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Vierzehntes Kapitel.
Die Turmvilla

»Nun werdet ihr wohl alle ganz glücklich sein und keine Sorgen mehr haben,« sagte Daisy sehr ernst zu ihrer Mutter, während diese nachdenklich aus dem Fenster des Coupés blickte, in welchem die beiden, nach einer eiligen Fahrt zum Bahnhof, nun allein nebeneinander saßen.

Frau Sinclair wandte sich ihrer kleinen Tochter zu. Sie war augenblicklich recht traurig in dem Gedanken, sich von dem Kinde zu trennen, und während ihr Blick auf Daisy fiel, durchzuckte sie ein heftiger Schmerz. Das Kind war noch ein solch winziges Persönchen, um schon in Pension geschickt zu werden; es schien geradezu lächerlich, daß sie von Hause als ein gefährlicher Charakter verbannt wurde.

»Mein Liebling, du mußt nicht so etwas sagen!« sprach sie bekümmert, und Daisy in ihre Arme nehmend, küßte sie sie innig. Dann fuhr sie zärtlich fort, und Tränen stürzten dabei aus ihren Augen: »Wenn du nur wüßtest, wie furchtbar traurig dein Mütterchen ist, weil sie sich von ihrem kleinen Mädchen trennen muß und wie sehr sie sich nach ihrer lieben Daisy bangen wird.«

Daisy klammerte sich einen Augenblick leidenschaftlich an die Mutter; aber schon im nächsten löste sie wieder ihre Ärmchen.

»Ich denke, du bist nur zu guter Letzt so traurig, sonst würdest du mich doch wieder mit dir nach Hause nehmen,« erwiderte sie schwermütig und sah mit ernsten Augen zu Frau Sinclair auf, die unwillkürlich die ihrigen vor dem durchdringenden Blick der großen schwarzen, die in ihrer Seele zu lesen schienen, senkte.

»Du wirst dich schon sehr glücklich fühlen in der Turmvilla, Daisy,« suchte sie ihr Töchterchen zu trösten. »Denke nur, du wirst die See von deinem Fenster aus sehen und alle großen Segel- und Dampfschiffe vorüberfahren! Auch einen wunderschönen Garten hast du dort, in dem du spielen kannst.«

»Glaubst du, daß bald ein Schiffbruch sein wird?« fragte Daisy lebhaft.

»Ich hoffe nicht!« entgegnete Frau Sinclair beinahe entsetzt. »Warum aber wünschest du so etwas? Weißt du denn nicht, daß es Gefahr und vielleicht sogar den Tod für die armen Menschen auf dem Schiffe bedeutet? Das war ein sehr liebloser Wunsch von dir, mein Kind.«

»Ich habe es mir ja gar nicht gewünscht. Ich wollte sie dann nur gerne von dem Wrack retten helfen. Das ist doch nicht ein bißchen lieblos.«

»Ich verbiete dir – –« Hier brach Frau Sinclair ab. Es schien zu lächerlich, Daisy zu verbieten, Schiffbrüchige zu retten; deshalb fügte sie hinzu: »daß du ohne einen Erwachsenen an den Strand gehst.« Aber in ihrem Innern faßte sie den Entschluß, die Damen Bryants recht eindringlich zu bitten, streng auf Daisy aufzupassen. »Denke immer daran, mein Töchterchen,« fuhr sie dann in ernstem Tone fort, »daß du ein gutes Mädchen werden und keine Dummheiten machen sollst. Ich habe noch nie ein solches Kind wie dich gesehen; man kann dir gar nicht trauen. Ich weiß wirklich nicht, was die Damen Bryants mit dir anfangen werden!«

»Ich dachte es mir ja, daß du nur zu guter Letzt traurig wärest,« gab Daisy auf die Rede ihrer Mutter zur Erwiderung.

Frau Sinclair, die nicht mehr wußte, was sie nun ihrer kleinen Tochter sagen sollte, schwieg für den Rest der Reise und war froh, als diese sich ihrem Ende nahte und die Turmvilla sichtbar wurde.

