Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die kleine Daisy saß auf ihrem Lieblingsplatz auf der Trennungsmauer, mit dem Blick nach dem Evansschen Garten. Man hatte ihr von beiden Seiten der Mauer dieses Zugeständnis gemacht.
Georgs »lächerliche« Schwäche für das Teufelchen, wie seine Eltern es nannten, ließ das kleine Menschenkind auf der feindlichen Seite nicht nur geduldet, sondern sogar gern dort gesehen sein; denn auch Frau Evans plauderte zuweilen mit ihres Sohnes kleiner Freundin und schenkte ihr Obst oder Blumen, womit die gutmütige alte Dame immer jemand erfreuen mußte. Und Daisys Kindermädchen behauptete daß die Mauer der einzige Ort wäre, wo das Kind keinen Unfug triebe, und sie begrüßte den Ton von Herrn Evans' Stimme stets voll Freude, weil sie dadurch eine Zeitlang ihres schwierigen Wächteramtes enthoben wurde.
Für die kleine Daisy aber war die Mauer der Inbegriff alles Glückes. Sie bedeutete ihr einen Thron, und sie fühlte sich beim Besteigen derselben als wirkliche kleine Prinzessin.
»Sie ist angekommen!« Mit diesen Worten begrüßte sie an dem heutigen Tage den Prinzen.
»Wer ist sie?« forschte der Prinz.
»Das alte Vierfüßer aus dem Geschlecht der fenis.«
»Wie?« fragte er erstaunt. »Ein Vierfüßer aus dem Geschlecht der felis? Ah, nun verstehe ich – also eine ›Katze‹. Es würde einfacher gewesen sein, das gleich zu sagen. Ich wußte gar nicht, daß du eine bekommen solltest. Ist es denn eine persische?«
»N–ein; wenigstens glaube ich, daß sie englisch ist. Und ich sagte doch auch, ein altes Vierfüßer.«
»Nun, das heißt also in allgemein gebräuchlicher Sprache eine alte Katze. Was ist denn mit ihr?«
»Du mußt nicht ›eine alte Katze‹ sagen; das ist nicht höflich, sagt Lise, und sie war auch sehr böse auf die Köchin, als die das gesagt hatte. Deshalb ließ ich mir von Lise aus meinem Tierbuch darüber vorlesen. Und da stand drin, eine Katze ist ein Vierfüßer aus dem Geschlecht der fenis, Deshalb nenne ich sie jetzt so, aber ihr wirklicher Name ist Tante Rose.«
»Aber weshalb hast du mir das nicht gleich richtig gesagt, anstatt mich zu veranlassen, daß ich deiner Tante Spottnamen gebe? Du darfst das ja nicht mehr wiederholen. Versprich mir, so etwas nicht noch einmal zusagen. Befolge meinen Rat und sei ein artiges kleines Mädchen, so lange die Tante bei euch ist. Gib ihr ja keine unpassenden Namen.«
Daisy schüttelte traurig das winzige Köpfchen.
»Sie findet doch nicht, daß ich ein artiges kleines Mädchen bin; sie sagt, ich sei ein unverschämtes Kind und müßte streng bestraft werden.«
»Ei, was hast du denn schon wieder verbrochen?«
»Das weiß ich wirklich nicht. Gestern beim Lunch fragte ich nur die Tante, ob sie mir wohl manchmal ihr Haar leihen möchte, wenn sie es gerade nicht brauchte, damit ich ›große Dame‹ spielen könnte. Und da war sie so böse, und ich hatte ihr doch gesagt, ich wollte es bloß haben, wenn sie es abgenommen hat. Ich glaube,« fügte die Kleine ernst hinzu, »sie hat einen sehr häßlichen Charakter. Denn sie wurde so furchtbar rot und schlug sogar nach mir. Denke dir! Wo ich sie nur um solche Kleinigkeit bat!«
»Nun – hm – manche Menschen lieben es nicht, ihre Garderobe zu verleihen.«
»Es war doch keine Garderobe; es war ihr Haar.«
»Oder auch ihre Haare. Um solche Dinge mußt du nie jemand bitten.«
Daisy seufzte tief auf und sagte bedauernd: »Es ist solch schönes Haar! – Ganz gelb, viel schöner als ihr anderes – ich hätte damit eine wirkliche Märchenprinzessin sein können.«
»Was macht denn die Schildkröte?« erkundigte sich Georg, indem er vorsichtigerweise dieses heikle Thema verließ.
