Raoul Auernheimer
Metternich
Raoul Auernheimer

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Minister der Koalition

Es fehlte Metternich zeitlebens nicht an Selbstbewußtsein, das nicht immer angenehm und manchmal sogar etwas lächerlich wirkte. So sagte er in späteren Jahren einmal, seine Laufbahn selbstgefällig überblickend, zu dem französischen Staatsmann Guizot: »Ich habe mich nie geirrt!« Das wäre schlimm, wenn es wahr wäre; denn was für ein unlebendiger Mensch müßte das sein, der nie geirrt hätte. Aber zum Glück ist es nicht wahr. Metternich hat sich wiederholt geirrt, wie gerade die Geschichte dieser seiner dramatischesten Jahre, zwischen 1812 und 1815, deutlich beweist.

Er rechnete mit einem sicheren Sieg Napoleons über Rußland. Erster Irrtum. Dann rechnete er mit der Möglichkeit eines baldigen Friedensschlusses. Irrtum Nummer zwei! Dann mit der Denkbarkeit der Erhaltung der napoleonischen Dynastie auf dem französischen Kaiserthron. Dritter Irrtum, an dem er so zähe festhielt, daß man sich fast verwundern muß. Metternich, der Mann der Ordnung, und Napoleon, der »Sohn der Revolution«! Und dennoch stützt er ihn, hält ihn die längste Zeit sogar gegen die Bourbonen, das angestammte Herrscherhaus! Aber das eben war es. Sie waren angestammt gewesen, 113 bis die Revolution sie verjagt hatte. Jetzt aber war Napoleon die legitime Macht geworden, jetzt war er die bestehende Ordnung. Metternich war immer fürs Legitime und stets für die Ordnung und hatte als der Vertreter der konservativsten Macht in Europa einen ausgesprochenen Widerwillen gegen Thronwechsel. Das kam dem mit einer Habsburgerin verheirateten korsischen Usurpator jetzt noch geraume Zeit zustatten. Während die verbündeten Heere im Winter und Frühling 1814 immer näher sich an Paris heranfochten, hielt Metternich unverbrüchlich an seiner Ansicht fest, daß der Schwiegersohn des Kaisers Franz und dessen Frau auch weiterhin in Frankreich regieren müßten. Und als es schließlich so weit war, daß Napoleon abgesetzt werden mußte, war es Talleyrand, nicht er, der die Bourbonen wieder auf den Thron brachte.

Zur Entschuldigung dieser Irrungen Metternichs läßt sich zweierlei anführen: einmal daß es nur Irrgänge des Weges, nicht des Zieles waren, das ihm unverrückbar und klar vor Augen stand; des Zieles nämlich, eine auf Grundsätzen des Gleichgewichts beruhende europäische Ordnung dauernd aufzurichten – mit Hilfe Österreichs natürlich. »An Österreich sind Gegenwart und Zukunft geknüpft«, drückte Gentz diesen Metternichschen Gedanken aus. Ferner spricht für Metternich, daß er, wenn er schon irrte, seinen Irrtum wenigstens rechtzeitig einsah. »Entwicklungen, die man nicht aufhalten kann, muß man wenigstens zu leiten trachten«, sagte er, als er sich schließlich vor den Toren von Paris mit der Rückkehr des im Exil faul und fett gewordenen Ludwig XVIII. abfand. Metternich, als ein konservativer Politiker, schwamm, in einem Revolutionszeitalter, oft genug gegen den Strom. Aber wenn es nicht anders ging, schwamm er auch mit dem Strom – ans konservative Ufer hinüber. 114

*

Das diplomatische Ergebnis der großen Unterredung im Marcolini-Palast zu Dresden war gewesen, daß Napoleon Österreich seiner Bündnispflicht in aller Form entband. Kaiser Franz atmete hörbar auf. Er wollte mit seinem Gewissen im reinen sein, bevor er dem Schwiegersohn in den Rücken fiel. Diese seelische Erleichterung verschaffte ihm der kluge Metternich. Napoleon konnte ihn jetzt nicht mehr des Verrates zeihen, wie er es noch am Beginne der Unterredung in Dresden getan hatte. »Wieviel haben die Engländer Ihnen dafür gegeben, Graf Metternich, daß Sie mich verraten?« soll er den Österreichischen Staatskanzler gefragt haben. Das ist sicher nicht wahr. Aber wahrscheinlich hatte er es sich in irgendeiner Form gedacht, und dieser Gedanke, dieser bittere Verdacht, mag den Unterton des Gespräches vom ersten Wort an mitbestimmt haben; auf die Untertöne kommt es in derlei Fällen an.

