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Sechzehntes Kapitel.
Eine nächtliche Orgie

In dem Schulzimmer saßen die Namensschwestern dicht nebeneinander, beide eifrig in eine Fibel blickend.

»Der Hund biß die Katze,« las die kleine schwarzhaarige Daisy fließend; fügte dann aber bestimmt hinzu: »Das glaube ich nicht!«

»Warum glaubst du das nicht?« fragte die goldhaarige Daisy verwundert.

»Weil der Hund nicht ein bißchen böse aussieht; und er sieht ja auch nicht einmal die Katze an. Und weshalb läuft sie denn nicht davon oder kratzt ihn, anstatt ganz ruhig sitzen zu bleiben, wenn er sie beißen will?«

»Vielleicht ist es nicht dieser Hund. Es kann ja auch ein anderer damit gemeint sein,« erwiderte Fräulein Grey geduldig.

»Warum steht denn aber nicht: ein anderer Hund biß eine andere Katze?«

»Nun laß das und fahre mit Lesen fort. Wie heißt dieser Buchstabe?« Dabei wies sie auf ein »d«.

Daisy, deren Gedanken ganz wo anders weilten, entgegnete gleichgültig: »Das weiß ich nicht!« um gleich darauf voll Eifer hinzuzufügen: »Meinst du, der Prinz hat jetzt schon meinen Brief bekommen?«

»Ich weiß nicht. Du sollst jetzt lesen. Das ist ein ›d‹.«

»Das mußt du nicht sagen. Das ist häßlich.«

»Häßlich? Warum soll ein ›d‹ häßlich sein?«

Daisy nickte verständig mit ihrem Köpfchen. »Doch. Es ist häßlich … Ich sagte einmal: ›Ich mache mir nicht ein »D« daraus, I don't care a ›d‹ (d = devil) ist ein Fluchwort. und da rief mein Prinz: ›Um Gottes willen, wo hast du das gehört? Sage das niemals wieder. Das ist sehr häßlich!‹«

»Das ist etwas ganz anderes,« erklärte Fräulein Grey. »Dies ist ein Buchstabe.«

»Nun, meins war doch auch ein Buchstabe.«

»Denke nicht immer an andere Sachen, sondern lies weiter. Do – du.«

»Do – do.«

»Nein, do – du.«

Ein Seufzer von Klein-Daisy. »Do – du. Ich wünschte, es wäre jetzt Zeit, mit Lernen aufzuhören. Findest du nicht, daß ich für heute schon klug genug bin?«

»Nein, das finde ich nicht. Du mußt jetzt noch diesen Abschnitt lesen: do, du, g– o, go.«

»Gu,« verbesserte die kleine Daisy.

»Nein, go – go. Die Buchstaben werden nicht immer gleich ausgesprochen.«

»Warum nicht?«

»Das weiß ich nicht.«

»Ich finde, du weißt überhaupt nicht sehr viel,« bemerkte Klein-Daisy etwas wegwerfend. Und nach einer kleinen Pause: »Gibt es viele Wörter auf der Welt?«

»Ja, viele tausende.«

»Viele tausende?« rief Klein-Daisy entsetzt. »Die werde ich ja nie lernen können. Dann aber« – und sie klappte energisch das Buch zu und sagte in bestimmtem Tone: »Dann will ich lieber gar nicht mehr lesen lernen. Denn Mütterchen hat mir gesagt, sie möchte nicht, daß ich etwas halb lerne; was ich lerne, soll ich stets ganz lernen.«

Fräulein Grey gab es vorläufig auf, Daisy von der Notwendigkeit des Lesenlernens zu überzeugen.

»Hier ist dein Schreibebuch,« sprach sie freundlich. »Schreibe nun diese Reihe ›Topfhaken‹ nach.«

»Was ist ein Topfhaken?« fragte Daisy, während sie sich abmühte, die Feder kunstgerecht zwischen ihren kleinen Fingerchen zu installieren. Sie verfolgte dabei ihre eigene Methode, die sicher in keiner pädagogisch geleiteten Erziehungsanstalt genehmigt worden wäre.

