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Erstes Kapitel.
Zwei kleine unredliche Arbeiter

In dem alten Kirchenviertel standen zwei Häuser dicht nebeneinander. Trotzdem waren sie ganz verschiedenartig: Das eine war ein ohne jeden Stil aufgeführtes, altmodisches Gebäude, von unansehnlichem Äußeren, das von der Frontseite durch nichts verriet, welche großen und behaglichen Räume es, in bedeutender Anzahl, in seinem Innern barg. Das andere war ein funkelnagelneues, kasernenartiges Wohnhaus aus roten Ziegelsteinen, das mit zwei Stockwerken seinen Nachbar überragte.

An der Rückseite dieser beiden Häuser erstreckten sich zwei große Gärten, die durch eine hohe Mauer getrennt waren und die in ihrem Äußeren ebenso voneinander abwichen wie die Gebäude selbst: das alte Haus hatte einen Garten nach alter Mode, mit hohen, bejahrten Obstbäumen, buschigen Rosenstöcken, Staudengewächsen und schmalen, von Buchsbaum eingefaßten Beeten, die mit einfachen Blumen oder mit Stachel-, Himbeer- und Johannisbeersträuchern angefüllt waren. Der andere Garten, ebenso neu wie das rote Gebäude, zu dem er gehörte, hatte helle, in die Augen fallende, tadellos gepflegte Kieswege und prächtige, mit Steinen umsäumte Teppichbeete, in denen die fremdartigsten und wertvollsten Abarten der beliebtesten Modepflanzen zu finden waren, geordnet in geraden Linien und regelrechten Figuren, als ob sie mit dem Zollstock abgemessen wären.

Man hatte auf den ersten Blick das Gefühl, als ob die Bewohner dieser beiden Gebäude in ebenso krassem Widerspruch zueinander stehen müßten, wie ihre Besitzungen es taten. Und dem war auch so.

Das alte Dekanat – so wurde das altmodische Haus benannt – stand schon seit länger als einem Jahrhundert, und hatte früher an ein gleichartiges Gebäude gegrenzt, welches ebenfalls stets von einer kirchlichen Persönlichkeit bewohnt wurde. Es war aber schon lange sehr baufällig gewesen, und nach dem Tode des letzten Inhabers, als es dem Zusammenbruch nahe war, hatte es der sparsame Kirchenrat an einen Emporkömmling, Namens Evans, verkauft, zum großen Ärger seines Nachbarn, des Domherrn Sinclair.

Nun mußte das alte Gebäude alsbald einem prunkhaften Neubau weichen, der nach seiner Vollendung den stolzen Namen »das Akazienhaus« erhielt.


An einem schönen Sommertage lustwandelte in dem zum Akazienhaus gehörigen, so wohl gepflegten Garten ein junger Mann.

Während er so langsam herumschlenderte, in Gedanken versunken, die anscheinend nicht sehr heiterer Natur waren – denn ein Stirnrunzeln verfinsterte das sonst so angenehme Gesicht – vernahm er Kinderstimmen aus dem Nachbargarten. Er achtete ihrer jedoch nicht weiter, bis er in einen Pfad einbog, der sich ganz in der Nähe der Grenzmauer erstreckte. Hier wurde er aus seinem tiefen Sinnen aufgeschreckt, weil er in kurzen Zwischenräumen etwas, gleich kleinen Kieselsteinen, zur Erde fallen hörte. Aufblickend sah er die vermeintlichen Kieselsteine über die Mauer fliegen. Offenbar wurden sie von den Besitzern der Kinderstimmen hinübergeworfen.

»Es scheint irgend ein Unfug von den beiden Kindern zu sein, die zum Besuch des Domherrn Sinclair hergekommen sind!« dachte der junge Mann bei sich. »Aber was in aller Welt mögen sie nur treiben?«

Er wurde nicht lange im Zweifel darüber gelassen.

»Neunundachtzig!« – Eine kleine Pause. – »Neunzig. O, da sind drei große, ganz furchtbar große! – Einundneunzig, zweiundneunzig, dreiundneunzig!«

»Dreiundneunzig!« welche wieder als »eine große, ganz furchtbar große« benannt wurde, traf die Nasenspitze des jungen Mannes und stellte sich bei näherer Besichtigung als eine Schnecke heraus.

In stummem Erstaunen hielt der Getroffene in seiner Wanderung inne; und in diesem Augenblick lispelte eine noch kindlichere und durchdringendere Stimme:

»Seß und neunßig, sieben und neunßig!« Worauf noch zwei weitere Schnecken anlangten. Diesesmal fielen sie jedoch glücklicherweise nur an der Mauer herab, und von da auf ein Erdbeerbeet, welches sich an dieser Seite des Gartens entlang zog.

