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Drittes Kapitel.
Das Teufelchen von nebenan

»Karl,« sagte Frau Evans zu ihrem Gatten am nächsten Morgen, nachdem ihr Sohn sie verlassen hatte, um sich nach dem Krankenhaus, wo er angestellt war, zu begeben, »denke dir nur, wir haben vergangene Nacht einen Dieb in unserem großen Gewächshause gehabt!«

»Einen Dieb? Ei! Sieh da! – Woher weißt du das?«

»Weil meine Preisgeranie fort ist – ich meine, die Geranie, von der ich überzeugt bin, daß sie in der Ausstellung einen Preis erhalten hätte.«

»Bist du auch sicher, daß sie sich nicht in einem der anderen Treibhäuser befindet? John oder Jimmy könnten ja ihren Platz geändert haben, um ihr größere Wärme zukommen zu lassen.«

»Nein! Weder John noch Jimmy haben sie angerührt; sie haben selbst beide eifrig nach dem Blumentopf gesucht. John hat sie noch gestern abend in dem großen Gewächshaus auf dem alten Platz gesehen. Und heute früh vermißte er sie gleich und – und – –«

Eine Pause.

»Nun?«

»Wir glauben den Dieb zu kennen, ja, ich fürchte sogar, es ist kein Zweifel darüber.«

»Fürchten? Warum sollst du dich davor fürchten? Ich werde schon ein Exempel an ihm statuieren, davon kannst du fest überzeugt sein. Ich vermute, es ist derselbe Mann, der auch unser schönes Erdbeerbeet so furchtbar niedergetreten hat. Es ist ja in einer ganz abscheulichen Verfassung. Wer ist es denn – nun?«

»Es ist kein ›er‹, es ist – es ist eine ›sie‹!«

»Eine ›sie‹? Was in aller Welt meinst du? Eine Frau?«

»Nun, eine Frau gerade nicht. Es ist – es ist – die kleine Großnichte des Domherrn.«

»Die Großnichte des Domherrn Sinclair? Jener kleine, schwarzäugige Affe? Unmöglich! Sie könnte den schweren Blumentopf nicht allein fortgetragen haben, es sei denn, sie hätte Mitschuldige gehabt.«

»Sie muß es getan haben. Denn John sagt, die beiden Kinder sind auch auf dem Erdbeerbeet gewesen; es sind dort ganz deutliche Spuren von ihren kleinen Füßchen; und das Kindermädchen von Frau Sinclair hat unserer Köchin erzählt, daß die Kleine ihrer Mutter heute als Geburtstagsgeschenk eine wunderschöne rote Geranie überreicht habe, und daß das Kind nicht sagen wollte, woher sie dieselbe hätte, sondern nur dabei blieb, sie und das Engelchen hätten sich die Blume durch Arbeit verdient. Und nach der Beschreibung bin ich überzeugt, daß es die unsrige ist, die uns ›jener kleiner Teufel von nebenan‹ fortgenommen hat.«

»Barmherziger Himmel! Was für ein ungezogenes kleines Mädchen! – Denn natürlich hat jener Engel von einem Knaben nichts mit der Sache zu tun! Jedenfalls mußt du die Geranie zurückholen lassen; kleine Kinder dürfen nicht stehlen, selbst wenn sie die Großnichten von Domherren sind. Ich werde ihm sofort einige Worte schreiben.«

Und Herr Evans setzte sich an sein Pult mit sehr rotem Gesicht und einem gewissen Gefühl der Genugtuung, in dem Gedanken, daß er dem »gräßlichen, streitsüchtigen alten Domherrn« einen Schlag ins Gesicht versetzen konnte.

Frau Evans machte noch einige schwache Versuche, ihren Mann milder zu stimmen, obgleich sie auch für den jähzornigen Nachbar kein Wohlwollen empfand. Sie verhallten denn auch ungehört.

Der Brief, den Herr Evans schrieb und der nebenan große Bestürzung hervorrief, enthielt folgendes:

 

»Ehrwürden!

Ich bedaure sehr, gezwungen zu sein, Sie mit einigen Zeilen zu belästigen. Aber meine Frau vermißt eine schöne Geranie, und wir glauben, daß sie uns von ihrer kleinen Nichte gestohlen ist –«

 

»O, bitte, sage nicht gestohlen, Karl! Schreibe, aus Irrtum fortgenommen!« bat seine Frau.

»Ach, was, ein Dieb bleibt ein Dieb, Mary, darüber herrscht kein Zweifel! Ich habe mein ganzes Leben lang das Kind bei seinem rechten Namen genannt, und ich werde es jetzt auch nicht unterlassen. Und wenn dies nicht unseren stolzen Herrn Nachbar gründlich aus der Fassung bringt, will ich nicht Karl Evans heißen – was doch der Fall ist!« Und er fuhr zu schreiben fort:

 

»– und wir werden Ihnen zu großem Dank verpflichtet sein, wenn Sie uns die Blume wieder zurückgeben möchten, da sie für die Blumenausstellung des Gartenbauvereins bestimmt ist.

