Raoul Auernheimer
Metternich
Raoul Auernheimer

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»Freut euch des Lebens«

Die sanfte und innige Biedermeiermelodie »Freut euch des Lebens«, die dreißig Jahre nach der kriegerischen Marseillaise das friedliche Metternich-Zeitalter kennzeichnet, machte, so erzählt man sich, auf Rossini auf der Durchreise in Zürich großen Eindruck. Der gefeiertste Opernkomponist jener Zeit ließ sich den Schmachtlappen wiederholt vorspielen und summte den Text sinnend mit:

Freut euch des Lebens,
Weil noch das Lämpchen glüht.
Pflücket die Rose,
Eh sie verblüht.

Schließlich sagte der alte Melodienzuckerbäcker, damals schon mehr der Kochkunst als der Musik ergeben, »das merk' ich mir für meine neue Oper«. »Und in welcher Form, Maestro, wollen Sie die Melodie verwenden?« »Selbstverständlich als Trauermarsch«, war die schlagfertige Antwort des Tonkünstlers. Tatsächlich hat er dann auch in der Ouvertüre zu »Semiramis« davon Gebrauch gemacht. 318

Ein solcher Trauermarsch, auf das »Freut euch des Lebens« gesetzt, mag auch den letzten Teil der Lebensreise Metternichs, von achtzig abwärts bis zur Grube, musikalisch untermalen. Auch hatte es seinem Geschmack entsprochen. Rossini war sein Lieblingskomponist, und es unterliegt leider keinem Zweifel, daß er ihn Beethoven vorzog. Wie er ja auch, höchst bezeichnend, das Mittelgebirge den Alpen vorzog; für die Alpen hatte er gar nichts übrig. Die Oper »Semiramis« aber hatte er besonders gern und das schattenhaft an sein Ohr dringende »Freut euch des Lebens«, soweit er es noch hören konnte, hat er mit einem elegischen Lächeln jedesmal dankbar eingesogen.

Als das Exil sich in die Länge zog, es zog sich bedenklich in die Länge, stellte sich auch bei ihm heraus, was fast in jedem Falle zutage tritt: daß eine fertige Persönlichkeit in der Verbannung ungefähr dieselbe bleibt und daß man ihr nach einiger Zeit auch wieder die Stellung einräumt, die ihr zukommt. Im Exil muß man die Prüfungen, die man schon einmal bestanden zu haben glaubte, noch einmal ablegen. Besteht man sie, so läßt das Schicksal in der Regel mit sich reden und gewährt gnädig ein zweitesmal, was es schon einmal bewilligt hat. Überhaupt ergibt sich in der Emigration unweigerlich, was einer wert ist, und dementsprechend auch, was er an Wertschätzung verdient. Schließlich änderte sich nur die Adresse, aber nicht der Platz im Leben, den sie bezeichnete. Jeder wohnt wieder dort, wo er gewohnt hat. Die Hochmütigen stellen sich abseits, die Werktätigen verbinden sich. Die Drohnen bleiben Drohnen und die Bienen Bienen.

