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Neuntes Kapitel.
Eine verunglückte Teegesellschaft

»Weißt du lieber Prinz, ich brauche nämlich Verkehr.«

Und das Teufelchen sah ernst auf den vor ihr stehenden jungen Mann herab.

»So? Weshalb denn?« erwiderte Herr Georg fragend, während er sich in aller Gemächlichkeit seine Zigarre ansteckte.

»Ja, ich bin ein zu eigentümliches Kind.«

Der ›Prinz‹ lachte, während die Kleine rasch in ihrer Rede fortfuhr:

»Es ist das Vierfüßer – o; nun, du weißt schon, wen ich meine – die das sagt. Sie ist nämlich ganz furchtbar entsetzt, daß sie so eine Nichte wie mich hat. Deshalb soll ich eine Gesellschaft geben – eine wirkliche, große Gesellschaft – ganz für mich allein. Und ich soll auch selbst alles anordnen, und da werde ich nun wohl schrecklich viel zu denken haben, und werde ich deshalb wohl nicht so viel mehr an dich denken können, lieber Prinz. Aber du mußt darüber nicht traurig sein, denn, siehst du, dich habe ich doch immer, und eine Gesellschaft habe ich noch nie gehabt. Und Mütterchen sagt, ich müßte mir große Mühe geben und viel nachdenken, damit die Gesellschaft sehr schön wird. Und das Vier – Tante Rosa, wollte ich sagen, wird auch dabei sein. Und natürlich, sobald die Gesellschaft vorüber ist, und alle fort sind, komme ich gleich zu dir und erzähle dir alles.«

»Na, dann ist ja alles gut!« erwiderte Georg, welcher dieser langen Rede seiner kleinen Nachbarin auf der Mauer ganz ernst zugehört hatte. »Und wann soll denn diese wundervolle Gesellschaft stattfinden und welche Überraschung hast du dir ausgedacht, um sie recht schön zu machen? Es ist vielleicht besser, daß du mir zuerst dein ›Denken‹ mitteilst.«

»Sie soll nächsten Dienstag sein. Aber zu denken werde ich erst jetzt anfangen.« Und ihr Gesichtchen nahm einen träumerischen Ausdruck an. »Nur sagt Mütterchen, es dürfte nicht so etwas Schreckhaftes sein, wie eine Auferstehung, weil sie das krank gemacht hat; es soll etwas Heiteres und Unterhaltendes werden.«

»Was meinst du zu einer Charade?« schlug der junge Mann vor.

»Was ist eine Gerade?«

»Charade,« verbesserte sie der Freund. »Das ist eine Art von lebenden Bildern – ein Spiel, was man aufführt und wobei man jemand anders darstellt, und dann müssen die Zuschauer erraten, was es sein soll.«

»Aber jemand anders spiele ich ja schon immer.«

»Freilich! Deshalb machte ich dir auch diesen Vorschlag.«

»Eine Prinzessin kann ich nicht sein, weil das ein Geheimnis ist, und ich auch nicht haben möchte, daß jemand davon weiß.« Eine kleine Pause. »Ich könnte aber vielleicht eine Fee sein. Was meinst Du?«

»Gewiß! Aber dann mußt du eine gute Fee sein und alle Menschen zu erfreuen suchen.«

»Ach ja! ach ja! Das wird entzückend sein!« Und die Kleine klatschte glückselig in die Händchen. »Ich werde mir ein schönes weißes Kleid anziehen, und einen goldenen Stab machen und damit wundervolle Überraschungen hervorzaubern. Adieu, lieber Prinz! Ich habe jetzt furchtbar viel zu denken!« Und ihrem Freunde freundlich zunickend, kletterte sie behende von der Mauer herunter.

Der Prinz wandte sich lächelnd um. »Das arme kleine Persönchen! Ich freue mich aber, daß die Ihrigen anfangen, Verständnis für sie zu haben – oder sich doch wenigstens bemühen, sie zu begreifen,« sprach er sinnend.