Ihr sehr ergebener

Karl Evans.

P. S. Ich hoffe, daß Sie unter diesen Umständen entschuldigen werden, wenn ich mich, statt durch meinen Rechtsanwalt, direkt an Ihre Adresse wende.«

 

Hier lächelte Herr Evans ingrimmig. Er dachte an eine gewisse unangenehme Korrespondenz, die er während des Hausbaues mit dem Domherrn geführt hatte. Der hochmütige Nachbar hatte es abgeschlagen, mit dem »Emporkömmling« persönlich in Unterhandlung zu treten und ihn ersucht, sich an einen Rechtsanwalt zu wenden. »Der Hieb wird sitzen!« bemerkte Herr Evans schadenfroh zu seiner Gattin. »Er wird jetzt wohl wünschen, daß er damals höflicher gewesen wäre.«

»Ach, Karl!« Und Frau Evans machte jetzt wieder ernste Vorstellungen. »Bitte, schicke doch diesen Brief nicht ab. Der Domherr soll auch seiner Familie gegenüber ein sehr harter Mann sein. Stelle dir doch vor, wenn es unser Georg gewesen wäre!«

»Ach was! Wenn Georg so etwas getan hätte, so würde ich ihn tüchtig durchgeprügelt haben. Und das wird der Domherr Sinclair seinem kleinen Teufel nicht einmal tun, trotz seiner Härte. Sende John sogleich mit dem Brief herum, und laß ihn auf die Geranie warten!«

Zehn Minuten danach wurde die Blume zurückgebracht nebst einer Entschuldigung von Frau Sinclair, aber ohne ein Wort der Erklärung.

Durch den originellen Verkehrsweg hörte Frau Evans, daß Frau Sinclair über die Pflanze entzückt gewesen wäre; sie hatte angenommen, der Onkel hätte sie für die Kleinen gekauft. Aber als es sich herausstellte, daß er unbeteiligt an dem Geschenk war, hätte sie wie vor einem Rätsel gestanden, bis ihr der Domherr in höchster Erregung das Dokument präsentierte. Und noch nie hatte die Nichte ihren Onkel so zornig gesehen wie jetzt. Und das wollte viel sagen!

»Dein Kind, Konstanze,« rief er empört, »scheint von einem Dämon von Leichtfertigkeit und Mutwillen beherrscht zu sein! Es ist ja ein wahrer kleiner Teufel! Du mußt sie augenblicklich von deiner Geburtstagsfeier ausschließen und ins Bett schicken.«

»Aber, lieber Onkel! Es muß doch eine Erklärung dafür geben!« wagte die arme, sehr betrübte Frau Sinclair schüchtern einzuwenden.

»Die Erklärung ist doch sehr offenbar!« entgegnete der ergrimmte Domherr scharf. »Da ich den Kindern ihr eigenes Geld wegnahm – und zwar aus gutem Grunde – so stahl sie vorsätzlich den Blumentopf – der Mann hat vollkommen recht mit dem, was er sagt, obgleich das das Wort natürlich nicht weniger beleidigend macht – um ein Geburtstagsgeschenk für dich zu haben.«

Frau Sinclair fühlte, daß sie nun nichts weiter als Entschuldigung für ihr Töchterchen anführen konnte, bis sie Daisy selbst gesprochen hatte, und wandte daher noch einmal alle ihre Überredungskünste auf, um das Nähere von dem Kinde zu erfahren. Aber sie erhielt keine befriedigende Antwort von der Kleinen: Daisy wollte nicht verraten, ob sie die Geranie gekauft hätte oder ob dieser Blumentopf Frau Evans gehörte, sondern gab auf alle Fragen nur immer dieselbe Antwort, »daß sie und Engelchen sie ganz allein verdient hätten«.

Frau Sinclair zweifelte nun auch nicht länger, daß die Geranie den verhaßten Leuten von nebenan gehörte, obgleich sie nicht begreifen konnte, wie sie in den Besitz der Kinder gekommen war. So blieb ihr denn nichts anderes übrig, als den Befehl zu erteilen den Blumentopf augenblicklich zurückzutragen und ihrem Onkel gehorsam zu sein, indem sie die arme kleine Daisy ins Bett steckte, damit sie dort den so freudig ersehnten Geburtstag von Mütterchen verbrachte.

Langsam und traurig verstrich der Morgen den Bewohnern des alten Dekanats. Frau Sinclair hatte den Kindern versprochen, mit ihnen in den Botanischen Garten zum Frühkonzert zu gehen und nachmittags den Geburtstag zu feiern, indem sie den Tee im Kinderzimmer servieren ließ. Aber diesen Plan gab sie nun auf. Sie gewann es doch nicht über sich, mit Engelchen allein auszugehen.


Während des zweiten Frühstücks erzählte Frau Evans, deren Gedanken noch ganz mit der Geranienangelegenheit beschäftigt waren, ihrem Sohne von den Begebenheiten der letzten vierundzwanzig Stunden.