Von Brighton übersiedelte der exilierte Diktator nach Brüssel, wo er das Haus des Virtuosen de Blériot mietete. Im Handumdrehen, vom Feuer seines Geistes angefacht, wurde es zum Brennpunkt des konservativen Europa, das ja damals, ein Jahr nach 1848, in allen Ländern gleichzeitig die Reaktion in Gang setzte. Und fast alle Regierungshäupter, denen diese Sorge am 319 Herzen lag, wandten sich an den emeritierten Heilkünstler im Spital der Menschheit, wie er sich, schon wieder scherzend, neuestens gerne nannte, um Rat und Hilfe. Er stellte Diagnosen und verschrieb Rezepte wie eh und je. Allenfalls ordinierte er jetzt meistens schriftlich, das war der ganze Unterschied. Übrigens empfing er auch zahlreiche Besucher. Thiers, der an seiner berühmten »Geschichte des Konsulats und Empire« arbeitete, kam zu ihm, um sich seine unschätzbaren Erinnerungen anzueignen; Metternich stellte sie ihm bereitwillig zur Verfügung, erzählte ihm von Napoleon, was außer ihm niemand mehr konnte, und schrieb nach Wien, um ihm die Archive zu erschließen, wie er sie, Jahre zuvor, auch dem deutschen Historiker Ranke erschlossen hatte. Ein andermal besuchte ihn der Sozialist Louis Blanc, in dessen Schriften er sich soeben vertieft hatte. Er las noch immer viel, teils weil er seine Bildung auch mit Achtzig noch nicht als abgeschlossen ansah, teils aus Neugier und vielleicht sogar aus Hygiene, weil Lesen in einem gewissen Alter das beste Mittel gegen Verkalkung des Herzens wie der Seele ist. Die sozialistischen Theorien, so abgrundtief sie sich auch von seinen eigenen unterschieden, beschäftigten seinen Geist, und er ließ den Mann, der sie so geistreich zu entwickeln verstand, bereitwillig zu sich kommen. Melanie war wütend; sie beschimpfte den seltsamen Gast im Haus Metternich ausgiebig hinter seinem Rücken in ihrem Tagebuch. Metternich ließ sich durch ihren Zorn nicht anfechten. Er hatte Standesvorurteile, die ihm vollkommen selbstverständlich waren; aber er war nicht beschränkt.

Leider ergab sich trotz zunehmender Schwärze der österreichischen Politik noch immer keine Möglichkeit der Heimkehr für ihn. Daran war zunächst der Prozeß schuld, der gegen Metternich seitens des souverän gewordenen, wenn auch nicht gebliebenen Volkes angestrengt worden war. Er wurde des Amtsmißbrauchs beschuldigt. Die Badereisen und Kongresse 320 rächten sich dreißig Jahre später, Aachen, Verona, Laibach und so fort, besonders aber Aachen, wo man ja wirklich etwas übermütig gewesen war und für das Quartier bei Mademoiselle Bramertz, die berühmte »Loge«, in der man mit Dorothy glücklich wurde, einen unverhältnismäßig hohen Zins aus öffentlichen Mitteln bezahlt hatte. Das souveräne Volk fand, nicht ganz zu Unrecht, daß für derlei Auslagen der Steuerträger nicht unbedingt aufzukommen habe, und von da angefangen wurden längst verjährte Rechnungen nachgeprüft, was viele Monate in Anspruch nahm, und schließlich eine runde Summe von hundertzweitausend Gulden herausgerechnet, um die der kostspielige »Haus-, Hof- und Staatsminister« den Staat geschädigt, wenn nicht gar betrogen haben sollte. Der Fehlbetrag wurde später auf den fünften Teil herabgesetzt und am Ende auf Wunsch des jungen Kaisers Franz Joseph ganz gestrichen. Es erging der vom Fürsten Schwarzenberg, Metternichs Amtsnachfolger, formulierte Bescheid, daß es schmählich wäre, dem großen Mann, der sich unverjährbare Verdienste um Österreich erworben hatte, so kleinlich und armselig nachzurechnen. Das Verfahren wurde eingestellt, der Untersuchungsausschuß entlassen, die Sequestrierung des schönen Hauses am Wiener Rennweg aufgehoben. Freut euch des Lebens.

Das Schlimme war nur, daß all dies so lange dauerte und darüber die schöne, schöne Lebenszeit traurig verrann. Wie die meisten Emigranten mußte auch der alte Metternich die Erfahrung machen, daß ein Exil meistens viel länger dauert, als man vorher annahm. Drei Monate hatte er veranschlagt, als er Wien den Rücken kehrte, drei Jahre währte es am Ende, eh er wieder heimfand. Quand on est mort, c'est pour longtemps, sagen die Franzosen, die auch im Unglück Philosophen bleiben, und das gilt auch für die in der Fremde lebendig

Im zweiten Jahre begann der Tote etwas ungeduldig zu 321 werden. Das ist ja alles recht schön und gut, mochte er denken, ich bin ein großer Mann, ein großer Österreicher, besonders im Ausland, und hier in Brüssel bringt dies jeder, der sich vor mir verneigt, geziemend zum Ausdruck, vom belgischen König angefangen, der ja allerdings Ursache hat, denn er hat im Reden und Schreiben einiges von mir gelernt. Wo aber bleibt mein eigenes Land, wo bleibt Wien, das mich doch einmal, wenn ich nicht irre, zum Ehrenbürger gemacht hat?