Kaum war Metternich der Verratsbeschuldigung von dieser Seite entronnen, als er sich auch schon von der anderen Seite den gleichen Vorwurf gefallen lassen mußte. Die Alliierten, die sich jetzt immer fester verketteten, kreideten ihm an, daß er die bis zum 20. Juli vereinbarte Waffenruhe selbstherrlich bis zum 10. August erstreckte. Im norddeutschen Lager zumal schrie man Zeter und Mordio, da man die Kriegserklärung Österreichs auf Grund der Reichenberger Abmachungen am 20. Juli mit Sicherheit erwartet hatte. Doch blieb sie aus. »Der treulose Österreicher« brüllten und zischten nun die Teutomanen, auf die Metternich fast ebenso schlecht zu sprechen war wie sein großer Zeitgenosse Goethe.

Metternich ließ sie brüllen und verdächtigen, wie es ihre Art war und ist. Er hatte Wichtigeres zu tun, um den Sieg im voraus, so gut es anging, sicherzustellen. Er mußte dem österreichischen Oberkommandierenden, Fürst Schwarzenberg, die Möglichkeit sichern, seinen Aufmarsch im österreichischen Tempo, das nun einmal nicht das napoleonische war, mit 115 Umsicht durchzuführen. Und er mußte der Koalition weitere Bundesgenossen gewinnen, um ihr in immer zunehmendem Maße das militärische Übergewicht zu gewährleisten.

Zur Zeit, wir schreiben Sommer 1813, gab es immer noch den Rheinbund, die napoleonische Gewaltschöpfung, und diesem Rheinbund gehörte unter anderem auch Bayern an, der größte der in Betracht kommenden Bundesstaaten, dessen Beherrscher Napoleon sich außerdem auch persönlich verpflichtet hatte, indem er ihn zum König erhob oder erniedrigte: bayrischer König von Napoleons Gnaden.

Diesen neuen König nun kaufte sich Metternich. Es war kein leichter Handel; Bayern war teuer. Allein Metternich war in Geberlaune und zahlte jeden Preis. Er versprach für die Salzburger Grenzberichtigung weitgehende Entschädigungen am linken Rheinufer und die volle Souveränität Bayerns im Falle jeder wie immer gearteten Neuordnung im deutschen Raum. Bayern ließ sich bereden. Es trat aus dem Rheinbund aus, der damit endgültig zusammenkrachte. Die kleineren Randstaaten, Baden und Württemberg, waren unter dieser Voraussetzung um so leichter zu überwältigen.

Bayern, das noch 1809 an der Seite Napoleons gefochten und sich als Lohn das österreichische Tirol geholt hatte, war also gewonnen und die neuerliche Einverleibung Tirols in das Kaisertum Österreich damit zugleich angebahnt. Das war ein großer Erfolg Metternichs, der noch überdies den Nebenvorteil einbrachte, daß er sich durch die neue Freundschaft mit Bayern ein Gegengewicht gegen Preußen schuf. Die zugestandene reichsdeutsche Souveränität Bayerns erwies sich fünfzig Jahre später als das größte Hindernis für die von Bismarck schließlich erzwungene Einigung des Deutschen Reiches, die ja Metternich um jeden Preis verhindern wollte und, solang er lebte, auch tatsächlich verhinderte. Dabei war es weniger die Einigung, die er fürchtete, als der Einiger. Der preußische 116 Soldatengeist erschien ihm, wie sich später herausstellte nicht eben mit Unrecht, als eine gesamteuropäische Gefahr.