»Es geht ihr ganz gut, danke,« entgegnete die Kleine gleichgültig. »Aber ich wünschte, sie könnte sprechen. Manchmal ist es so furchtbar langweilig. Und ich habe Mütterchen kaum gesehen, seit das Vierfüßer angekommen ist.«
»Du sollst doch Tante Rose sagen,« sprach Georg streng.
»Meinetwegen!« entgegnete Daisy. »Aber der andere Name paßt weit bester für sie. Sie ist nicht ein bißchen wie eine Rose. Denn eine Rose ist doch etwas Schönes. Es würde wirklich viel leichter sein, sie mit einem häßlichen Namen zu nennen. Und sie ist auch noch so undankbar!«
»Beim Frühstück beugte sie sich herab um Eng'chen zu küssen, und da sagte ich bloß: »Biege dich nicht zu tief, sonst fällt dir noch dein Haar ab!« Und da wurde sie wieder so böse, und Onkel schüttelte mich sehr heftig am Arm – wirklich – ich habe Lise nachher den blauen Fleck gezeigt – und befahl mir, ich solle überhaupt während des Frühstücks nicht reden. Und es war auch unser letztes Frühstück unten, so lange sie hier ist, weil Onkel John es bestimmt hat. So werde ich Mütterchen jetzt kaum noch sehen.«
»Kleine Kinder sind auch am besten im Kinderzimmer aufgehoben. Wenn du erst älter bist, wirst du schon begreifen, warum du solche Bemerkungen über Erwachsene niemals machen darfst.«
»Aber neulich, als Mütterchens Haar herunterfiel, sagte ich es ihr auch. Und da entgegnete sie mir: ›Danke Liebling!‹ Und steckte es auf.«
»Das war auch etwas anderes – ganz etwas anderes.«
»Ach! Manches ist wirklich so furchtbar schwer zu begreifen!« erwiderte die Kleine sehr niedergeschlagen.
»Warum denkst du dir nicht etwas Hübsches aus? Tue doch, als ob du jemand anders wärest!« schlug der junge Evans der kleinen Betrübten vor. Er wußte, daß er sie nur in das Reich der Phantasie zu führen brauchte, um sie für Tage, ja, manchmal sogar für Wochen glücklich zu machen – das heißt, so lange das Märchen, das ihr kleines Gehirn sich ersonnen hatte, andauerte.
Daisy schwieg. Ihr Gesichtchen heiterte sich auf; die Mundwinkel hingen nicht mehr schwermütig herab. Allmählich bekamen die Augen einen träumerischen Blick.
Ihr Freund entfernte sich lächelnd. Daisy hatte ihr ›Denken‹ begonnen, wie sie es nannte. Er rief ihr auch nicht einmal mehr einen Abschiedsgruß zu; er wußte, sie würde ihn doch nicht hören. Und nun, so sagte er sich mit Befriedigung, würde die Kleine hoffentlich auch ihre Mutter nicht zu sehr vermissen. In jedem Fall war es ihm wenigstens gelungen, den rührend traurigen Blick aus dem kleinen Gesicht zu vertreiben, das die Fähigkeit besaß, die Tiefen des Leides und die Höhen des Glückes so ausdrucksvoll widerzuspiegeln.
Nach einer kleinen Weile schlüpfte Daisy mit glückseligem Lächeln von der Mauer und ging Engelchen aufsuchen, das stets an all ihren Plänen, trotzdem sie nichts weniger als engelhaft waren, teilnahm.
»Eng'chen,« rief sie ihrem kleinen Bruder zu, »ich bin Robinson Crusoe, und du bist mein Diener ›Freitag ‹. So stehe recht stramm und höre: wir wollen auf Entdeckungsreisen gehen!«
»Ssa,« erwiderte der Diener Freitag und reckte sein winziges Körperchen so hoch auf, wie er nur konnte.