Über solchen Gedankengängen wurde er vor Verdruß und Unlust ein bißchen krank. Er erinnerte sich plötzlich, daß er achtundsiebzig Jahre alt war, und legte sich mißmutig ins Bett. Sofort schrieb seine Tochter Leontine, ohne daß er darum wußte, nach Wien an die Erzherzogin Sophie, daß ihnen Papas Gesundheitszustand ernste Sorge mache, und gab zu verstehen, daß der alte Mann lieber in Wien sterben würde als in Brüssel. Man sieht: die Frauen, auch in der eigenen Familie, lassen ihn nicht untergehen.

Erzherzogin Sophie, von der man wußte, daß sie einigen Einfluß auf ihren Sohn, den Kaiser Franz Joseph, habe, gab einen heuchlerisch jesuitischen Rat: Fürst Metternich möge zurückkommen, aber nicht gleich nach Wien, zuerst nach Königswart auf sein Gut in Böhmen und von dort, etwas später, mit der Zeit, vielleicht . . . Sofort wurde der Alte wieder gesund. Er stand vom Bette auf, richtete sich noch einmal ungebrochen empor und ließ nach Wien wissen, er lehne es ab, sich wie ein Dieb durch die Hintertür ins Haus zu schleichen. Wenn man ihn haben wolle, müsse man ihn einladen, zurückzukehren. Man, das hieß natürlich der Kaiser.

Endlich, am 6. April 1851, erfloß das langverzögerte allerhöchste Handschreiben. Franz Joseph, in seinem unbeirrbaren Gefühl für Takt und Würde, schrieb nicht geradezu, der alte Herr möge nach Wien kommen, aber er brachte auf kaiserliche Weise zum Ausdruck, es wäre ihm erwünscht, Metternich 322 persönlich danken zu können für alles, was er für Österreich getan habe. Das genügte. Der Verbannte erklärte sich bereit heimzukehren. Doch ließ er sich, wahrscheinlich nicht ohne Absicht, noch ein halbes Jahr Zeit, es wirklich zu tun. Inzwischen empfing er im Schlosse Johannisberg, von dem er nun auch wieder Besitz ergriff, den Besuch Bismarcks, der sich zum Bundestag nach Frankfurt begab und im Vorbeigehen vorsprach. Der konservative Junker und der alte Legitimist verstanden sich vorzüglich. Der brudermörderische Gegensatz zwischen Österreich und Preußen, der im Kriege von 1866 gipfelte, trat erst später, von dilettantischen Nachfolgern sträflich zugespitzt, verhängnisvoll in die Erscheinung. Auf Johannisberg wäre Königgrätz zu vermeiden gewesen. Übrigens kam im gleichen Monat auch der König von Preußen, Friedrich Wilhelm IV., zum Mittagessen. Er war auf seine Art scharmant und erst zum Schlusse grob, als er ein schwarzrotgoldenes Tafeltuch entdeckte, dessen Farbenzusammenstellung er aus politischen Gründen »scheußlich« fand.

Dann, im Herbst des gleichen Jahres, trat der Vertriebene entschlossen die Heimreise in ein gottlob schon wieder reaktionäres Österreich an.

Es war eine triumphale Fahrt. An jeder Landesgrenze wurde er von einem anderen Minister erwartet, in jeder Landeshauptstadt von einem anderen König zu Tisch gebeten oder zum Übernachten genötigt. In Mannheim war er Gast der Großherzogin von Baden, in Stuttgart des Königs von Württemberg. In Ulm sah er sich vom österreichischen Gesandten und dem bayrischen Kabinettschef in Empfang genommen. Man ließ ihn ein geschmücktes Schiff besteigen, das ihn über Regensburg und Linz nach Wien brachte, an den in der milden Septembersonne traumhaft herüberglänzenden Burgen und Abteien der lieblichen Wachau vorüber, deren rötliche Weinhügel den Rheinländer Metternich an den Rhein 323 erinnern mochten. So holte ihn Österreich feierlich wieder ein, wie seinen eigenen Leichnam. Freut euch des Lebens!

