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Elftes Kapitel.
Des Domherrn Machtwort

»Nein, Konstanze, es nützt nichts, daß du dich bemühst, das Kind mir gegenüber zu entschuldigen,« sprach der Domherr bestimmt, während er mit seiner Nichte im Garten umherpromenierte. Er war zur Zeit des Unfalls nicht zu Hause gewesen, und nun aufs höchste erregt, als er, eben erst zurückgekehrt, durch Frau Sinclair davon in Kenntnis gesetzt wurde. »Daisy ist«, fuhr er strenge fort, »geradezu gefährlich als Spielgefährtin für ihren kleinen Bruder, und ich bestehe darauf, daß sie fortkommt. In Abwesenheit meines Neffen, als Ratgeber und Vormund für dich und die Kinder ist es meine Pflicht, dich gegen deine eigene Schwäche zu schützen.«

»Aber das Kind beabsichtigte doch gar nicht, etwas Schlimmes zu tun. Sie wollte doch nur gerne wie ein Vögelchen fliegen!«

Der Domherr stieß ein ungeduldiges »Pah!« aus, während Frau Sinclair fortfuhr:

»Es war eigentlich meine Schuld. Ich hatte den Kindern in einer illustrierten Zeitschrift das Bild einer Flugmaschine, die eben erfunden ist, gezeigt und Daisys lebhafte Phantasie wurde dadurch zu dem Wunsche entflammt, auch zu fliegen. Außerdem glaube ich, daß die Hymne in der Kirche mit die Veranlassung zu der Tat gewesen ist.«

»Ein Gesang in der Kirche?« fragte der Domherr verwundert; und in seinem Gange innehaltend, stützte er sich auf seinen Stock und sah die Nichte ungläubig an.

»Ja, die Hymne: ›Auf den Flügeln einer Taube‹.«

Wieder stieß der Domherr ein verächtliches »Pah!« aus, und sprach dann in hartem Tone:

»Daisy findet eben in allem und jedem Veranlassung zu dummen Streichen; sie hat gar kein Gewissen. Mir ist schon manchmal der Gedanke aufgestiegen, daß sie geistig nicht ganz normal ist. Denn sonst müßte man ihren Charakter geradezu boshaft nennen. – Barmherziger – –« hier brach der Domherr jäh ab; er war vor das Fenster seines Arbeitszimmers getreten, wo sich seinen Augen die vollständige Vernichtung seiner geliebten Gloire de Dijon bot.

Die halb abgeschnittenen Äste hingen nun verwelkt und die übrigen waren aus dem Spalier gerissen.

»Was – wer?« stieß er erregt hervor.

Frau Sinclair blickte voller Entsetzen auf dies Bild der Verwüstung. Und blitzartig durchzuckte sie der bange Gedanke, daß die arme Daisy schuld daran trüge. Denn die verhängnisvollen Flügel waren aus Rosenzweigen verfertigt, deren Dornen die meisten von Eng'chens Wunden verursacht hatten.

»Ich fürchte – –« entgegnete sie zögernd.

»Fürchten? – Was?« rief der Domherr heftig, während er entgeistert auf seine sonst so sorgfältig gepflegten Rosen blickte. »Daß der Baum total verdorben ist? Ich denke, darüber kann man nicht den geringsten Zweifel hegen!«

»Ich wollte sagen, ich fürchte, daß die arme Daisy die Zweige für ihre Flügel abgeschnitten hat.«

»Daisy?« stieß der Domherr verblüfft hervor. »Das ist unmöglich! So hoch kann sie nicht reichen! Sie hat auch noch nicht die Kraft zum Abschneiden!« Trotzdem blickte er sofort noch einmal prüfend auf den Baum, und dann auf die kleinen Fußabdrücke auf der Erde. »Wenn sie es getan hat – –?« Hier brach er ab, schritt rasch auf das Haus zu, und dann, trotz Frau Sinclairs flehentlicher Bitte, die Treppe zu Daisy hinauf, um sie ins Verhör zu nehmen.

Die Kleine öffnete zwei sehr matte Augen und sah ganz verwirrt auf das zornige Gesicht des Domherrn, auf dem die verdrießlichen Falten, die ihr immer so sehr mißfielen, sich ganz besonders scharf abzeichneten, und beantwortete seine Frage nur mit einem einfachen: »Ja!« Sie war zu krank, um sich zu entschuldigen, oder um den Onkel darauf hinzuweisen, daß sie ihm auch hatte Gelegenheit geben wollen, die ihr von ihm so anempfohlene Selbstverleugnung zu üben. Und dies war sehr gut, denn der Domherr wäre jetzt nicht in der Stimmung gewesen, solche Gründe ruhig anzuhören.