»Vielleicht ist es doch besser, wir warten bis nach dem Mittagessen. Weil du sonst hungrig werden könntest. Und du weinst doch immer gleich, wenn du hungrig bist.«
»Mich nicht weinen wird,« widersprach das Brüderchen.
»Nun, das ist schon die Mittagsglocke, deshalb können wir doch erst das Wrack verlassen, wenn wir gegessen haben,« erwiderte die Schwester, die wahrscheinlich selbst Hungergefühle verspürte. »Und dann, wenn Lise aus dem Kinderzimmer gegangen ist, wirfst du dich auf den Boden – das ist das Meer – und ich rette dich nach einer einsamen Insel, wo es keine Häuser und keine Eßwaren gibt.«
»'Gelchen hungrig sein!« jammerte das Bübchen.
»Sei nur ruhig! Wir werden natürlich schließlich etwas entdecken, was wir essen können. Doch nun komm rasch. Lise ruft uns schon. Aber sei ganz still und erzähle niemand etwas von der einsamen Insel.«
»Mich nichs verzählen wird,« versprach der Kleine. Und die Geschwister begaben sich einmütig zum Essen, glückselig in der Aussicht auf ihre Entdeckungen.
»Nanu, was ist denn los, liebe Prinzessin?« rief Georg Evans am nächsten Tage, als er die Kleine Daisy auf der Gartenmauer mit der allerleidvollsten Miene sitzen sah. »Ich dachte, ich würde heute eine wunderbare Persönlichkeit hier antreffen – zum mindesten die Kaiserin von Indien. – War denn dein ›Denken‹ nicht gut ausgefallen?«
»Entsetzlich war es,« entgegnete sie traurig. »Ich werde mir überhaupt nie mehr etwas ausdenken. Tante Rose sagt, nur ein enormes Mädchen wie ich könnte auf solche Dinge kommen.«
»Enorm?« fragte Georg verwundert, während er das kleine, zierliche Persönchen forschend betrachtete, das sogar noch besonders klein für sein an sich schon so geringes Alter war.
»Ach! Nun begreife ich – ›abnorm‹ wolltest du sagen. Was hattest du dir denn ausgedacht, Kleine?«
»Im Anfang ging alles ganz schön. Ich war Robinson Crusoe, und Eng'chen – –« Eine kleine Pause. – »Ich denke, – zwar sollte ich eigentlich gar nicht mehr denken – daß Eng'chen doch nicht ganz der richtige Name für Leslie ist. Er ist manchmal gar nicht so engelhaft. Nun, gestern war Eng'chen der Diener ›Freitag‹, und wir beide machten eine Reise nach Entdeckungen.«
»Und natürlich hattet ihr euch verirrt.«
»Nein. Das haben wir nicht getan. Ich bemühte mich aber, etwas zu ›entdecken‹; nur gab es auf der Straße gar nichts zu ›entdecken'. Und Eng'chen jammerte fortwährend, er wäre müde und hungrig; und ich versprach ihm, etwas Eßbares zu entdecken. Und er wünschte sich sehr Bonbons aus einem Laden und da › entdeckte‹ ich sie und gab sie ihm.«
»Aber natürlich hast du sie doch bezahlt?« fragte Georg etwas ängstlich, schon mit leisem Zweifel.
»Natürlich habe ich das nicht getan,« erwiderte Daisy gekränkt. »Man bezahlt doch nicht für Dinge, die man › entdeckt‹.«
»Gewiß tut man das, wenn sich diese Dinge in einem Laden befinden.«
»Aber Mütterchen geht oft in den Laden und nimmt Dinge, und bezahlt nicht dafür. Noch neulich nahm sie eine große Düte voll Kuchen und ging geradezu damit aus dem Laden, und genau so tat ich auch. Nur daß die Frau von Mütterchens Laden Mütterchen freundlich zulächelte und ›Danke schön‹ sagte. Und der Mann aus meinem Laden, der gerade heimkam, als Eng'chen und ich heraustreten wollten, gar nicht so freundlich war.«
Georg Evans hatte schon längst aufgehört, über irgend etwas, was die kleine Daisy sagte, Erstaunen zu empfinden. Er versetzte sich in ihre Seele hinein und betrachtete alles von ihrem Gesichtspunkt aus. Aber er machte ihr stets Vorstellungen und bemühte sich, ihr klar zu machen, wie andere Menschen über die Dinge dachten und sie beurteilten!