*

Wenn Wien Metternich am Tage seiner Heimkunft nicht geradezu einen Fackelzug darbrachte, so unterließ man es sicherlich nur, um keine peinlichen Erinnerungen an ein verjährtes Kerzenflimmern hervorzurufen. Übrigens schien er zu gleichmütig, um Vergleiche anzustellen. Er war nicht rachsüchtig und um so weniger böse auf Wien, als er ihm niemals so recht gut gewesen war. Die Wiener konnten ihn beim besten Willen nicht enttäuschen. Und wieder konnte er vom Geist und Ungeist dieses Stadtwesens sagen, was er einst von Napoleon gesagt hatte: Ich habe ihn nie ganz ernst genommen.

Napoleon immer wieder, besonders jetzt, wo man nach dem Tode des Herzogs von Wellington der einzige überlebende Zeitgenosse jener heroischen Epoche geworden war. Der harthörig gewordene Greis, wie er jetzt nur noch nach innen horchte, sah sich auf Schritt und Tritt an seinen großen Gegner erinnert, nicht zuletzt auch durch sein eigenes Schicksal. Sein St. Helena war, daß er inmitten eines Europa, das durch dreißig Jahre Demokraten nur auf der Flucht gesehen hatte, eines Tages selbst vor den wildgewordenen Demokraten hatte fliehen müssen. Aber schließlich hatte ihn das Schicksal nach einer verhältnismäßig kurzen Prüfungszeit wieder laufen lassen, wahrscheinlich weil er doch kein Genie war. Die Höhe einer geschichtlichen Persönlichkeit ermißt sich an ihrem Sturz, und um wieviel tiefer und härter war Napoleon gefallen, der sich auf St. Helena nur noch an die Tage seines Glanzes erinnern konnte. Ihm aber, Metternich, war es gegeben, auch noch sein St. Helena zu überleben und in einem neuen Glanze darauf zurückzublicken. Sein verhältnismäßig sanfter Sturz endete 324 bequem in einem Wiener Polsterstuhl. Keine Tragödie, nur ein rührseliges Melodram, mit mildem Abendsonnenschein am offenen Fenster.

Statt eines einbändigen »Memorial« schrieb er achtbändige Memoiren, die er auch im Gespräch endlos wiederkäute. Eine seiner immer wiederkehrenden Lieblingsnummern war dabei, von den Geburtstagen Napoleons zu erzählen, die mitzumachen er als Pariser Botschafter verpflichtet gewesen war. Das war nicht immer angenehm und eben darum unvergeßlich. Der schlechtgelaunte Schlachtengott fing an solchen Tagen besonders gerne Streit an, und dann hatten seine Minister und Botschafter, besonders aber Metternich, nichts zu lachen. Aber wie sehr sehnte sich dieser mit zunehmenden Jahren nach jenen kaiserlichen Wutausbrüchen zurück, wie gerne hätte er sich noch einmal und immer wieder von Napoleon auszanken lassen. Er versank in Schweigen, was selten bei ihm vorkam, und daran merkten die anderen, wie sehr er den Kaiser Napoleon geliebt hatte, und wie unbedingt er sein Genie anerkannte.

Das Uralter lebt nur noch in der Erinnerung. Vielleicht ist es darum zu beneiden, weil das Leben schöner ist in der Spiegelung, wie es ja auch die Dichter genießen. Sogar das Exil wurde jetzt ein solcher Abglanz von ferne, und wenn der Heimgekehrte an einem silberigen Herbstmorgen im Garten seiner Villa auf dem Rennweg spazierte, wurde ihm, der sinnend stehen blieb, unversehens auch klar, was ihn nach Wien zurück gezogen hatte. Es waren die Blütensterne in den Oktober-Rabatten, die ihren Kinderaugenblick zu ihm aufschlugen. Es war die Erde, auf der er stand.

