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Achtzehntes Kapitel.
Endlich ein Engel

Frau Sinclair fügte noch als Postskriptum hinzu: »Ich glaube, daß Daisy Ihnen einen sehr guten Rat gibt, und wenn es Ihre Zeit gestattet, sehr geehrter Herr Doktor, wäre auch ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie herkämen, um nach meiner Kleinen zu sehen. Ihre Wunde heilt zwar gut, aber sie selbst ist sehr nervös und schwer zufrieden zu stellen, und ich möchte meinen armen Liebling gerne so bald wie möglich nach Hause nehmen, um ihn nie mehr von mir zu lassen, bis einst der rechte Prinz kommt.«

Daisy war, wie die Mutter richtig beurteilt hatte, in der Tat in einem sehr reizbaren Zustande; und besonders Fräulein Grey gegenüber benahm sie sich äußerst launisch; in einer Minute überschüttete sie sie mit stürmischen Liebkosungen, um in der nächsten geradezu abstoßend zu ihr zu sein.

»Hast du mich denn gar nicht mehr lieb, Daisy?« fragte Fräulein Grey an einem Nachmittag traurig, wie die Kleine sie unwillig zurückschob, als sie ihr einen Kuß geben wollte.

»Diese Minute nicht,« war die Erwiderung.

»Aber warum? Was habe ich denn getan, was dich kränkt?«

»Nichts!« entgegnete das Kind schroff. Gleich darauf aber fügte sie mit leiser, seltsamer Stimme hinzu: »Aber du kannst mich doch küssen, wenn du es sehr gerne willst.«

Und mit einer innigen Umarmung war die alte Freundschaft wiederhergestellt.

»Mir scheint, Daisy muß sich schon jetzt durch eine der schweren Lektionen, wie sie die harte Schule des Lebens uns häufig lehrt, durcharbeiten,« bemerkte die Mutter lächelnd zu dem jungen Mädchen, »und es wird hoffentlich eine gute Nachwirkung auf ihren Charakter haben.«

Fräulein Grey erwiderte nichts hierauf, aber sie verdoppelte, wenn möglich, noch ihre Liebe zu der kleinen Kranken und war unermüdlich in dem Bestreben, sie zu unterhalten und ihr die Einförmigkeit während der Zeit der Genesung zu erleichtern.

Wogegen die Fräulein Bryant sich damit begnügten, höfliche Erkundigungen einzuziehen. Denn nach dem ersten Besuch, an dem Daisy sie mit weit aufgerissenen Augen gefragt hatte, »warum sie nicht im Gefängnis wären? Und ob es nicht sehr lieblos sei, Menschen, bloß weil man sie nicht leiden mag, zu erschießen?« vermieden sie geflissentlich das Krankenzimmer, wo das »fürchterliche Kind« war.

Es gehörte lange Zeit dazu, Daisy davon zu überzeugen, daß die Damen Bryant nicht absichtlich auf sie geschossen hätten wegen des zerbrochenen Porzellans.

»Du darfst so etwas nicht sagen, Daisy,« sprach Frau Sinclair streng. »Das ist sehr böse.«

»Ich finde, daß die anderen sehr böse sind,« meinte die Kleine.

»Nein, das sind sie nicht. Es war nur ein Irrtum. Die Damen glaubten dich sicher in deinem Bettchen, wo du auch hättest sein müssen. Sie dachten, es wäre ein böser Dieb, der die Treppe hinaufstieg und schossen die Flinte ab, weil sie fürchteten, er würde sie töten.«

Daisy lachte leise auf. »Wie drollig! Zu denken, daß ich ein großer, dicker Dieb sein soll! Na gut! Ich werde ihnen denn vergeben! Nur möchte ich nicht in ihrer Schule ein kluges Mädchen werden. Bitte, bitte!«

»Das sollst du auch nicht, mein Liebling. Du wirst mit mir zurück nach Hause kommen, um immer bei Mütterchen zu bleiben. Mütterchen hat sich furchtbar nach ihrer kleinen Daisy gebangt, und sie wird sie nie wieder von sich lassen, nur weil jemand anders das will.«

»Wirklich nie?« fragte Daisy noch zweifelnd.

»Wirklich nie!« erwiderte Frau Sinclair bestimmt.

Da war Klein-Daisy zufriedengestellt.