Nicht im geringsten gerührt von der Blässe des kleinen Gesichtes und dem müden Blick in den Augen, den er in seiner Verblendung für Gleichgültigkeit hielt, stieg er rasch wieder zu seiner Nichte herunter und sagte im Tone unterdrückter Wut: »Sie muß fort!«

»Wohin, Onkel John?«

»Das werden wir noch überlegen. Aber länger hier bleiben darf sie nicht, um durch deine unglaubliche Nachsicht verdorben zu werden und noch einmal das Leben ihres kleinen Bruders in Gefahr zu bringen, wenn ich schon davon absehe, daß sie die Freude und Erquickung des ganzen Haushalts vernichtet hat!«

Frau Sinclair wußte im Augenblick nichts zu erwidern, daher verließ sie den Erregten und begab sich in das Kinderzimmer, wo sie Daisy mit geschlossenen Augen fand, unter denen tiefe schwarze Schatten lagen. Das Kind sah so schreckenerregend blaß aus, daß der Mutter die bange Furcht aufstieg, es könnte ernstlichen Schaden genommen haben. Während sie ihr Töchterchen noch voll tiefer Sorge betrachtete, drang plötzlich leises Lachen an ihr Ohr, was sie erschreckt zusammenfahren ließ.

»Ist es nicht drollig, Prinz?« hörte sie die Kleine dann murmeln. »Ich liege hier ganz krank und all meine Knochen sind gebrochen. Und Eng'chen geht es ganz gut, er ist überhaupt nicht wirklich krank. Und zuerst wußte es niemand, und alle jammerten nur um Eng'chen.« Und wieder lachte die Kleine auf.

Frau Sinclair glaubte zuerst, das Kind phantasiere. Aber Daisy, die ein Geräusch vernommen hatte, öffnete die Augen. Und als sie die Mutter bemerkte, rief sie schnell:

»Bist du hier, Mütterchen? Ich wußte das nicht; deshalb sprach ich eben ein bißchen zu mir, um mich vergnügt zu machen. Aber ich bin gar nicht so sehr vergnügt, weil mir der Arm so furchtbar toll weh tut!«

»Mein armes kleines Mädchen! – Es wird schon besser werden! Aber vergnügt brauchst du auch nicht zu sein, weil du so sehr unartig gewesen bist. Du hast den schönen Rosenbaum von Onkel John vernichtet und außerdem deinem Brüderchen Schaden zugefügt. Er hätte sogar getötet werden können!«

»Aber er ist doch nicht getötet. Und nur ich bin doch wirklich verletzt. So braucht sich niemand viel daraus zu machen. Und es tut mir sehr leid um Onkel Johns Rosenbaum, wenn er wirklich die Zweige nicht gern fortgegeben hat.«

»Natürlich nicht, Daisy!« entgegnete die Mutter strenge. »Er ist sehr böse. Du bereitest überhaupt allen viel Kummer und Sorgen und machst mich sehr unglücklich.«

»Manches ist doch sehr komisch!« war Daisys einzige Antwort. Und gleich darauf fügte sie bittend hinzu: »Ich möchte so sehr gerne Herrn Evans gute Nacht sagen.«

Frau Sinclair, die zufällig zum Fenster hinausblickte, sah den jungen Doktor unten stehen und fragend zu ihr aufschauen.

»Wie geht es Daisy?« erkundigte er sich besorgt.

»Nicht sehr gut,« erwiderte Frau Sinclair. »Sie möchte Ihnen aber gerne gute Nacht sagen. Würden Sie wohl so liebenswürdig sein und für eine Minute heraufkommen?«

Der junge Mann verschwand, um einige Sekunden danach ins Kinderzimmer geführt zu werden, welche Gelegenheit die Mutter benutzte, um nach ihrem zweiten Patienten zu sehen.

»Es ist schon wieder etwas, was schlecht geworden ist,« erzählte die Kleine ihrem Freunde in klagendem Tone, während sie seine Hand in ihre unverletzte nahm und sie festhielt.

»Leider ja,« stimmte Georg zu. »Ich an deiner Stelle würde von nun an lieber immer auf der Erde weilen.«

»Und Onkel John liebt für sich selbst gar nicht die Selbstverleugnung, er predigt sie nur anderen,« fuhr das Kind fort.

Georg räusperte sich, sagte aber nichts.

»Wenn ich all meine Knochen zerbrochen hätte, würde ich dann tot gewesen sein?«

»Ja, ganz gewiß«, entgegnete der junge Doktor in entschiedenem Tone, weil er wünschte, Daisy die Gefahr, in der sie geschwebt hatte, recht klar zu machen.