»Ein Haken, auf den man einen Topf hängt.«

»Was für einen Topf? Einen Blumentopf?«

»Ja, auch den, wenn du willst.«

Daisy entwarf das den Worten voranstehende Bild einer gründlichen Besichtigung. Dann sagte sie: »Das ist schon wieder ganz und gar nicht richtig, weil kein Blumentopf daran aufgehängt werden könnte, nicht einmal ein solch ganz ganz winziger, wie der, in dem mein Farnkraut wächst.«

»Daisy, du darfst nicht so zu mir sprechen. Es ist ganz gleich, welcher Art die Töpfe sind, die man auf diese Haken hängt; du sollst nur die Worte recht hübsch nachschreiben.«

»Bitte, ich möchte lieber nicht Sachen schreiben, die falsch sind.«

»Aber ich möchte es.«

»O–h, Goldhaar!« rief Klein-Daisy in entsetzten Tönen und mit weitgeöffneten Augen. »O–h, wie kannst du so etwas wollen?«

»Ich meinte nicht –,« versuchte Fräulein Grey verlegen zu erklären. – »Ich – meinte, es ist gleich, was ich meinte. Bemühe dich nur, diese Schreibübung zu machen; danach darfst du auch mit deinen Puppen spielen.«

»Mit meinen Kindern,« verbesserte Daisy würdevoll, während sie sich voll Eifer an ihre Aufgabe machte, da ihre Bedenken durch die Aussicht auf baldige Erlösung vom Unterricht sich legten.

»Aber Daisy, wie schlecht du die Abschrift gemacht hast!« rief die junge Lehrerin betrübt.

»Da es Worte sind, die etwas Falsches sagen, konnte ich sie auch natürlich nicht gut schreiben,« erwiderte die Kleine rasch, indem sie einen gleichgültigen Blick auf ihre Arbeit warf.

Fräulein Grey legte das Heft fort. Dann wandte sie sich wieder dem Kinde zu und fing es in ihren Armen auf.

»Nun komm, meine kleine Elfe! Mein blondes Haar wird bald grau werden, wenn du so fortfährst.«

»Wenn ich wie fortfahre?« fragte Daisy eifrig, während sie ihre Ärmchen fest um den Hals ihrer lieblichen Lehrerin schlang.

»Das brauchst du nicht zu wissen,« entgegnete Fräulein Grey, wohl zum hundertsten Male an diesem Morgen. »Das Leben ist zu kurz, als daß ich dir immer alles auseinandersetzen könnte. Wo sind denn die Puppen – ich bitte um Entschuldigung –, ich meine deine Kinder?« fügte sie lächelnd hinzu.

Und die beiden Namensschwestern begaben sich nun gemeinschaftlich in das Spielzimmer, wo die Puppenfamilie ihrer harrte.

Da jede Puppe dieselbe Aufmerksamkeit verlangte, wie ein wirkliches Kind, gewaschen, angekleidet und gespeist werden mußte, und da die Familie recht zahlreich war, so ertönte die Mittagsglocke viel zu früh.

»Mein Liebling, leider müssen Alma, Dodo und Tommy schon bis zum Nachmittag warten. Sie werden sich aber hier auf dem Sofa ganz behaglich fühlen. Gib nur Tommy eine Zeitung in die Hand, damit er sie den anderen vorliest, und die Zeit wird ihnen schon nicht lang werden,« sprach Fräulein Grey zu dem Kinde, als der Gong zum zweiten Male durch das Haus erschallte.

»Steht auch etwas Hübsches drin?« erkundigte sich Daisy besorgt, während sie einen zweifelnden Blick auf die Zeitung warf.

»Ja, etwas sehr Hübsches. Aber nun komm, Herzchen.« Und das junge Mädchen brachte die kleine zärtliche Puppenmutter halb mit Gewalt von ihren Lieblingen fort. – – – – – – – – – –

Gleich nach dem Mittagessen wurde eine Spazierfahrt unternommen, die sich bis zum späten Abend ausdehnte, so daß Daisy nach einem eilig eingenommenen Abendbrot sofort schlafen gehen mußte. Die armen Puppen blieben daher den ganzen Tag ohne Essen.

»Ich atme immer erleichtert auf, wenn das Kind im Bett ist,« bemerkte das älteste Fräulein Bryant mit einem Stoßseufzer zu ihrer Schwester. »Es ist der einzige Ort, wo sie keinen Unfug treiben kann. Mir ist schon zuweilen der Gedanke gekommen, Alice, ob es wohl lohnt, sie hier zu behalten, trotz des hohen Preises, den Frau Sinclair zahlt. Sie ist ein fürchterlich mutwilliges Kind, so ganz anders als sonst Kinder sind. Ich glaube fast, daß sie nicht ganz normal ist.«

Bei diesen Worten fuhr Fräulein Grey entsetzt auf und rief erregt: »Zweifellos ist Daisy ein Original, aber ich würde mich dafür verbürgen, daß ihr Geist nicht nur nicht den geringsten Mangel aufweist, sondern daß sie ein sehr begabtes Kind ist. Dazu«, fuhr das junge Mädchen weich fort, »ist sie auch noch ein ungewöhnlich zärtliches Geschöpfchen, und wenn man ihr nur mehr Verständnis und Liebe entgegenbrächte, würden ihre guten Eigenschaften sich schon aufs vorteilhafteste entwickeln.«

»Nun, da wird ihr ja hier die beste Gelegenheit geboten,« entgegnete Fräulein Bryant etwas spöttisch. »Denn du scheinst sie ja zu verstehen, und lieben tust du sie ja auch!«

»Ja, gewiß. Ich liebe die Kleine sehr,« gab Fräulein Grey lächelnd zu, »obgleich ich das von ihren Unterrichtsstunden nicht gerade behaupten kann.«

»Ich muß gestehen, daß ich außer stande bin, mich für sie zu erwärmen. Sie hat kein Herz,« bemerkte Fräulein Alice hart.