Am nächsten Tage traf Herr Georg Evans in der Turmvilla ein und wurde sofort zu Daisy geführt. Das kleine Gesichtchen strahlte, als sie ihren Freund wiedersah, und glücklich streckte sie ihm die Ärmchen hin. Aber gleich darauf ließ sie sie wieder auf die Decke herabfallen und fragte in bebendem, gereiztem Tone: »Hast du schon die andere Prinzessin gesehen?«

»Nein, mein Prinzeßchen. Ich wollte zuerst dich besuchen.«

»Nun, dann kannst du jetzt zu ihr gehen und ihr sagen, daß du sie heiraten wirst – weil sie dich nämlich sehr gerne heiraten möchte – wirklich.«

Georg lachte verlegen auf und versuchte die Sache mit einem Scherz zu umgehen. »Aber ich habe doch versprochen, zu warten, bis du alt bist und dich dann zu heiraten.«

»Aber jetzt möchte ich dich gar nicht mehr heiraten. Ich werde nämlich immer bei Mütterchen bleiben; die mich auch nie von sich lassen wird, nur weil jemand anders das will. Und außerdem, wenn ich alt bin, wirst du noch viel älter sein, und du wirst dann gewiß gar nicht mehr ordentlich laufen können; ja, vielleicht bist du dann gar ebenso wie der alte Fischer, der den ganzen Tag draußen gebückt in seinem Stuhl sitzt, und das würde für mich doch recht langweilig sein!«

Sowohl Frau Sinclair wie der junge Mann lachten laut auf.

»Seht nur einmal das Kind!« rief letzterer. »Ich fühle mich sehr gekränkt! Wer kann ihr so etwas eingeredet haben.«

»Vermutlich das Hausmädchen!« entgegnete Frau Sinclair. – »Ach, bitte, kommen Sie doch herein, Fräulein Grey!« – Denn der Kopf von Daisys lieblicher Pflegerin war für einen Augenblick in der Türspalte erschienen, um sofort wieder zu verschwinden.

Auf einen Wink von Frau Sinclair folgte Herr Evans dem jungen Mädchen.

Ungefähr eine halbe Stunde danach betraten die beiden wieder das Krankenzimmer.

»O, du lieber, süßer, kleiner Engel!« rief Fräulein Grey zärtlich, während sie vor Daisys Bettchen niederkniete und das kleine blasse Gesichtchen immer wieder und wieder küßte. »Wie hast du nur daran denken können, solch einen fürchterlichen, lieben, entzückenden Brief zu schreiben und mir meinen Prinzen zurückzugeben?«

»Daisy, Liebling, du hast etwas sehr Großes getan,« sprach nun auch Georg Evans weich zu seiner kleinen Freundin, »denn du hast mir meine goldhaarige Prinzessin wiedergefunden, die ich für immer verloren glaubte, und die ich ohne dich auch für immer verloren haben würde, und du hast uns beide sehr glücklich gemacht.«

»War das etwas sehr Großes?« fragte Daisy eifrig.

»Das Allergrößte und Schönste, was du tun konntest, du kleiner Engel du!«

Daisy strahlte. »Bis jetzt hat mich noch nie jemand einen Engel genannt!« sprach sie glücklich. »Und ich hätte auch nie geglaubt, daß ich einer sein könnte mit meinen schwarzen Haaren.«

»Aber du bist doch einer, und wir haben dich beide sehr, sehr lieb!« rief Fräulein Grey innig.

»Und wenn wir verheiratet sind, wirst du immer auf unserer Mauer sitzen und unsere Prinzessin sein!« fügte Georg hinzu.

»Du kannst doch nicht zwei Prinzessinnen haben,« erhob Daisy Einsprache.

»Wir sind dann doch König und Königin!« beruhigte er sie rasch.

»Nun gut, dann werde ich eure Prinzessin sein,« gab Daisy sich zufrieden. »Das heißt, so lange, bis ich meinen eigenen Prinzen bekomme. Aber jetzt wünsche ich mir noch gar keinen, weil ich doch mein Mütterchen habe, und sie braucht mich – wirklich – sie hat es mir selbst gesagt.«

Dann, – da sie einen Blick zwischen dem jungen Doktor und Fräulein Grey auffing, fügte sie in entschiedenem Tone hinzu: »Und nun könnt ihr mich verlassen und zu Mütterchen gehen, weil ich sehr müde bin. Lebt wohl, König und Königin, und seid immer glücklich!« Und dabei umarmte sie beide stürmisch. Dann legte sie sich in die Kissen zurück und schloß die Augen, während ein Lächeln der Befriedigung ihre Lippen umspielte.

 

Ende.

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