»Barmherziger Himmel! Was habt ihr getan?« rief der junge Mann entsetzt; und Messer und Gabel hinwerfend und das Essen unberührt stehen lassend, stürzte er wie ein Wahnsinniger nach dem Treibhaus, in welchem die verhängnisvolle Geranie nun wieder ihren alten Platz behauptete. Die Pflanze zu ergreifen und dem Nachbarhause zuzustreben war eins; doch seine Eltern, die staunend seinen Bewegungen gefolgt waren, versuchten ihn zurückzuhalten.

»Du läßt die Blume hier, Georg!« schrie der Vater. »Hörst du, Junge?«

»Es ist meine Preisgeranie, die ich in die Ausstellung des Gartenbauvereins schicken will,« bat die Mutter.

»Hilft alles nichts,« rief Georg über seine Schulter zurück und ging mit großen Schritten davon, dabei eine solch entschiedene Haltung annehmend, daß seine Eltern wußten, jede weitere Vorstellung wäre doch vergebens.

Mit der großen Pflanze im Arm, zog er kühn die Klingel an der Vordertüre des Domherrn und bat, ihn bei Frau Sinclair zu melden.

Man teilte ihm jedoch mit, daß Frau Sinclair beim Frühstück wäre und daher bedaure, ihn nicht empfangen zu können; – ein Bescheid, der ihn nicht in Erstaunen versetzte. Aber der Gedanke an die kleine Daisy, die wieder in Strafe war, wo sie »nur gedacht hatte, etwas Gutes zu tun,« machte ihn beharrlich, und er bat noch einmal, Frau Sinclair in dringender Angelegenheit auf einige Augenblicke sprechen zu dürfen. Die Dame willfahrte nun seinem Wunsch, sehr gegen den Willen ihres Onkels, und empfing den Sohn des »unverschämten« Nachbarn.

Eine Viertelstunde danach trat der junge Mann wieder aus dem Dekanat heraus. Und obgleich er noch immer das »elende Ding«, wie er die Lieblingsblume seiner Mutter benannte, im Arme hielt, fühlte er sich ganz befriedigt.

Ebenso glücklich war Frau Sinclair. Unter Tränen lächelnd eilte sie nach oben, um ihre arme kleine Daisy aus ihrer Bettstrafe zu erlösen.

»Bitte, Mütterchen,« fragte Daisy, während Frau Sinclair sie ankleidete, »sage mir doch, wie es kommt, daß alle guten Dinge, die ich tue, immer schlecht werden?«

Frau Sinclair wußte hierauf jedoch keine genügende Erklärung zu geben. Deshalb umging sie die Frage, indem sie sagte: »Aber diesesmal ist zum Schluß doch noch alles gut geworden, mein Liebling. Wir werden unsere Geburtstagsfeier doch noch ausführen und werden nun alle nach dem traurigen Morgen desto größere Freude daran haben. Übrigens ganz richtig hast du doch nicht gehandelt, Daisy, denn du darfst natürlich nie Blumentöpfe von fremden Menschen annehmen!«

Nur der Domherr und Herr Evans fühlten sich unbehaglich, wenn auch aus verschiedenen Gründen. Herr Evans wünschte, er hätte seine Rachegelüste unterdrückt und diesen, wie er jetzt nur zu gut fühlte, ungerechtfertigten Brief nicht geschrieben; während der Domherr ganz entsetzt war über den Mangel an Ehrgefühl bei der kleinen Daisy, welcher durch ihre ruchlose, schändliche Methode, die Schnecken los zu werden, zutage getreten war. Indessen erhob er keine weiteren Einwendungen, sie an der Geburtstagsfeier teilnehmen zu lassen, und so endigte dieser Tag für die beiden Kleinen schließlich noch sehr glücklich.

Aber das »kleine Teufelchen« beschäftigte die Gedanken des jungen Arztes den ganzen Tag; es wurde ihm zu einem »interessanten Fall,« und als die Kleine abends nicht am Fenster erschien, fühlte er sich ganz enttäuscht. Am nächsten Tage jedoch stand seine kleine Freundin wieder oben und begrüßte ihn mit: »Guten Abend, lieber Prinz«.

Der junge Mann blickte hinauf und der winzigen Gestalt freundlich zunickend, antwortete er rasch zurück: »Guten Abend, Kleine – oh, ich wollte natürlich sagen, liebe Prinzessin – du siehst, ich habe ein schlechtes Gedächtnis. Es tut mir sehr, sehr leid, daß ich vergaß, die Sache mit der Pflanze richtig zu ordnen. Aber warum hast du denn deiner Mutter nicht die ganze Geschichte erzählt? Das würde all die Aufregungen erspart haben.«

»Aber« – und sie sah den jungen Mann vorwurfsvoll an, »aber ich konnte es doch nicht! Es war doch ein Geheimnis, und ich hatte dir versprochen, es nicht zu sagen.«

»Wie alt bist du eigentlich. Kleine?« fragte er.

»Ich bin beinahe schon sieben!« erwiderte sie mit wichtiger Miene.

Und der junge Mann ging beschämt davon.

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