Auch die folgenden Tage umspielte häufig ein amüsiertes Lächeln seine Lippen, wenn er an seine kleine Freundin dachte; und er vermißte das seltsame Geschöpfchen und ihre noch seltsameren Bemerkungen wirklich sehr. Denn ihrem Worte getreu, sowie auch ihrer Gewohnheit, stets in die sie augenblicklich beschäftigende Sache ganz und gar vertieft zu sein, erschien Klein-Daisy weder am Tage auf der Mauer noch abends am Fenster des Kinderzimmers bis zum Nachmittag des ereignisreichen Dienstages.

In der Zeit, wo die Festlichkeit stattfinden sollte, ertappte sich der junge Doktor bei dem Wunsche, auch einer der eingeladenen Gäste zu sein. Wenigstens aber war er im Geiste bei der Gesellschaft und sann immer wieder und wieder darüber nach, was für eine Art Feenmärchen die Kleine wohl ersonnen hatte. Daß es etwas ganz Ungewöhnliches sein würde, war ihm zweifellos; er wünschte nur von ganzem Herzen, daß die Überraschung so gut ausfallen würde, wie die Kleine es erhoffte.

Und so war er ebenso erfreut als auch aufs höchste überrascht, als er plötzlich das Köpfchen der kleinen Daisy am Fenster des Kinderzimmers erblickte, offenbar nach ihm ausspähend.

»Guten Tag! Ist die Gesellschaft denn schon zu Ende?« rief er erstaunt. Denn es war erst sechs Uhr. »Aber mein Gott, was fehlt dir, Herzchen?« fügte er rasch teilnahmsvoll hinzu, als er bemerkte, daß das Gesichtchen dick verschwollen und voll Tränenspuren war.

»Sie ist nicht zu Ende; sie geht allein fort mit Eng'chen und den anderen kleinen Kinder. Und sie war gar nicht ein bißchen schön; sie war ganz unglücklich!«

»Was hast du denn wieder gemacht?« forschte der junge Doktor voll Teilnahme.

»Das werde ich dir unterwegs erzählen,« antwortete die Kleine.

»Unterwegs? Wann unterwegs?«

»Unterwegs, wenn wir fliehen. Ich werde mit dir fliehen.«

»Na nu? Steht es diesmal so schlimm? Wohin möchtest du denn fliehen? Vielleicht nach dem Monde?«

»Ja, wenn du willst,« stimmte die Kleine zu und schaute sehnsuchtsvoll nach dem Gestirn, das blaß und kalt am Firmament stand.

»Dann wirst du aber niemals deine Mutter wiedersehen, noch das Engelchen, auch nicht deinen Papa, noch sonst irgend einen Menschen.«

»Aber ich bin so sehr sehr unglücklich,« schluchzte Klein-Daisy. »Und ich soll morgen den ganzen Tag nur Wasser und Zwieback bekommen, und – und – ach! – ich bin so furchtbar hungrig, weil ich keinen Tee bekommen habe.« Und das Gesicht mit den Händchen bedeckend, weinte sie herzbrechend.

»Beruhige dich. Kleine! Weine doch nicht so sehr! Ich werde mal ein verkleideter Prinz sein und dir schnell ein paar Kuchen bringen.«

Sofort lösten sich die Händchen vom Gesicht und zwei große Augen sahen den Prinzen vorwurfsvoll an.

»Aber das geht doch nicht. Das würde ja ›betrügen‹ sein.«

»Nicht, wenn ich ein Prinz bin und du eine gefangene Prinzessin bist.«

Daisy schüttelte traurig das Köpfchen.

»Keine Prinzessin würde Kuchen essen, wenn ihr das Mütterchen gesagt, sie solle bestraft werden dadurch, daß sie nichts bekommt.«

Der junge Mann fühlte sich beschämt.

»Aber dann würde auch keine Prinzessin von ihrer Mutter fortlaufen wollen,« entgegnete er rasch.

