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Zwölftes Kapitel.
Die Verbannung der »Prinzessin«

Klein-Daisy mußte, wie schon erwähnt, lange das Bett hüten. Aber nicht ein Tag verging, ohne daß Blumen oder Früchte für die kleine Kranke von dem jungen Nachbarssohn geschickt wurden.

Während dieser Zeit kam die göttliche Vorsehung den Wünschen des Domherrn und der Tante zu Hilfe und erleichterte ihnen die schwierige Frage hinsichtlich des künftigen Aufenthaltes der kleinen Daisy.

Sie bestand in einem Schulprospekt, an und für sich von geringer Bedeutung, der auch im allgemeinen wenig Beachtung fand. Aber der Zufall bewirkte es, daß er gerade jetzt und noch dazu von zwei Damen aus des Domherrn Kirchspiel herausgegeben wurde – den nämlichen, die kürzlich als Gäste im Dekanat geweilt hatten, und von der kleinen Daisy so harmlos als »überflüssig« betitelt wurden.

Dieser Prospekt verkündete ein ganz neues Unternehmen, das persönlich von den beiden Damen geleitet werden sollte.

»Konstanze,« rief der Domherr in salbungsvollem Tone seiner Nichte zu, »dies ist eine Fügung der göttlichen Vorsehung!« Damit reichte er ihr den Prospekt.

Während sie ihn durchlas, fuhr er fort:

»Es wird ein gutes Werk sein, Daisy dahin zu schicken. Denn bis jetzt haben die Damen noch keine Schülerinnen. Und mir wird eine große Sorge von der Seele genommen. Denn die Fräulein Bryants kennen das Kind, und werden schon die Augen offen halten. Ich glaube, ich hätte es doch nicht vor meinem Gewissen verantworten können, sie zu gänzlich Fremden zu schicken. Und denke nur, wie gesund es für das Kind sein wird! So nahe der See!«

Frau Sinclair kannte die Fräulein Bryants nur ganz oberflächlich, wußte wenig mehr von ihnen, als daß sie zwei unverheiratete Damen mittleren Alters waren; ihr widerstrebte es daher, ihnen ihr kleines Töchterchen anzuvertrauen.

»Wirklich, Onkel John, du bist wieder zu hart mit Daisy,« wagte sie noch einmal einzuwenden. »Sie ist doch in letzter Zeit ganz artig gewesen.«

»Weil es ihr unmöglich war, irgend eine Unart zu begehen,« bemerkte Tante Rose, die eine ausgesprochene Abneigung gegen ihre kleine Nichte hatte, spitz. »Ich würde jede Wette eingehen, daß sie wieder, sobald sie nur fünf Minuten auf ist, einen neuen dummen Streich ausübt. Wer weiß aber, ob die Damen sie überhaupt annehmen! Ich würde es wohl nicht, und wenn man mir das doppelte Honorar anböte.«

Aber zum Glück, oder vielmehr zum Unglück für Daisy, waren die Fräulein Bryants nicht so ängstlich und erklärten sich sofort zur Aufnahme bereit.

Der Domherr fand es richtig, Daisy diesen Beschluß selbst mitzuteilen, und ihr dabei noch einmal all ihre Unarten recht eindringlich vorzuhalten.

»Du siehst nun die Folgen deines malitiösen Betragens,« begann er.

»Was ist malitiöses Betragen?« fragte Daisy, indem sie den Großonkel mit weit geöffneten Augen ansah.

»Malitiöses Betragen ist, wenn man böse Dinge tut, um andere Menschen zu ärgern, wie das Abschneiden meiner schönen Rosenstöcke; und wenn man Bonbons aus dem Fenster eines Ladens nimmt – was ›stehlen‹ heißt – und wenn man seinen kleinen Bruder in Gefahr bringt.«

Hier hielt der Domherr einen Moment inne, in der Erwartung einer Verteidigung seitens der Kleinen. Aber es erfolgte keine. Schweigend stand sie vor ihm. Solch ein winziges Figürchen mit einem Gesichtchen, in dem seit ihrem Unfall fast nur noch die Augen zu sehen waren, und dazu den einen Arm noch in der Binde! Und sie schaute den Domherrn in einer Weise an, die ihn sehr verlegen machte, obgleich er wohl lieber gestorben wäre, als dies zuzugestehen.