Nach dem bayerischen Zug auf dem europäischen Schachbrett galt es, noch einen andern Bauer vorzurücken, und das war die Schweiz, die man für die sich vorbereitende militärische Entscheidung dringend benötigte. Alexander von Rußland wünschte ihre Neutralität grundsätzlich zu wahren, obwohl sich diese bisher nur als ein »Automat in der Hand Frankreichs« erwiesen hatte. Er hatte liberale Grundsätze – im Ausland – und ließ sich gern zu unüberlegten Versprechungen aus Gefallsucht verleiten. Metternich, der etwas ganz anderes als Alexander wollte, sah sich daher vor die diplomatisch reizvolle Aufgabe gestellt, zugleich den autokratischen Zaren und die demokratische Schweiz zu beschwindeln. Es gelang ihm.

Die Schweiz lebte dazumal noch in einem höchst ungeordneten demokratischen Zwischenzustand. Man glaubte ihr, die geographisch den Kern eines feudal gegliederten Europa bildete, noch nicht so recht, daß sie so demokratisch wäre, und sie selbst war noch nicht vollkommen davon überzeugt. Übrigens gilt dies zum Teil noch heute. Die Schweiz, die die älteste europäische Demokratie ist – und genau genommen die einzige –, weist auch noch Reste der ältesten europäischen Aristokratie auf. Als ich einmal eine Basler Dame, die mich in ihrem Haus im Münsterviertel herumführte, fragte, wie alt die Grundanlage des festgegliederten Gebäudes wohl sein mochte, gab sie mir im schleppenden Schweizerdeutsch bescheiden zur Antwort: »Etwas älter als die habsburgische Dynastie.« Also ungefähr siebenhundert Jahre.

Diese auf der granitenen Grundlage einer uralten Aristokratie beruhende Schweizer Demokratie ist auch durch die Bodenbeschaffenheit des Landes mitbestimmt, wie jede Staatsform. Griechenland war durch die reiche Gliederung seiner Küste zur Kleinstaaterei verurteilt und die Schweiz durch ihren 117 unzugänglichen Hochgebirgscharakter gegen eine zu weit gehende Gleichmacherei gesichert. Denn zwar wohnt, wie ein schöner Vers besagt, »auf den Bergen die Freiheit« – aber doch nur für jene, die hinauf gelangen. Und das waren in früheren Jahrhunderten die Luzerner, die Fribourger, die Berner Aristokraten.

Mit diesen nun verbündete der Aristokrat Metternich sich gegen das nördliche Flachland, durch das einzumarschieren er entschlossen war. Er zettelte, er »finassierte«, er war »ein anderer in Zürich und ein anderer in Bern«, und schließlich erzwang er den Durchmarsch mit der Begründung, daß es die Mehrzahl der Schweizer Bevölkerung so wünschte. Es wurde, wie in solchen Fällen üblich, nicht genau nachgezählt. Aber eines Tages stieß Schwarzenberg durch die »Burgundische Pforte« nach Frankreich vor und bedrohte die napoleonischen Armeen von der Flanke her, worin das Um und Auf aller Kriegskunst besteht. Alles in allem handelte Metternich damals nicht viel anders als Deutschland im August 1914; allerdings ohne Blutvergießen, was immerhin einen Unterschied ausmacht. Er war nicht rücksichtslos, sondern setzte sich in schonender Weise über das Völkerrecht hinweg.

Nebenher schuf er dazumal, zwischen Bern und Zürich, beide betrügend und gegeneinander ausspielend, doch die dauernde Grundlage des in zweiundzwanzig Kantone gegliederten Landes. Die Souveränität der Schweiz geht auf ihn zurück. Sie war die Gegengabe des Autokraten Metternich für den nur halb freiwilligen, halb erzwungenen Durchmarsch.