»Sieh nur, Daisy! Da ist eure Villa – dort jenes große, weiße Haus!«

»Ach, wie schön! Sie hat ja wirklich einen Turm wie ein verzaubertes Schloß!« rief Daisy ganz begeistert.

»Ich freue mich, daß dir dein neues Heim gefällt,« entgegnete die Mutter glücklich. »Und da sind auch die Fräulein Bryants und ein junges Mädchen mit ihnen. Ob sie wohl auch eine Schülerin ist? Doch kaum – sie scheint schon zu alt dazu.«

Eine Minute später hielt der Zug, worauf die Damen an das Coupé herantraten und Frau Sinclair sowie ihre kleine zukünftige Pensionärin begrüßten. Dann stellten sie ihre junge Begleiterin als ein Fräulein Daisy Grey vor, die Tochter eines Domherrn, den Frau Sinclair auch oberflächlich kannte.

»Daisy hat liebenswürdigerweise eingewilligt, uns zu helfen, ihre kleine Namensschwester zu behüten,« erklärte das älteste Fräulein Bryant, während alle den Bahnhof verließen, um den steilen Hügel nach der Turmvilla hinaufzugehen. »Eine unglückliche Neigung – unter ihrem Stande« – fuhr sie in leisem Tone zu Frau Sinclair fort, als die älteren Herrschaften etwas zurückgeblieben waren. »Ihr Vater war sehr froh, sie eine Zeitlang von Hause entfernen zu können.«

»Bist du auch verbannt?« erkundigte sich Daisy teilnehmend, während sie Hand in Hand mit dem jungen Mädchen vorausschritt.

Ein heißes Rot färbte Daisy Greys Antlitz.

»Wer hat dir das gesagt?« fragte sie erregt. Dann, sich verbessernd, fügte sie rasch hinzu: »Was meinst du damit?«

»Ich glaubte nur, daß du vielleicht auch eine verbannte Prinzessin wärest, weil du so schön bist.« Und das junge Mädchen voll Bewunderung betrachtend, fuhr sie sehnsüchtig fort: »Ich wünschte, ich hätte auch so goldenes Haar wie du.«

Fräulein Grey lächelte freundlich auf die Kleine herab, während sie das Händchen, das sie hielt, zärtlich drückte. »Ich freue mich, daß du keins hast, du würdest nicht halb so hübsch aussehen mit goldenem Haar zu deinen schwarzen Augen.«

»Würdest du mir vielleicht manchmal deins leihen?«

»Wie? Ich soll es abschneiden?«

»Geht es denn nicht herunterzunehmen, wie Tante Rose's?«

»Nein!« Und Fräulein Grey lächelte für sich.

»Das ist sehr schade!« entgegnete Daisy ernst. »Ich glaube, du würdest sonst so gut gewesen sein, es mir zu leihen. Und mein Prinz liebt goldenes Haar mehr als schwarzes.«

»Dein Prinz?« fragte das junge Mädchen verwundert.

»Ja,« entgegnete das winzige Persönchen ernsthaft. »Eigentlich ist er nur ein junger Mann; aber für mich ist er ein Prinz. Und ich werde ihn heiraten, wenn ich ganz alt bin, weil seine richtige Prinzessin ihn nicht heiraten wollte.«

»Ach! wie lieblos! Warum wollte sie denn nicht den Prinzen heiraten?«

»Weil sie eine sehr vornehme Dame ist, die über ihm steht,« entgegnete Daisy, die diese Angelegenheit von Lise und ihren Freundinnen hatte erörtern hören, altklug. »Wahrscheinlich ist sie eine wirkliche Prinzessin, oder eine Herzogin, oder so etwas ähnliches, und er ist nur ein junger Arzt.«

»Ein Arzt?« rief Fräulein Grey gespannt. »Wie heißt er denn?«

»Sein eigentlicher Name ist Herr Georg Evans; aber ich nenne ihn meinen Prinzen, weil ich ihn heiraten werde.«