Während er ihre Freveltaten aufreihte, wurde er sehr heftig. Aber noch immer stand die kleine Schuldige und schaute ihn mit ihren großen Augen schweigend an.

»Begreife nur den Unterschied zwischen dir und deinem kleinen Bruder! Jedermann hat ihn lieb, und freut sich, ihn hier zu haben, und wir würden ihn um keinen Preis in eine Pension schicken. Aber dich hat niemand lieb, und niemand will dich haben; und jeder wird froh sein, wenn du fort bist, weil du ein solch unartiges kleines Mädchen bist, die allen nur Sorgen bereitet, und alle so unglücklich macht, daß sie dich nicht mehr ertragen können.«

»Dann bin ich also wohl dein Kreuz?« fragte nun die kleine Daisy, die mit größter Aufmerksamkeit den Worten des Onkels gefolgt war.

»Ja, das bist du in der Tat!«

»Dann hat der liebe Gott mich dir geschickt. Und du willst dein Kreuz fortschicken?«

Der Domherr blickte Daisy ärgerlich an. Denn er sah zu seinem Schrecken, daß er in eine Falle geraten war, die er sich selbst gelegt hatte. Es war nämlich seine Angewohnheit, die Predigt für den kommenden Sonntag vorher zu Hause vorzutragen, so zu sagen als eine Probe vor seiner Familie, mit besonderen Beziehungen auf dieselbe. Und es war noch nicht lange her, als er ihnen auseinandergesetzt hatte, daß Gott uns ab und zu Prüfungen schicke, um damit seiner Nichte Rose, die gerade einen schweren Geldverlust erlitten hatte, scharf einzuprägen, daß dies ein von Gott geschicktes Kreuz wäre und geduldig getragen werden müsse. Er erinnerte sich dieser Predigt nur zu gut, auch, daß er gesagt, es wäre eine große Sünde, wenn man sich gegen ein von Gott auferlegtes Kreuz auflehne.

Daisys Frage setzte ihn daher in große Verlegenheit. Ganz ratlos blickte er auf das kleine Mädchen.

Endlich antwortete er: »Das ist etwas ganz anderes.«

»Ach so! Du sagst nur, was die anderen Menschen tun sollen! Du selber brauchst es nicht zu tun!« folgerte die Kleine.

»Wir reden hier nicht von meinen Handlungen, sondern von deinem Betragen,« entgegnete der Domherr heftig, »und ich erkläre dir nur, warum wir gezwungen sind, dich in Pension zu geben, wo du dich hoffentlich bemühen wirst, ein gutes Mädchen zu werden.«

Mit diesen Worten entließ er seine Großnichte.

Diese eilte sofort in den Garten und dann auf die Mauer – was mit einem Arm in der Binde und der Puppe in dem anderen – keine leichte Sache war – aber dem »Prinzen« mußte sie diese Neuigkeit so schnell wie möglich mitteilen.

»Dann wirst du eine verbannte Prinzessin sein,« antwortete Georg mit erkünstelter Heiterkeit auf ihren Bericht. »Und ich werde dich dann besuchen.«

»Ich bin keine Prinzessin,« entgegnete die Kleine traurig. »Ich bin ein Kreuz, und deshalb werde ich verbannt; Onkel John will nämlich nicht sein Kreuz tragen, wie er predigt, daß es andere Menschen tun sollen.«

»Auf jeden Fall bist und bleibst du meine Prinzessin. Und ich werde dir öfter, wenn du fern bist, einen Korb mit schönen Früchten und Näschereien schicken. So etwas bekommen immer die kleinen Mädchen, wenn sie in Pension sind.«

»Aber ich werde ja niemand haben, dem ich davon abgeben kann!« klang es betrübt zurück.

»Nanu? Es werden doch noch andere kleine Mädchen dort sein, mit denen du auch spielen kannst,« tröstete er sie.

Sie schüttelte schwermütig das Köpfchen.