*

Am ersten Januar 1814 gingen die verbündeten Armeen über den Rhein, und nun wurde Metternich, der den Feldzug im Hauptquartier mitmachte, immer mehr der »Minister der Koalition«, wie er sich selbst nicht ohne einen schweren Seufzer 118 nannte. Vorher hatte er eine große Genugtuung erlebt. Nach der Schlacht bei Leipzig, dem »Gottesgericht«, wie die alliierten Sieger sagten, hatte ihn der Gemeinderat der Stadt Wien zum Ehrenbürger ernannt. Eine festliche Kantate auf dem Ballhausplatz, unter den Fenstern des jetzt von ihm bewohnten Kaunitzpalastes, unterstreicht den Akt mit dem üblichen »Heil dir, der du« und allerhand allegorisch-symbolischen Zutaten, die den Triumph seiner Staatskunst verherrlichen. Nach allem, was vorangegangen war, der Gegnerschaft, deren sich seine Politik in allen Kreisen der Wiener Gesellschaft ausnahmslos zu erfreuen hatte – die Wiener Patrioten hatten ihm zuerst vorgeworfen, daß er die Kaisertochter an Frankreich verkauft hatte, dann, daß er Deutschland verkaufte, zuletzt, daß er Napoleon im Stich ließ, weil er sich selbst an England verkauft hatte –: nach alldem mochten diese ebenso stürmischen wie plötzlichen Ehrungen ihm eine bittere Genugtuung bedeuten. An seinem Verhältnis zu Wien haben sie nicht viel geändert. Er hat Wien nie recht leiden mögen und nie sehr viel nach seiner immer um einen Schritt hinter den Tatsachen zurückbleibenden Meinung gefragt.

An Genugtuungen hatte es dem Minister der Koalition auch nicht im Hauptquartier der Koalliierten gefehlt. Eine der verschwiegensten war, daß die schöne Herzogin von Sagan den Vormarsch nach Paris im Gefolge der Souveräne gewissenhaft mitmachte, man weiß nicht recht, ob mehr als eine Marketenderin der Liebe oder aus politischer Neugierde. Aber davon abgesehen hatte Metternich in diesen Tagen und Nächten, die der Absetzung Napoleons vorangingen, nichts zu lachen. Die Alliierten untereinander vertrugen sich nicht eben zum besten, was dem militärischen Genie Napoleons immer wieder strategische Vorteile sicherte, die er gewaltig ausnützte. Blücher, dessen unorthographische Sprechweise und hanebüchene Trockenheit dem feinen Metternich arg auf die Nerven gingen, 119 prellte immer wieder allzu stürmisch vor, Schwarzenberg hielt allzu bedächtig zurück, Alexander wollte durchaus Schlachten kommandieren und die Bourbonen wieder einsetzen, so daß Frankreich ein für allemal von ihm abhängig wäre. Gerade das wollte Metternich vermeiden, der zeitlebens nichts so sehr fürchtete als eine zu weit gehende Verständigung Frankreichs und Rußlands über die beiden Köpfe des Doppeladlers hinweg. Darum unter anderem war er für Napoleon und gegen die Bourbonen. Hätte es ihm nur Napoleon selbst nicht so schwer gemacht, für ihn zu sein! Aber es war wirklich nicht mehr mit ihm auszukommen, wie mit jedem Diktator auf einer gewissen Stufe seiner Entwicklung. Er war wie mit Blindheit geschlagen und von aller Vernunft verlassen. In Teplitz, bevor es zum Bruch mit Österreich kam, hatte man ihm nichts angesonnen, als sich aus dem Rheinbund und aus Italien zurückzuziehen; er hatte von »Entehrung« gesprochen. In Frankfurt, schon nach der Schlacht von Leipzig, hatte man ihm – man, das war Metternich – immer noch die natürlichen Grenzen Frankreichs, Rhein und Pyrenäen, großmütig angeboten, und wieder redete er von »Entehrung« und bestand auf den Teplitzer Bedingungen. Dann, auf die innere Linie zurückgedrängt, mit dem Rücken gegen Paris um sein Leben fechtend, konnte er, auf dem Kongreß von Châtillon, immer noch ein Frankreich innerhalb der »historischen Grenzen« von 1792 haben und – lehnte ab, weil er mittlerweile zu seinem Unglück einige kleinere, aber bravouröse Siege, bei Brienne und La Rothière, errungen hatte. Jetzt hätte er sich mit den Frankfurter Friedensbedingungen, Alpen und Pyrenäen, allenfalls einverstanden erklärt, doch jetzt, in Châtillon, gestand Metternich sie nicht mehr zu. Und so wird eben weitergekämpft, weitergeblutet – immer siegreich versteht sich. Liest man die von ihm nach Paris gesandten Depeschen aus diesen letzten Wochen des Empire, so ist Napoleon von Sieg zu Sieg geeilt; was in gewissem Sinne 120 sogar tatsächlich der Fall war. Er hat sich, was in der Kriegsgeschichte vorkommt, in dem erschöpften Lande buchstäblich zu Tode gesiegt.