Noch einen Augenblick verfolgte der junge Mann das Treiben der Kinder, dann schaute er prüfend auf die Erde. Welch ein Anblick! Überall, wohin das Auge sah, lagen Schnecken! Große Schnecken, kleine Schnecken, schwarze Schnecken, Schnecken mit zertrümmerten Häusern, und wieder Schnecken, deren Häuser diese schnelle Art des Transportes glücklich überstanden hatten.

Nun war aber der Garten die ganz besondere Liebhaberei seiner Mutter, und das Erdbeerbeet, eine auserlesene, kostbare Art, ihr ganz spezieller Stolz. Daher fühlte der Sohn einen heftigen Zorn in sich aufsteigen, als er seinen sauberen Garten auf solch leichtfertige Weise einer so abscheulichen Plage preisgegeben sah.

Einem schnellen Impulse folgend, raffte er einige der ihn ärgernden Tiere auf und schleuderte sie in ihre rechtmäßige Heimat zurück, dabei mit lauter Stimme rufend:

»Siebenundneunzig, achtundneunzig, neunundneunzig, hundert!«

Dann hielt er einen Moment inne, um die Wirkung seiner Tat zu beobachten. Auch jenseits der Mauer entstand eine kleine Pause. Offenbar war der Feind von dieser unerwarteten Wendung der Dinge überrascht.

Dann wurde das Schweigen durch eine Kinderstimme unterbrochen, die tief enttäuscht und betrübt ausrief:

»O, da ist ein gräßlicher Mensch nebenan, und wirft alle unsere gräßlichen Schnecken zurück!«

Der junge Mann hatte sofort das Gefühl, als ob er ein Ungeheuer wäre. Zwar war er im Recht, und die andere Seite der Angreifer. Aber die kindliche Stimme klang wie von Tränen erstickt. So beschloß er, die weitere Entwicklung der Dinge abzuwarten.

Seine Geduld wurde nicht allzulange auf die Probe gestellt.

Zuerst entstand eine flüsternde Beratung; dann umhertrippelnde Füße und ein Geräusch wie das Heranschleppen eines Gegenstandes, das Ansetzen einer Leiter, kletterndes Tappsen und endlich erschien das wunderlichste Köpfchen eines kleinen Mädchens über der Mauer.

Solch ein winziges Gesichtchen, mit schwarzen Augen, umrahmt von einem Gewirr schwarzer Locken und der blassen, zarten Farbe eines anglo-indischen Kindes!

Nur einen Augenblick guckte das kleine Geschöpfchen hinüber. Dann wandte es sich wieder zurück und half seinem Brüderchen, dessen Kopf nun ebenfalls über der Mauer erschien.

Der junge Mann stand wie erstarrt. Wenn – wie er später zu seiner Mutter bemerkte – er an die Erscheinung von Engeln geglaubt hätte, so würde er dieses kleinere Kind sicher für ein solch überirdisches Wesen gehalten haben. Denn der kleine Knabe, der ihn mit großen, blauen Augen anstaunte, entsprach so ganz der Vorstellung, die man sich im allgemeinen von den Bewohnern des Himmels macht. Goldblondes Haar umhüllte ein ovales, pausbäckiges Gesichtchen wie mit einem Heiligenschein, der kühn geschwungene Mund glich dem Bogen Amors, während zwischen den getrennten Lippen blendend weiße Zähne hervorblitzten. Das süße Geschöpfchen hatte ebenfalls eine bleiche Gesichtsfarbe; aber während die seiner Schwester blaßgelb war, schimmerte seine Haut klar und durchsichtig wie Alabaster.

Aber es waren nicht alle diese Einzelheiten, welche einen so tiefen Eindruck auf den jungen Mann machten, sondern der holde, unschuldsvolle Ausdruck in dem Engelsangesicht.

Das kleine Mädchen eröffnete zuerst das Gespräch.

»Weshalb hast du unsere abscheulichen Schnecken zurückgeworfen?« fragte sie in herrischem Tone.

Der junge Mann wandte widerstrebend seinen Blick von dem kleinen Knaben zu der Fragerin und sagte ruhig zurück:

»Und weshalb hast du deine abscheulichen Schnecken in unseren Garten geworfen?«

»Weil Mütterchen es uns gesagt hat, damit wir uns Geld verdienen,« erwiderte das kleine Mädchen schnell, ohne Besinnen.