Deshalb sagte er auch heute: »Paß mal auf, Kleine. Siehst du denn nicht den Unterschied zwischen dem Einkaufen deiner Mutter und dem deinen?«
Daisy schüttelte verneinend das Köpfchen.
»Nun, da ist aber ein gewaltiger Unterschied. Deine Mutter beabsichtigte für die Kuchen zu bezahlen. Sie hatte wahrscheinlich nur nicht ihr Portemonnaie bei sich.«
»Aber ich hatte meins auch nicht mit,« schaltete Daisy ein.
Der junge Doktor fuhr, ohne ihren Einwurf zu beachten, fort: »Aber die Frau wußte, daß deine Mutter später dafür bezahlen würde.«
»Das hat sie aber nicht gesagt,« sprach Daisy hartnäckig.
»Dann hat sie eine Rechnung beigelegt. Aber es scheint mir, du verstehst mich noch nicht. Wir wollen daher die Sache ruhen lassen. Erzähle weiter. Was sagte der Mann denn, als er euch so harmlos – mit seinen Waren abgehen sah?«
»Er wurde sehr rot und sagte häßliche, unfreundliche Dinge, und nahm uns die Bonbons fort. Und Eng'chen weinte, und da gab er sie ihm wieder zurück. Und mich fragte er, wie ich heiße, und wo ich wohne, und als ich ihm alles gesagt hatte, wurde er noch viel böser als vorher und rief heftig, ich wäre eine Lügnerin und es hätte keinen Zweck, ihm solchen Unsinn zu erzählen.«
»Vermutlich konnte er sich nicht denken, daß die kleine Großnichte des Domherrn Sinclair so etwas tun würde.«
»Aber oh! Ich war doch damals nicht Onkel Johns Nichte, ich war Robinson Crusoe, und lebte auf einer einsamen Insel. Und er sagte, wir wären eine Bande von – nein, das war ein zu grobes Wort; das kann ich nicht wiederholen.«
»Ich glaube,« bemerkte nun der junge Doktor, indem er das kleine Geschöpfchen gedankenvoll betrachtete, »daß du nicht wie andere Menschen denken kannst. Ich an deiner Stelle würde daher nicht mehr andere Menschen vorstellen wollen.«
»Wenn sie ein alltägliches Kind gewesen wäre,« so folgerte er bei sich, »würde sie sich einen Teich mit einer einsamen Insel ausgesucht und sich und das Engelchen halb ertränkt haben, was ja natürlich viel schlimmer, aber doch verständlicher gewesen wäre. Aber ganz harmlos in einen Laden zu gehen und Bonbons daraus fortzunehmen! Nein, so was!« Und der junge Mann schüttelte verwundert den Kopf. Dann wandte er sich wieder an seine kleine Freundin.
»Aber du hast mir ja noch nicht den Schluß deiner Entdeckungsreise erzählt, liebe Prinzessin.«
Die Kleine seufzte schwermütig.
»Lise kam uns entdecken, und sie bezahlte den Mann, und liebkoste Eng'chen und schalt mich heftig, und erzählte dem Mann, ich wäre ein kleiner Teufel und würde noch einmal im Gefängnis enden, oder noch schlimmer, wenn ich so weiter fortführe. – – Und Mütterchen sagte, ich sollte heute den ganzen Tag mit niemand sprechen. Deshalb, lieber Prinz« – der Gedanke kam ihr augenscheinlich eben erst, wie gewöhnlich, zu spät – »mußt du fortgehen.«
Und sie legte den Finger an die Lippen. – – –
»Armes kleines Geschöpfchen!« murmelte Georg Evans. »Armes, kleines Geschöpfchen! Ich wünschte, sie wäre meine kleine Schwester: dann könnte ich ihr doch manchen hohen Berg abtragen helfen.«