Marie Louise, von ihrem Schicksal noch nicht aufgerufen, spielte inzwischen in Paris die undankbare Rolle einer »Regentin«, die als solche gar nichts zu sagen hatte. Sie übernahm zehn erbeutete Fahnen, wobei sie sich erinnern mochte, daß sie noch fünf Jahre vorher in der Wiener Stephanskirche mit glühenden Wangen einer Fahnenweihe gegen den Erzfeind, der jetzt ihr Mann war, beigewohnt hatte. Oder: sie fertigte an die von der Invasion bedrohten Städte Handschreiben ab, worin sie die Aufstellung einer Nationalgarde anregte. Dazwischen schrieb sie wohl auch hin und wieder bewegliche Briefe an den immer näher heranrückenden »très cher Papa«, der verlegen hinhaltend antwortete, was Metternich ihm vorsichtig eingab. Eine undankbare Aufgabe für die blutjunge Frau, zumal auch ihr Mann sich ihre Bemühungen in dieser Richtung mürrisch verbat. »Je ne veux pas être protégé par ma femme.« Nun, dafür beruhigte sie ihn noch zwei Wochen vor dem endgültigen Zusammenbruch mit dem hochgemuten Satz: »Tout Paris est rempli de bonnes nouvelles«, was gewiß etwas übertrieben war. Gleichzeitig beschwört sie den »très cher Papa«, doch endlich einen vernünftigen Frieden zu machen »et de ne pas sacrifier l'Europe entière à l'avidité de l'Angleterre«. Wir kennen diese Töne. Und wir kennen auch die Prahlsucht im letzten Stadium der Schwindsucht, mit der sie den Verzicht auf Antwerpen namens Napoleons weit zurückweist: »Rien ne l'amenera de céder l'Anvers.« Wenige Wochen vorher hatte ihr Napoleon vom Felde aus nahelegen lassen, auf die geplante Beteiligung an einer Wallfahrt zur heiligen Genoveva zu verzichten; das Miserere, schrieb er, würde zur Zeit in Paris einen katastrophalen Eindruck machen. Man sieht, die Stimmung schwankt. 121

Ende März schwankt sie nicht mehr. Napoleon macht einen letzten ebenso kühnen wie verzweifelten Versuch, seinen Feind von hinten zu packen, indem er vor dem Heranmarschierenden seitlich bis an die Marne zurückweicht. Aber schon hat er Anordnungen getroffen, wohin seine Frau und sein Kind im Falle der Räumung von Paris sich zu begeben hätten. Er will seinem Sohn »das Schicksal des Astyanax ersparen, der den Griechen in die Hände fiel«. Und er sucht den Tod in der Schlacht – ohne ihn zu finden.

Militärisch und politisch zieht das Netz sich immer engmaschiger zusammen. Der Baron von Vitrolles, im Einverständnis mit Talleyrand, hat sich durch die feindlichen Linien hindurchgeschlängelt und ist mit dem Grafen von Artois in Verbindung. Castlereagh, Nesselrode, Hardenberg und Metternich empfangen ihn im Hauptquartier und hören an, was ihnen Talleyrand übermitteln läßt. »Talleyrand«, äußert der brave Sendbote, »ist in seinem Herzen immer für die Bourbonen gewesen.« »In seinem Herzen?« erkundigt man sich spöttisch, vielleicht war es Metternich, der so ironisch fragte. Und Vitrolles verbessert sich unter allgemeinem Gelächter: »In seinem Kopf wollte ich sagen.«

Metternich gibt in der Bourbonenfrage schließlich nach. Am 11. April 1814, wenige Tage nach dem russischen Zaren, der bei Talleyrand abgestiegen ist, trifft er in Paris ein, wo es, so berichtet eine Memoirenschreiberin, die ihn dabei überrascht haben will, sein erstes war, seine im Feld etwas verwahrloste Frisur auffrischen zu lassen. Napoleon abgedrängt, geschlagen, verraten und verkauft, taumelt, fällt und stürzt. Metternich, im Frisiermantel vor dem Ankleidespiegel thronend, läßt sich Locken brennen. Und dann diktiert er den Pariser Frieden. Wahrhaftig, die Weltgeschichte sorgt für Antithesen. Ja sie besteht, genau genommen, aus nichts anderem.