»Deine Mutter hat dir gesagt, du sollst Schnecken in unseren Garten werfen und will dir dafür Geld geben?« rief der junge Mann aufs höchste erstaunt. Er hatte zwar Frau Sinclair nur einmal und auch nur ganz flüchtig gesehen; aber wie es den meisten Menschen erging, so war auch ihm die sanfte Lieblichkeit ihres holdseligen Gesichtes dabei aufgefallen. Er glaubte annehmen zu können, daß sie die allerletzte sein würde, die den Wunsch hegte, ihre Nachbarn zu ärgern, noch dazu auf solch eine beleidigende Weise. Doch die Aussage des kleinen Mädchens trug den Stempel der Echtheit. Sie sprach im Tone der Überzeugung und mit der Miene der Wahrheit, und der junge Mann beschloß, die Angelegenheit zu ergründen, wenn auch nur, um für die Zukunft derartige Streiche zu verhindern. Daher fuhr er fort:

»Nun, bitte, sage mir doch, was wir denn getan haben, um euch zu veranlassen, eine solche Plage auf uns herabzusenden?«

»Nun, daß wir unsere Schnecken über die Mauer in euren Garten werfen sollten, das gerade hat Mütterchen nicht gesagt,« erklärte das kleine Mädchen. »Sie sagte nur,« fügte sie wahrheitsliebend hinzu, »daß wir sie in unsern kleinen Schubkarren sammeln sollen und sie Johann – das ist nämlich unser Gärtner – bringen. Aber sie über die Mauer zu werfen, das ging viel schneller.«

»Ssa, dies ding so viel ßneller!« lispelte der kleine Amor und sah dabei den jungen Mann strahlend an.

Dieser hätte herzlich gern laut aufgelacht; aber in dem Gedanken an seiner Mutter »Ananas-Erdbeeren« verhärtete er sein Herz gegen die kleinen Sünder und sagte streng: »So, das ging so viel schneller! Aber schaut mal her, was soll denn nun aus unseren schönen Erdbeerbeeten werden? Die gräßlichen Biester« – er sah mit einem Blick des Abscheues auf die Schnecken zu seinen Füßen – »werden all die herrlichen Früchte auffressen.«

»Ach! Daran haben wir nicht gedacht! Das tut mir furchtbar leid!« rief das kleine Mädchen betrübt. »Wir wollten nur so sehr gerne schnell Geld verdienen.«

»Das ist eine allgemein verbreitete Schwäche!« bemerkte der junge Mann sarkastisch. »Ihr seid nicht die einzigen Wesen auf dieser Welt, die schnell reich werden wollen. Aber weshalb wünschet ihr denn so schnell Geld zu verdienen?«

»Weil morgen Mütterchens Geburtstag ist, und wir ihr so gerne eine schöne rote Geranie kaufen wollten; und wir haben jetzt gerade bloß noch fünfzig Pfennige, weil Onkel John uns unser anderes Geld wegnahm, weil er ein Stückchen Glas neu kaufen will, was wir zerbrochen haben; und Lise sagt, für fünfzig Pfennige bekommen wir noch keine Geranie, die ein bißchen hübsch ist; und deshalb nahmen wir die Schnecken von Onkel Johns Johannisbeersträuchern und Mütterchen wollte uns für hundert Stück immer zehn Pfennige schenken. Und – ach! – wir hatten beinahe schon hundert!« schloß sie weinerlich.

Dem jungen Mann kam eine rettende Idee.

»Paßt einmal auf!« sprach er freundlich. »Wenn ihr hier herüber kommen und all diese – h'm – diese Schnecken aufheben wollt, werde ich euch eine wunderschöne rote Geranie aus dem Treibhaus meiner Mutter schenken. Ihr könnt sie euch sogar selbst aussuchen!«

»O, danke, danke!« rief das kleine Mädchen glückselig. »Natürlich werden wir kommen. Wir werden sofort kommen! Nicht wahr, Eng'chen?«

»Sa!« stimmte das Echo zu, »wir werden tommen.«

»Wie ist dein Name, mein Bübchen?« fragte der junge Mann den kleinen Knaben, während er ganz dicht an die Mauer herantrat, um seinen winzigen Gast hinüberzuheben.

»Gelchen!« antwortete der Kleine mit einem herzgewinnenden Lächeln.

»Engelchen soll das heißen,« verdolmetschte die Kleine.

»Wahrhaftig! Diesesmal paßt der Name gut«, rief der junge Mann, und er setzte den kleinen Burschen rasch in seinen Garten nieder, um dann die Arme nach dem kleinen Mädchen auszustrecken.

»Nein, danke!« sprach sie sehr höflich, aber auch sehr bestimmt. »Ich werde allein hinuntersteigen.«

»Du kannst doch nicht acht Fuß hinunterspringen, Kleine,« erhob er Einspruch.

»Nun, dann gib mir deine Hand zur Hilfe, bitte!« Und sich auf des jungen Mannes Schultern stützend, sprang sie behende hinab.

»Jetzt aber ans Geschäft!« rief der junge Mann munter.