»Ich will ja auch nicht von meinem lieben Mütterchen fortlaufen. Ich will ja nur von zwei grausamen Ungeheuern fliehen – das sind Onkel John und Tante Rose.«

»Du hast mir aber noch gar nicht erzählt, was denn eigentlich passiert ist. Womit hast du deine Gäste unterhalten? Hast du denn kein Feenmärchen aufgeführt?«

»Doch. Aber es hat ihnen nicht ein bißchen gefallen. Es liebt ja niemals irgend einer, was ich mir ausdenke. – Also, ich war eine gute Fee, und ich hatte auch mein schönstes weißes Kleid an; und Tante Rose hatte mir eine goldene Krone und einen goldenen Zauberstab gemacht – und sie wird mir nie mehr so etwas machen. Und Engchen war auch eine Fee, und er trug einen goldenen Korb mit all meinen Feengeschenken darin; und wir sangen ein kleines Lied, was Mütterchen uns gelehrt hatte, und Onkel John klatschte in die Hände und rief ›Bravo‹, und dann begann ich das Märchen zu spielen.«

Hier wurde die Kleine belebt und unter vielfachen Gesten sprudelte sie das Feenmärchen hervor, das sie mit so offenbar unglücklichem Erfolg dargestellt hatte.

»Ich sagte, ich wäre gekommen, um sie alle glücklich und gut zu machen: Mütterchen sollte Väterchen zurück haben, und ich reichte ihr aus Eng'chens goldenem Feenkorb Väterchens Photographie; und da fing sie zu weinen an. Und dann schenkte ich den kleinen Bellairschen Mädchen jedem ein Zehnpfennigstück, weil sie niemals Geld in den Kirchenkollekten für die Armen geben – und Onkel John hat das selbst erzählt –, so hätte er wirklich darüber nicht so böse sein brauchen. Und ihm schenkte ich ein Fläschchen mit Glyzerin, weißt du.«

»Wozu denn?«

»Um sein Gesicht damit einzureiben, um ihm seine häßlichen Runzeln fortzubringen.«

»Hast du ihm das auch gesagt?«

»Natürlich. Und er sagte nicht einmal ›danke‹ Was sagtest du, lieber Prinz?« fügte die Kleine eifrig auf einen erstickten Laut von Georg hinzu.

»O nichts!« beeilte sich der junge Mann zu versichern, der nur ein Lachen unterdrückt hatte.

»Und Hänschen Syke schenkte ich einen Kuchen, weil er immer so gierig ißt, damit er einmal genug hat. Und dann schenkte ich Tante Rose zwei gelbe Locken aus dem Haar von einem meiner Kinder, wie die sind, die sie sich immer ansteckt, und noch etwas rote Salbe für ihre Wangen, die sie so hübsch rot macht; Tante aber wurde furchtbar heftig; und Onkel John rief, er hätte nun genug von dem Feenmärchen, und ich wäre überhaupt keine gute Fee, sondern ein kleines boshaftes Geschöpf, und sollte sofort ins Bett gehen. Und Tante Rose sagte, ich wäre ein sehr ungezogenes Kind und niemand wird mich je lieb haben – nie, nie – und ich dürfte niemals wieder ihr Zimmer betreten.«

»Warum hast du aber auch solche Sachen geschenkt? Du mußt doch gewußt haben, daß sie niemand gefallen würden. Dachtest du zum Beispiel, dein Onkel würde sich darüber freuen, wenn du ihm sagst, er hätte häßliche Falten?«

»Daran habe ich gar nicht gedacht. Ich dachte immer nur, wie sehr hübsch es sein würde, wenn er das Glyzerin auf sein Gesicht reiben könnte und damit die häßliche Linie auf seiner Stirn fortbringen. Tante Rose reibt sich jeden Abend das Gesicht mit Glyzerin ein, um ihre Runzeln fortzubringen. Die Köchin hat mir das erzählt.«

»Die Köchin sollte dir nicht solche Dinge erzählen,« rief Georg heftig, ganz froh darüber, daß er an jemand seinen Ärger auslassen konnte. »Und du solltest auch nicht in die Zimmer der Gäste gehen und ihre Sachen besehen.«

Dann brach er ab und sah gedankenvoll zu dem kleinen Mädchen hinauf. Und er kam zu der Erkenntnis, daß es gänzlich nutzlos sei, ihr noch weitere Vorstellungen zu machen. Von ihrem Gesichtspunkt aus betrachtet, war ja auch alles ganz verzeihlich. Leider aber eignete sich ihre Auffassung nicht für das Leben – tat es nie.

