werden!

Mitunter ging Stella zu ihm auf den Boden hinauf, setzte sich zu ihm und erzählte Geschichten oder sang. Aber oft auch verjagte sie ihn aus seinem Tuskulum, weil sie ihn in Tränen traf.

»Warum weinst du eigentlich?« Aber der Junge antwortete nicht; er trocknete nur die Augen und hörte zu weinen auf. »Komm, wir wollen hinuntergehen und zusammen vorlesen.«

Stella, Nina und William lasen häufig mit verteilten Rollen. Meist nahmen sie Oehlenschläger, und William war der Held. Er las genau wie die Mutter mit derselben Betonung, denselben Nuancen, demselben Mienenspiel. Sie saßen alle drei dicht an die Lampe gerückt; William und Nina hatten ein Buch zusammen. Während sie lasen, rückten sie im Eifer immer näher aneinander, so daß sie sich mit den Stirnen stießen. Nina wußte nie, wo es war, weil sie immer weiterblätterte, um zu sehen, wann sie wieder drankäme.

»Jetzt ist Mutter dran!« – sagte William.

Stella las mit gedämpfter, sanfter Stimme, fast wie flüsternd. Wenn sie so über das Buch gebeugt dasaß, ließ sie ihre weiße Hand gleichsam wie im Takt mechanisch über ihr schwarzes Haar gleiten, das im Lampenschein förmlich glänzte.

William schien das Lesen seiner Mutter geradezu Musik.

Die Uhr auf der Konsole tickte ganz leise; im Winkel beim Bücherschrank war es ganz dunkel. Dort mußte es sich herrlich sitzen. Er stand langsam auf und schlich sich nach der dunkeln Ecke. Da saß er wie versteckt und lauschte andächtig. Er ließ kein Auge von der Mutter, die der helle Lampenschein wie eine Glorie umgab.

Als sie geendet hatte, wandte sie sich um und sah zu ihm hin. Er hockte ganz zusammengekauert, den Kopf auf den Knien, auf seinem Stuhl und wackelte langsam hin und her.

»Schläfst du?« fragte die Mutter.

»O, nein,« antwortete er, ohne sich zu rühren. Nina gab es einen Ruck, daß ihre Stricknadeln rasselnd gegeneinander fuhren; sie nickte mitunter ein bißchen ein.

Im vierten oder fünften Akt weinten sie gewöhnlich alle drei. Die Tränen der Mutter fielen langsam über die Wangen auf das Buch nieder. Nina schnaufte in einem fort und kraute sich mit den Stricknadeln im Haar. Zuletzt, als die Rührung überhandnahm, trocknete sie sich die Tränen mit ihrem Strickstrumpf ab.

»Aber Nina, der Strumpf,« rief Stella aus, »der wird ja so schwarz wie Erde bis zum Examen!«

An andern Abenden erzählte sie den Kindern. Sie sprach von dem Högschen Geschlecht, von seiner Größe, seinem Alter. In einer der schönsten Kirchen des Landes lagen die Ahnen durch viele Jahrhunderte begraben, ihr Wappen war auf die Wand gemalt, die ganze alte Kirche war ihr Mausoleum.

Von dieser Zeit an dachte William viel an diese Kirche, wenn er allein oben auf seinem geliebten Boden saß. Dort lag also sein ganzes Geschlecht, all die alten, berühmten Männer! Dort lagen sie. Wie still und feierlich es doch in dieser Kirche sein mußte! Da wagte man gewiß nur zu flüstern ...

Da lag der große Bischof, der Dänemark stark und mächtig gemacht hatte. Und da lag auch der Königsmörder ... Ein Königsmörder in seiner Familie! Ihm wurde ganz angst, wenn er daran dachte, der Schweiß trat ihm auf die Stirn, und es durchschauerte ihn.

Ein Königsmörder! Und er sah das Blut fließen und den König bleich und starr seinen Geist aushauchen. Er hatte darüber in Romanen gelesen. Es gab einen Königsmörder in seinem Geschlecht, und er lag dort in der Kirche zusammen mit den andern ... Fürchterlich, entsetzlich! – –

Seines Stammvaters Gebeine waren in die Wand hinter dem Altar eingemauert. »Glaubst du, daß sie schon zerfallen sind?« fragte er den Vater. Dieser glaubte es: »Es sind sechshundert Jahre her,« sagte er. »Sechshundert Jahr.«

... Manchmal, wenn er so allein dasaß, begann er darüber nachzudenken, was er werden wollte. Etwas Großes mußte es natürlich sein – das war er seinem Geschlechte schuldig!

Alle seine Gedanken kreisten um diese Größe, die in der alten Klosterkirche moderte. Als sie in der Schule in der Geschichtsstunde von dem Königsmörder lasen, nannte einer der Jungen diesen geradeheraus einen Schurken. Das brachte William so auf, daß er auf den Knaben zustürzte und ihm mit der geballten Faust einen Schlag ins Gesicht versetzte.

»Er ist von meinem Geschlecht,« sagte er stolz, und als ihn die andern auslachten, wurde er ganz bleich, sagte aber nichts mehr.


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