Sonst gar nichts.

*

Eines hatte er jedenfalls mit dem um so viel größeren Napoleon gemein: daß sie beide im Unglück noch gewachsen 325 waren. Der nachrevolutionäre Metternich, der als ein Weiser mit tausend Erinnerungen auch in den hohen Wölbungen seiner Staatsphilosophie nur noch spazieren geht, ist eine in ihrer Güte und Liebenswürdigkeit fast verehrungswürdige und, gemessen an seinen Nachfolgern, geradezu sittliche Erscheinung. Er hätte niemals, wie Fürst Felix Schwarzenberg, das Volk mit einer Konstitution betrogen, die nachher wieder aufzuheben schon im voraus sein fester Wille war. Und er hätte auch niemals über die Lippen gebracht, was Schwarzenberg sagte, als man ihm nahelegte, die ungarischen aufrührerischen Generäle zu begnadigen: »Eine Amnestie? O ja, warum denn nicht? Aber vorher werden wir ein bisserl hängen lassen.« Das war der Unterschied: Metternich war nie zynisch wie Schwarzenberg und im Verhältnis zu diesem beinahe liberal.

Das Menschliche in seinem Wesensbilde tritt in diesen späten Jahren immer deutlicher hervor. So, wenn er in einem Briefe den Vergleich zwischen dem alternden Mann und dem alten nachdenklich zieht. Der Alternde, sagt er, sieht in einem Garten nur die welken Blätter und sieht sie mit Unlust. Der Alte betrachtet auch sie noch mit Lust, weil auch aus ihnen neues Leben sprießen wird. Oder wenn er vierundachtzigjährig neben seiner damals zweijährigen Enkelin, der nachmaligen Fürstin Öttingen, auf dem Boden des Kinderzimmers sitzt, mit dem Kinde spielt und zu der gerührt zuschauenden Mutter, die sie beim Spiele überrascht, heiter bemerkt: »Also eigentlich bin ich zur Kindsfrau geboren.« Müssen nicht alle jetzt, was früher nur die Frauen durften: ihn lieb haben?

An äußeren Ehren fehlte es dem alten Herrn im Großvaterstuhle nicht. Melanie wurde gleich wieder nach allen Richtungen hin eingeladen, wie in London, Brighton, Brüssel und überall, und machte sogar, vergnügungssüchtig wie sie war, einen Ball in der Staatskanzlei, wo sie einst Hausfrau gewesen, 326 gefügig mit. Metternich freilich ließ sich entschuldigen und betrat das ehrwürdige Haus auf dem Ballhausplatz erst etwas später wieder, als nach Schwarzenberg ein unbedeutender Nachfolger dort eingezogen und dementsprechend sein eigener Einfluß wieder gewachsen war. Der junge Kaiser, der jetzt sein eigener Ministerpräsident ist, erweist seinem ehemaligen Lehrer wiederholt die Ehre, ihn um seine Meinung zu fragen. Er tut dann freilich selten, was der Alte rät, aber das hat auch wieder seine Vorteile. Denn so kann dieser von Fall zu Fall sagen: Ich hab' es ja gleich gesagt! – süßer Trost des hohen Alters.

Zu dem, was er gleich gesagt hat, gehört vor allem seine alte Lehre, daß Österreich unter keinen Umständen das Bündnis mit Rußland aus der Hand geben dürfe, was dann doch geschah und womit alles Unglück Österreichs beginnt. Ferner gehört hierher seine alte Rede, daß die »Prinzipien die Formeln der Wahrheit« seien. Diese Prinzipien aber sind für ihn das Ewige, das alle Regierungen bindet. Er glaubt nicht nur an eine geoffenbarte Religion, was jeder Fromme muß und tut, sondern auch an eine geoffenbarte Philosophie, womit dann allerdings sein Irrtum beginnt. Auch war es ganz vergeblich, dem völlig unphilosophisch veranlagten jungen Kaiser derlei begreiflich machen zu wollen. Hingegen gelang es dem weisen Alten am Ende doch noch, Napoleon dem Dritten seine im Anfang kriegerischen Gelüste durch Anerkennung seiner Kaiserwürde fürs erste abzukaufen. Wie den Onkel besiegte Metternich schließlich auch noch den Neffen und noch dazu auf dem unblutigen Schlachtfeld der Diplomatie, ganz ohne Leipzig. Ein doppelter Sieg also; denn nicht um Kriege zu entfesseln, um Kriege zu vermeiden, sind die Diplomaten da.