»Dann würde ich niemand mehr Sorgen bereitet und niemand mehr unglücklich gemacht haben. Aber weißt du, ich kann doch nichts dafür, daß ich lebendig geblieben bin.«

»Aber du würdest mich sehr unglücklich gemacht haben, wenn du gestorben wärest,« rief Georg Evans liebevoll. »Was sollte ich wohl ohne mein kleines Prinzeßchen machen?« Es lag eine verdächtige Heiserkeit in der Stimme des jungen Mannes, über die er sich sehr geschämt haben würde, hätte ihn jemand beobachtet.

»Würdest du das wirklich?« fragte Daisy eindringlich, während sich ihr trauriges Gesichtchen aufhellte.

»Ja, ganz sicher!« bekräftigte der Doktor seinen Ausspruch. »Aber nun, mein Liebling, mußt du still liegen und gar nicht versuchen, dich aufzurichten, bis man es dir morgen erlaubt.«

»Wie du meinst. Und ich danke dir auch sehr, daß du gekommen bist, lieber Prinz!« sagte Daisy mit einem Seufzer der Erleichterung. »Jetzt kann ich ganz ruhig einschlafen.«

Einige Augenblicke darauf fand die zurückkehrende Mutter die kleine Kranke in tiefem, friedlichem Schlummer.

»Welch wundervolle Art Sie haben, mit dem Kinde umzugehen, Herr Doktor!« sprach sie bewundernd zu dem jungen Mann. »Daisy ist so schwer zu behandeln. Sie sind wohl sehr kinderlieb?«

»Im Gegenteil. Gewöhnlich langweilen mich solch winzige Geschöpfchen, ausgenommen als Patienten. Ihr Töchterchen ist aber eine Ausnahme von der Regel.«

»Und doch ist Daisy im allgemeinen gar nicht beliebt. Aber Sie scheinen das Kind ganz in Ihr Herz geschlossen zu haben.«

»Sie ist mir sehr interessant als Fall,« entgegnete der junge Doktor mit leichtem Lächeln, da er nicht die Tiefe seiner Zuneigung für das kleine Persönchen zu erkennen geben wollte.

»Finden Sie nicht, daß sie – eigentümlich ist?« fragte die Mutter ängstlich.

»Ich glaube nicht, daß Sie sich darüber Sorge zu machen brauchen, gnädige Frau. Daisy ist zweifellos ein Original, aber wenn sie anfangen wird zu lernen, wird sie schon normaler werden. Ich glaube bestimmt, die Schule wird einen vorteilhaften Einfluß auf sie ausüben, vorausgesetzt, daß es die richtige Art Schule ist.«

»Glauben Sie das wirklich, Herr Doktor?« rief Frau Sinclair erfreut. »Ich bin sehr froh über Ihre Ansicht. Denn mein Onkel hat heute erklärt, daß Daisy so bald wie möglich in die Schule kommen müsse. Die Vernichtung seines Rosenstockes war die Veranlassung dazu!«

Und sie erzählte die Geschichte von der Gloire de Dijon.

Ein Lächeln umspielte Georgs Lippen.

»Darauf bezog sich also Daisy, als sie mir sagte, daß der Onkel selbst die Selbstverleugnung gar nicht liebe, sondern sie nur anderen predige. Sie erzählte mir auch neulich, daß der Domherr ihr diese Lehre tief eingeprägt hätte, indem er eine geliebte Puppe von ihr fortschenkte. Zweifellos wollte sie jetzt dem Domherrn Gelegenheit geben, seinerseits Selbstverleugnung zu üben.«

»Aber ihre Tat macht eher den Eindruck von Bosheit,« wandte Frau Sinclair ein.

»Ich glaube nicht, daß ein Atom von Bosheit in Daisys Auffassung gelegen hat. Ihre Schlußfolgerung war ganz logisch, von ihrem Gesichtspunkt aus betrachtet, wenn Sie es sich recht überlegen, gnädige Frau.«

»Ich fürchte leider, ich kann die Sache nicht von Daisys Gesichtspunkt aus betrachten. Mir erscheint sie, schon ganz milde beurteilt, eine strafbare Gedankenlosigkeit und ein Mangel an Rücksicht auf andere, wenn nicht noch Schlimmeres. Und ich glaube wirklich, ich werde ebenso erleichtert aufatmen, wie die übrigen Hausgenossen, wenn Daisy in Pension kommt.«

»Sie werden die Kleine doch nicht aus dem Hause geben?« rief Georg aufs höchste überrascht.

»Darüber wird mein Onkel entscheiden,« gab Frau Sinclair ausweichend zur Antwort. Und dem jungen Mann kam es zum Bewußtsein, daß er ja nur ein verhältnismäßig Fremder wäre und kein Recht hätte, in Daisys Geschick einzugreifen, welcher Art es auch immer sein möge. Daher verabschiedete er sich von Frau Sinclair, und während er rasch seinem Hause zuschritt, entschlüpfte seinen Lippen wieder seine gewöhnliche Schlußfolgerung:

»Armes kleines Geschöpfchen!«

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