Dann ließ er sich auf einer Schubkarre nieder, um das kleine Pärchen bei seiner Arbeit zu beobachten.

»Wie viele Schnecken hattet ihr doch schon herübergeworfen?« fragte er.

»Nur sechsundneunzig«, erwiderte die Kleine. »Und da brauchen wir doch nur noch zweiundneunzig aufzuheben weil du doch vier zurückgeworfen hast.«

»Nur zweiundneunzig!« murmelte der junge Mann entsetzt für sich.

»Wie viel macht zweiundneunzig zwischen uns beiden?«

»Sechsundvierzig,« erklärte er.

»Nun, das wird nicht lange dauern,« tröstete sich die Kleine glücklich, »besonders, wenn du sie in deinen Schoß für uns nimmst.«

»Um Gotteswillen, nein!« wehrte er entsetzt ab. »Macht nur einen großen Haufen von ihnen hier auf dem Wege. Ich werde den dann nachher mit der Karre wegfahren.«

Die Arbeit ging schnell und fröhlich von statten, bis sechzig Stück gesammelt waren. Von da ab mußten die Kleinen viel suchen, wobei ihnen der gutmütige junge Mann Hülfe leistete. Endlich waren neunzig Stück aufgehäuft – ob dies nun alle Eindringlinge waren, konnte niemand sagen. Jedenfalls waren beim besten Willen keine mehr zu finden, und der junge Mann rief munter:

»Das war prächtig! Ihr habt eure Arbeit gut gemacht! Nun wollen wir auch gleich nach dem Treibhaus gehen und eine schöne Geranie aussuchen.«

Das kleine Mädchen trat plötzlich einige Schritte zurück.

»Noch einen Augenblick, bitte,« sprach sie höflich. »Sage mir doch erst, wie du heißt. Ich muß doch wissen, wer du bist.«

»Ich heiße Georg Evans, M. R. C. S. Member of the Royal College of the Surgeons, (d. h. Mitglied der Königlichen Akademie der Ärzte)., Dein ergebenster Diener!« erwiderte er feierlich, und lüftete dabei den Hut.

Das kleine Mädchen machte ihm als Erwiderung einen tiefen Knix und entgegnete:

»Ich freue mich sehr, deine Bekanntschaft gemacht zu haben, Herr Georg Evans Marcy.« Das Kind faßte alles auf und wandte es auch an, wobei dann gelegentlich recht komische Irrtümer zum Vorschein kamen.

»Da der Etikette nun Genüge getan ist, können wir uns wohl auf den Weg machen,« bemerkte Herr Georg Evans munter. Und er führte die beiden Kleinen in das größte Treibhaus des Gartens.

Hätte er gewußt, welche Folgen sein freigebiges Anerbieten nach sich ziehen würde, so hätte er es wahrscheinlich nicht gemacht.

Die Kinder, die sich vertrauensvoll an seine Hände klammerten, stießen Rufe des höchsten Entzückens aus, als sie die vielen schönen Blumen sahen.

Plötzlich fiel der Blick des kleinen Mädchens auf eine herrliche scharlachrote Geranie, die in einem großen Topf auf einem der Eingangstür gegenüber befindlichen Sims stand.

»O, da ist die Blume, die ich so gerne haben möchte!« rief sie selig. »Gerade solch eine würde unserm Mütterchen gefallen!«

Die Augen des jungen Mannes folgten schnell dem Finger des kleinen Mädchens und er machte ein bedenkliches Gesicht. Er hatte diese Pflanze noch niemals gesehen, sie war also zweifelsohne eine neue Errungenschaft. Außerdem stand sie noch auf einem Ehrenplatz, woraus zu schließen war, daß sie einen besonderen Wert repräsentierte. Aber Georg war ein Mann von Wort; und überdies würde es ihm um nichts in der Welt möglich gewesen sein, das Entzücken des kleinen Mädchens zu zerstören. So sagte er: »Gut! Du sollst sie haben. Aber heute brauchst du sie ja noch nicht, nicht wahr? Nein? Nun, dann werde ich sie abends über die Mauer setzen, damit du sie morgen früh als erstes Geschenk deiner Mutter überreichen kannst.«

»Ach, wird Mütterchen überrascht sein, und wird sie sich freuen!« rief das kleine Mädchen strahlend.

»Sicher!« stimmte Georg Evans freundlich zu.

Er war selber ganz glücklich über diese Anordnung, weil er glaubte, etwaige Schwierigkeiten dadurch überwunden zu haben. Die Geranie würde sicher bis Mittag nicht vermißt werden, und bis zu dieser Zeit konnte er seiner Mutter ein anderes Exemplar, welches ebenso schön war – wenn nicht noch schöner – nebst einigen erklärenden Worten senden.

Aber der Mensch denkt, und Gott lenkt.

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