Kam der Krimkrieg, kam Cavour, der neue Stern, der zusammen mit Talleyrand, Bismarck, Disraeli und Metternich das Fünfgestirn der europäischen Staatskunst des neunzehnten Jahrhunderts ausmacht, und kam schließlich der immer 327 unvermeidlicher gewordene Zweikampf mit dem aufstrebenden jungen Italien. »Um Gotteswillen, kein Ultimatum«, sagte der sechsundachtzigjährige Metternich zum neunundzwanzigjährigen Kaiser Franz Joseph, worauf dieser trocken erwiderte: »Es ist gestern abgegangen.« Noch dazu übernahm der unbelehrbare junge Monarch kurz darauf den militärischen Oberbefehl, um die Schlacht bei Solferino persönlich zu verlieren. Es geschah auf echt österreichische Weise. Die blutige Schlacht war eigentlich gewonnen, aber der Kaiser, im Kriegshandwerk völlig unerfahren, verlor beim Anblick der vielen Leichen und Verwundeten die Nerven und befahl einen überstürzten Rückzug, aus einer Stellung, die zu halten war. Die Italiener blieben verwundert stehen. Sie hatten gesiegt, ohne es zu merken.

Metternich trug dieser unglückliche italienische Feldzug noch eine letzte Ehre ein, wie sie keinem österreichischen Staatsmann vor oder nach ihm jemals zuteil geworden war. Franz Joseph, im Begriffe an die Front abzugehen, störte mit kaiserlicher Rücksichtslosigkeit den Morgenschlummer des Uralten, um ihn zu ersuchen, sein, des Kaisers, Testament abzufassen. Metternich, ein treuer Diener Habsburgs bis zuletzt, tat es; und so ist er, ein Lebenskünstler bis zuletzt, mit dem Testament eines anderen beschäftigt, unversehens selbst aus dem Leben geschieden.

Seine allerletzten Tage sind ein wundervolles Adagio, untermalt vom Donnergrollen des fernen Krieges, dessen schmerzliches Ende er nicht mehr zu erleben brauchte. Kein Feind kam ihm mehr nahe. Verklärende Schilderungen seiner treuesten Bewunderer, des Grafen Hübner und seiner Enkelin Pauline Metternich begleiten seinen Heimgang in die Ewigkeit.

Hübner, als Botschafter in Paris bei Ausbruch des Krieges eben abberufen, besucht den greisen Staatskanzler. Sie gehen zusammen im Park der Villa spazieren und der alte Herr stützt sich im Gehen auf den jungen, wobei diesem schmerzlich 328 auffällt, wie federleicht der Arm geworden ist, der ein halbes Jahrhundert lang Europa regiert hat. Sie reden von der Vergangenheit, dem Paradies der alten Leute, und zusammenfassend sagt Metternich, wahrscheinlich zum tausendstenmal: »Ich war ein Fels der Ordnung«. Damit verabschiedete er für diesmal seinen Gast, der aber, in einer Art Vorgefühl, die Tür des Arbeitszimmers noch einmal leise aufklinkt, um einen letzten Blick des wächsern gewordenen Antlitzes zu erhaschen. Metternich muß darauf gefaßt gewesen sein, denn bereits am Schreibtisch sitzend, die Feder in der Hand, nickt er seinem jungen Freund noch einmal zu und wiederholt, wie ein Schauspieler bei der Generalprobe den Aktschluß: »Ein Fels der Ordnung.« Ein Strahl der Maiensonne, behauptet Hübner, habe dabei sein Antlitz belebt und verschönt. Rührend. Damit aber auch die Ironie nicht fehle, die die Sentimentalität gern an der nächsten Ecke erwartet, mag man sich von ungefähr erinnern, daß der erst später gegrafte Hübner, wie wispernd behauptet wird, der außereheliche Sohn Metternichs gewesen sein soll. Die Versicherung, daß er ein Fels der Ordnung war, tritt dadurch in eine gleichfalls verklärende Maiensonnenbeleuchtung, die wir dem alten Knaben gönnen wollen.