»Es ist gefährlich,« sprach sie in bestimmtem Tone, als ob sie eine höchst natürliche Tatsache erzählte. »Es ist gefährlich für andere kleine Mädchen, mit mir zu spielen, weil ich ihnen Schaden zufügen könnte.«

»Welcher Unsinn!« rief Georg empört; fügte aber, sich besinnend, schnell hinzu: »Du meinst wohl, daß du sie zu dummen Streichen verleiten könntest? Aber damit wirst du ja jetzt aufhören. Du wirst nun eine fleißige Schülerin werden und sehr viel lernen, damit du eine kluge junge Dame wirst.« –

»Aber du magst ja kluge junge Damen nicht leiden,« erhob Daisy Einsprache. Sie erfreute sich eines vorzüglichen Gedächtnisses und wandte die Bemerkungen anderer dann bei Gelegenheit an, wo es den Betreffenden oft recht unbequem war.

»Darüber sei nur unbesorgt. Dich werde ich schon immer lieb behalten. Und jetzt mußt du lesen lernen und was andere Menschen denken, und aufhören, selbst zu denken.«

»Hören denn die Menschen auf, zu denken, wenn sie in die Schule gehen?« erkundigte sich Daisy harmlos.

»Natürlich meine ich nicht,« entgegnete Georg etwas verlegen, »das gewöhnliche Denken. Ich meine deine Art, dir etwas auszudenken!«

»Es sind die ›überflüssigen Frauen‹, zu denen ich kommen soll,« erzählte das Kind nach einer kleinen Pause weiter.

»Um Gottes willen, nenne sie nicht mit dem Namen! Versprich mir, daß du das nie tun wirst!« rief Georg, ganz entsetzt über diese Bezeichnung für Daisys künftige Lehrerinnen. »Außerdem sind sie auch gar nicht überflüssig. Niemand ist es, der irgendwie nützlich ist in der Welt.«

»Dann bin ich also überflüssig, weil mich niemand braucht, wie Onkel John sagt.«

»Dein Onkel hat nicht an mich gedacht,« rief Georg sehr energisch. »Ich brauche eine kleine Prinzessin.«

Doch Daisys Gesichtchen erheiterte sich nicht wie sonst immer. Sie schien plötzlich älter geworden zu sein.

»So recht eigentlich brauchst du mich auch nicht,« sprach sie schwermütig, mit einer Weisheit, die weit über ihre Jahre hinausging. »Aber du bist sehr gut; und ich werde auch niemals mehr jemand ›eine überflüssige Frau‹ nennen, oder so etwas ähnliches. Aber es ist doch sehr traurig, daß nicht jeder gut und glücklich sein kann, der es gerne möchte.«

»Wirst du alle deine Kinder mitnehmen?« fragte Georg, um sie zu zerstreuen.

»Natürlich!« erwiderte Daisy. »Ich könnte sie doch gar nicht hier lassen, damit sie verhungerten wie Eng'chens Schildkröte.«

»Ich glaube, die Seeluft wird Angelina gut tun. Sie sieht recht bleich aus,« bemerkte er und warf einen Blick auf die Puppe in Daisys Arm, eine wächserne Schönheit, deren Blässe die Folge von den täglichen Waschungen ihrer Mutter war.

Daisy sah die Puppe mit gleichgültigen Augen an. »Es ist ja Seraphia,« erklärte sie. »Aber diese Luft würde ihr auch schon gut bekommen sein, wenn Tante Rose mir nur ein wenig von ihrer Wangensalbe gegeben hätte. Aber sie tat es nicht.«

Georg machte noch mehrere Versuche, das kleine Wesen aus seiner Schwermut zu reißen. Aber vergeblich. Das Messer war zu tief gegangen, und er war außerstande, die Wunde zu heilen. Niemand brauchte sie; man hatte es ihr schon so oft gesagt; ihr dann aber schließlich doch immer vergeben. Nun aber schien es, daß keiner mehr Geduld mit ihr hatte, denn man schickte sie fort, und ein Gewicht ruhte auf dem kleinen Herzen, das alle Bemühungen ihres liebevollen gütigen Freundes nicht heben konnten. In dieser apathischen, anscheinend gleichgültigen Stimmung blieb die arme Kleine bis zum Tage ihrer Abreise. Und auch nicht einmal im Moment des Abschieds kam ihre tiefe Trauer zum Durchbruch. Sie wurde daher von ihrer ganzen Umgebung für ein verstocktes, gefühlloses Geschöpf gehalten. Nur der junge Herr Evans hatte das richtige Verständnis für sie.

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