»Wirklich?« fragte Fräulein Grey. »Also hat er die andere Prinzessin vergessen?«

»Nein. Er hat sie nicht gerade vergessen. Aber natürlich ist sie eine schlechte Prinzessin, weil sie ihn verlassen hat. Deshalb bemüht er sich, sie zu vergessen und statt ihrer mich lieb zu haben. Nur manchmal muß er doch an sie denken, und dann ist er sehr traurig, und kommt sich mit mir unterhalten. Und nun, wo er nur zwei von meinen Kindern hat, mit denen er reden kann, wird er noch viel trauriger sein. Aber ich werde ihm oft schreiben. Nur weiß ich nicht genau, wie man schreibt. Aber vielleicht bist du so gut, und hilfst mir ein bißchen?«

»Ja, du liebe Kleine, ich werde dir helfen,« entgegnete Fräulein Grey leise.

»Die andere Prinzessin hieß auch Daisy. Der Prinz findet, daß es ein sehr schöner Name ist,« fuhr die kleine Plaudertasche fort.

»Wirklich?« fragte Fräulein Grey.

»Ja, wirklich. Und mein Prinz sagt,« erzählte das Kind dann weiter, »er glaubt, ich würde nie so schrecklich sein, wie sie.«

»Das sagte er?« stieß Fräulein Grey erregt hervor.

»Was?« fragte Daisy zurück.

»Er sagte, daß die andere Prinzessin schrecklich wäre?«

»Nein, er sagte nicht, daß sie schrecklich wäre. Aber ich sagte es. Er sagte nur, er glaube, ich würde ihn nie verlassen, weil er nicht vornehm ist.«

»Du kannst solche Dinge noch nicht verstehen, Kleine,« bemerkte Fräulein Grey.

»Das ist genau, was mein Prinz sagte,« erwiderte Daisy, höchst verwundert über diese Übereinstimmung, »als ich fand, daß sie schrecklich wäre, weil sie ihn verlassen hat. Du würdest so etwas niemals tun, nicht wahr?« fügte sie ernsthaft hinzu.

»Sieh mal, Daisy! Das ist ein schneeweißes persisches Kätzchen, mit dem kannst du spielen!« rief Fräulein Grey ausweichend.

Daisy lief mit einem Ruf des Entzückens der Katze nach, mit der sie bald innige Freundschaft schloß, während Fräulein Grey umkehrte und sich den älteren Damen zugesellte, die eben durch die Gartenpforte eintraten.

»Sie scheinen ja mit meiner kleinen Tochter ganz gut auszukommen,« bemerkte Frau Sinclair erfreut und blickte das junge Mädchen dankbar an. »Wie glücklich mich das macht! Sie ist ein so sehr eigentümliches Kind! Sie sagt und tut stets ganz außergewöhnliche Dinge! Niemand scheint Verständnis für sie zu haben – das heißt, ausgenommen ein junger Doktor, – unser Nachbar, – der sie auch sehr lieb hat.«

»Ich glaubte, Sie hätten so unangenehme Nachbarn,« warf Fräulein Bryant erstaunt ein.

»Nun, der Vater scheint nicht gerade ein Herr der feinsten Gesellschaft zu sein; aber der Sohn ist es, und auch allgemein beliebt. Er hat trotz seiner Jugend schon einen gewissen Ruf erlangt und wird wahrscheinlich eines Tages einer unserer berühmtesten Ärzte werden. Mein Onkel hält sehr viel von ihm. Desgleichen Daisy,« fügte sie lächelnd hinzu. »Die beiden führen lange Unterhaltungen über der Mauer unseres Gartens und sind eng befreundet.«

»Die Kleine hat mir schon von ihrem ›Prinzen‹, wie sie ihn nennt, erzählt,« entgegnete Fräulein Grey lächelnd.

»Ja, für sie ist er ein Prinz. Und dazu, wie ich schon eben erwähnte, der einzige, der Verständnis für sie hat. Und er gab mir die Versicherung, daß Daisy schon normal werden wird, wenn sie zu lernen anfängt. Deshalb hoffe ich viel von ihrem hiesigen Aufenthalt.«

»Ich habe die Kleine schon sehr lieb!« rief Fräulein Grey mit einer Wärme, die alle Zuhörer sehr überraschte und ermutigte.

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