Sachlicher und ebendarum ergreifender liest sich die Schilderung, die Pauline Metternich von der Stunde seines Abscheidens gibt. Sie war zugleich Enkelin und Schwiegertochter des Staatskanzlers, eine Frau von Rasse und Geist, die ebenso alt wurde wie er und, aus seiner Schule hervorgegangen, eine Art Diktatur über die Wiener Gesellschaft des franzisko-josephinischen Zeitalters herrschsüchtig ausübte. Damals eine blutjunge Frau noch, wurde sie um elf Uhr vormittags an Großpapas Sterbebett gerufen. Großpapa hatte sich, wie an jedem Tage, früh morgens erhoben, dann aber wieder vom Diener zu Bett bringen lassen, weil er sich nicht recht wohl fühlte. Der Diener verständigte den Arzt, der Arzt, es war sein treuer Doktor 329 Jäger, der jeden Tag »nachschauen« kam, den Beichtvater. Es war ein Franziskaner, der auch sonst täglich um diese Zeit in der Hauskapelle die Messe las. Metternich, der bei vollem Bewußtsein war, erklärte sich mit seinem Besuch freudig einverstanden, vielleicht lag ihm nach den letzten Kriegsnachrichten, die er noch gewissenhaft gelesen hatte, etwas weniger daran, aus dieser Welt zu scheiden. Mittlerweile schloß sich der Familienkreis enger um das Bett; mit Ausnahme seiner guten. gesellschaftsfrohen Melanie, die ihm im Tode artig vorangegangen war wie alle seine Frauen, und seines älteren Sohnes Richard waren alle anwesend, auch ein paar Freunde waren bestürzt herangeeilt.

Großpapa lag mit weitoffenen blauen Augen wachsam da, und es entging ihm nichts, was rund um ihn vorging, auch nicht, daß sein jüngerer Sohn Lothar, der am Fußende des Bettes stand, das Gesicht schluchzend verzog. Mit einer liebevollen, nur noch gehauchten Handbewegung gab der Abscheidende zu verstehen, daß er sich beruhigen möge. Etwas später griff Doktor Jäger nach seinem Puls. Sie werden ihn vergeblich suchen, flackerten die Fingerspitzen des augenscheinlich noch immer zu kleinen Scherzen aufgelegten Greises. Dann schloß er rücksichtsvoll die Augen; und nach einer Weile hob sich die eingefallene Brust nicht mehr.

Man sagt, daß der Ertrinkende sein ganzes Leben noch einmal wie im Fluge überschaut. Aber ist nicht jeder Tod bei ungetrübtem Bewußtsein der Tod eines im Unendlichen Versinkenden? Und trifft nicht ein jeder in solcher Lage noch eine allerletzte zärtliche Auswahl?

Was bewährte sich ihm als unvergeßlich?

War es sein großes Gespräch mit Napoleon im Marcolini-Palast zu Dresden? War es Dorothy, die ihm aus unendlicher Ferne ins Ohr flüsterte: Willst du nicht der andre Baum sein? War es das ewige Sorgenkind Europa oder der nach 330 Seifenblasen haschende kleine Richard, der jetzt, obwohl er doch sicher auf dem italienischen Kriegsschauplatz weilte, merkwürdig schattenhaft verschmolz mit dem am unteren Bettpfosten lautlos weinenden Lothar, dem viel zu jungen Sohn des sterbenden alten Mannes?

Ja, darauf kam es nun wohl an, am Ende: Was wichtiger war, Europa oder die Seifenblase? Aber die Frage blieb, wie gewöhnlich, unentschieden, weil derjenige, der sie so scharfsinnig stellte und so glücklich formulierte, soeben aufgehört hatte zu atmen.

 


 


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