So hub er denn wieder an:

»Also hast du mit deinen Überraschungen gar nicht den Erfolg gehabt, den du hofftest?«

»Nein,« gab die Kleine sehr traurig zu. »Mütterchen sagte sogar, es wäre alles ganz furchtbar unglücklich ausgefallen, und sie weiß nicht mehr, was sie mit mir anfangen soll. Und Tante Rose behauptet dasselbe; und sie bedauert Mütterchen, weil sie ein so schreckliches Kind wie mich hat. Bedauerst du auch Mütterchen?« fragte sie ernst.

Der junge Doktor räusperte sich. Denn eben war auch ihm dieser Gedanke gekommen, so sehr er seine kleine Freundin liebte. Aber um nichts in der Welt hätte er ihr das zugestanden.

»Ich wünschte nur, du wärest mein kleines Töchterchen,« erwiderte er.

»Aber das würde doch nicht angehen – weil ich doch deine Prinzessin bin und dich heiraten will, wenn ich ganz alt bin – hast du denn das vergessen?«

»Gewiß nicht!« versicherte er die Kleine rasch. »Wie werde ich denn das vergessen! Aber nun, liebe Prinzessin, verrate mir einmal, welches dein Lieblingskuchen ist.«

Dies war eine höchst unglückselige Frage.

»Es ist Chokoladentorte und die werden sie gerade jetzt unten essen,« schluchzte sie. »Und ich glaube sicher, daß Eng'chen zwei Stück bekommen wird, weil Mütterchen sagt, Chokoladentorte ist nicht schwer.«

»Sei nicht traurig, Kleine! Ich werde auch eine Gesellschaft geben, und eine ganz wunderschöne Torte besorgen, mit Vanillenkreme, und oben mit Chokolade, Zuckerguß und süßen Früchten. Und es wird auch ein Glückspfennig drin sein. Und du sollst sie zuerst anschneiden.«

»O, danke, danke!« Das kleine Gesichtchen strahlte schon wieder voller Glück. »Und werden auch Zuckernüßchen darauf sein? Und wann ist denn deine Gesellschaft?«

»Morgen,« entgegnete er rasch. »Und es werden viele Zuckernüßchen darauf sein.«

»Aber« – und die Mundwinkel senken sich – »morgen darf ich ja nichts essen.«

»Ach, freilich! Nun, dann übermorgen.«

»Ist es denn ganz bestimmt?« fragte sie zweifelnd.

»Ganz bestimmt. Und es wird der schönste Kuchen werden, den du je gegessen hast.«

Daisy stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Das wird noch schöner sein als Chokoladenkreme,« tröstete sie sich. »Aber ich denke, ich werde jetzt in mein Bettchen gehen, weil ich so müde bin und mein Kopf mir so sehr weh tut; und ich wünsche, ich möchte niemals wieder eine Gesellschaft haben, weil jeder mit mir böse ist, und weil niemand sich über meine Geschenke gefreut hat – nicht einmal Mütterchen.«

»Was würdest du denn mir geschenkt haben, wenn ich bei der Gesellschaft gewesen wäre?« fragte Georg Evans, um sie abzulenken.

»Dir würde ich gar nichts geschenkt haben,« entgegnete die Kleine schnell.

»Nichts? Warum denn nicht?«

»Weil ich weiß, was du dir wünschest, und weil ich nicht haben möchte, daß du das bekommst.«

»Was meinst du damit?« forschte der junge Mann ganz verdutzt.

»Du weißt doch – jene andere Prinzessin, die du vor mir gern hattest.«

Georg schwieg eine Minute. Das Kind ging über seinen Horizont.

»Gute Nacht, Kleine,« sagte er und entfernte sich langsam.

Seinem Wort getreu bestand der junge Doktor darauf, daß seine Mutter einen ausgesucht schönen Kuchen für seine Gesellschaft besorgte, die nur aus ihm und der kleinen Daisy bestand, und die sich auf der Mauer abspielte. Seine Mutter lächelte nachsichtig zu dieser Torheit, obgleich sie unter diesen Umständen die Leckerei ganz unverdient fand. Denn auch sie hegte gleich dem Domherrn, den Verdacht, daß in Daisys Gaben absichtliche Bosheit gelegen hätte.

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