»Kein Herz?« rief das junge Mädchen aufs höchste erstaunt. »Das würden Sie nicht sagen, wenn Sie gesehen hätten, wie das Kind bitterlich weinte, weil Tom, der Puppenvater, zu seiner Tochter lieblos gewesen war; und dann tröstete und liebkoste sie die kleine Puppe in der zärtlichsten, fast mütterlichen Weise.«

»Sehr seltsam!« meinte das älteste Fräulein Bryant, aber ohne das geringste Mitgefühl. »Denn sie vergoß nicht eine einzige Träne, als ich ihr erzählte, daß sie Tulpenzwiebeln im Werte von hundert Mark vernichtet hätte und daß wir im nächsten Jahre deshalb keine hübschen Blumen haben würden. Simpson droht zu kündigen, wenn das Kind sich immer in seine Angelegenheiten mischt und noch mehr Schaden in den Gärten anrichtet. Er mag sie gar nicht leiden und nennt sie ›einen kleinen Teufel‹.


Gleich darauf rückten die beiden älteren Damen näher an den Tisch heran und vertieften sich in ihre Partie Pikett – ihre regelmäßige Beschäftigung bis zur Schlafenszeit.

Daisy Grey saß mit einer Handarbeit daneben. Aber zuweilen ließ sie ihre Hände ruhen und ihre Augen starrten mit sehnsüchtigem Blick in das Kaminfeuer.

Pünktlich um zehn Uhr begab sich das Trio zur Ruhe.

Es war sehr still in der Turmvilla. Kein Geräusch als das Anschlagen der Wellen gegen die Klippen störte das tiefe Schweigen der Nacht. Die Dorfbewohner suchten noch früher ihre Ruhestätte auf, als die Insassen der Villa. Nur dann und wann hallte der schwere Schritt eines spät von der Ausfahrt heimkehrenden Fischers durch die totenstille Dorfstraße.

An diesem Abend schliefen alle Bewohner der Turmvilla den Schlaf des Gerechten, als plötzlich ein lauter Krach, dann das Klirren von zerbrochenem Glase durch das Haus tönte. Gleich darauf folgte noch ein dumpfer, dröhnender Laut und dann das hastige Zuschlagen einer Türe.

Alle drei Damen fuhren entsetzt aus dem Schlafe in die Höhe und lauschten angsterfüllt.

Daß der Lärm aus dem Inneren des Hauses herrührte, war unverkennbar, und zwar aus den nach hinten gelegenen Räumlichkeiten – anscheinend aus der Küche, die auch die bequemste Gelegenheit bot, die Villa zu betreten.

Die beiden Schwestern, deren Zimmer nebeneinander lagen, waren in einer Minute beisammen, und gleich darauf gesellte sich ihnen Fräulein Grey zu, die den kühnen Vorschlag machte, sich nach der unteren Etage zu begeben, um der Sache auf den Grund zu kommen und, falls es nötig sein sollte, die Diebe zu ergreifen.

Bei diesem Gedanken schrien die beiden Damen Bryant ein Duett, und unter erneuten Angstrufen begannen sie die Türe zu verbarrikadieren, als von draußen lautes Klopfen und Jammern ertönte.

»Bitte, gnädige Fräulein, es sind nur ich und die Köchin. Und bitte, gnädige Fräulein, aus Barmherzigkeit, lassen Sie uns ein. Sie kommen schon die Treppe herauf!« klang es flehentlich.

Das älteste Fräulein Bryant riß die Türe auf und ließ die beiden verängstigten Dienstboten ins Zimmer. Dann, all ihren Mut zusammennehmend, sprach sie mit großer Feierlichkeit: »Alice, ich muß meinen Haushalt beschützen.« Damit ergriff sie aus einer Ecke eine alte Flinte, die dort schon seit Jahren für einen dringenden Notfall bereit stand, und so bewaffnet, spähte sie vorsichtig durch eine winzige Türspalte.

»Sie kommen!« rief sie flüsternd, als sie etwas Weißes auf dem Korridor erblickte. Dann schob sie die Flinte durch eine Ritze der Türe, – schloß die Augen und drückte ab.

Ein Aufflammen – ein Knall! Im nächsten Augenblick ertönte von dem Korridor der durchdringende, in Todesangst ausgestoßene Schrei eines Kindes.

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