Damals, in diesen Apriltagen des Jahres 1914, muß es auch 122 gewesen sein, daß der alte Blücher, der die ungebildete Ausdrucksweise, aber auch das gesunde Urteil eines Berliner Eckenstehers hatte, unter seinem weißen Schnauzbart kopfschüttelnd hervorbrummte, was Metternich dann an die Geschichte lächelnd weitergab. Sie standen beide im Schloßhof von St. Cloud, der unvorsichtige Sieger und der vorsichtige, und blickten, noch halb betäubt von dem erfolgten Glückswechsel, einander an, und der alte Marschall »immer feste druff« sagte: »Da muß Eener schon 'n rechter Narre sin, der das mans alles hatte und dann nach Moskau gelofen is . . .« Der »Narre« war Napoleon. Damals.

*

Es war ein milder Friede, nach allem, was vorangegangen, den Metternich damals diktierte. Vergleicht man ihn mit dem Versailler Friedensschluß von 1918, so kann man das Maß, aber auch den Weitblick des österreichischen Staatsmannes nur bewundern. Er verzichtet auf Elsaß-Lothringen, das er hätte einstecken können; er nützt Frankreichs augenblickliche Wehrlosigkeit nicht dahin aus, daß er es in dauernde Schuldknechtschaft stürzte; er besteht nicht wie Shylock auf seinem Pfund Fleisch; er überläßt es dem niedergeworfenen Lande, ohne rechtlosen Zwischenzustand eine eigene Regierung zu bilden. Er ist kein Clemenceau, kein Genie des Hasses. Nicht nur, weil er überhaupt kein Genie und kein Mann der Leidenschaft ist, sondern auch, weil er weise genug ist, um zu wissen, daß man mit Haß keinen dauernden Zustand schafft, und weil es ihm vor allem um die Befriedung Europas zu tun ist.

Nur in einem Punkte verfährt er erbarmungslos, ja beinahe unmenschlich, in bezug auf Napoleons Ehe, die er vernichtete. Er mag sich dazu berufen gehalten haben, weil er sie selbst zustande gebracht hatte. Er hatte Samson mit Delila verheiratet; 123 nun trennte er wieder, als ein Demiurg, was er als ein Gott zusammengefügt hatte. Empfindsame Historiker – es gab solche zumal im vorigen Jahrhundert – sprechen von »Teufelei«. Indessen dürfte »Politik« genügen. Es war eine politische Notwendigkeit, die Habsburgertochter von dem gestürzten Diktator loszulösen und ihn damit außerhalb des Gesetzes zu stellen. Ihn mit seiner Familie, der Frau und dem heranwachsenden Nachfolger, eine Einheit bilden und als Kaiser im Exil Hof halten zu lassen, hätte geheißen, eine französische Gegenregierung einzurichten und damit ein Sturmzentrum künftiger Entwicklungen. Ohnehin war es eine halbe Maßnahme, die sich rächte, den Gestürzten, der der Abgott des Heeres, wenn auch nicht aller seiner Marschälle blieb, bloß nach Elba zu verbannen. Aber es war eine völlig neue Lage, vor die sich die führenden Staatsmänner jenes Zeitalters, Metternich inbegriffen, damals gestellt sahen, und sie waren ihr beim ersten Anlauf noch nicht gewachsen. Umgang mit gestürzten Diktatoren war ein Kapitel, das erst gelernt sein wollte . . .

Nein, Metternich ist wegen seines damaligen Verhaltens und Vorgehens, so kaltherzig es anmuten mag, kein Vorwurf zu machen; seine staatsmännische Aufgabe war es nicht, bei dieser Gelegenheit ein Herz zu bewähren. Nur Marie Louisens sittliche Verpflichtung wäre es gewesen, zu ihrem Manne und zum Vater ihres Kindes in dieser schwersten Stunde seines Lebens zu stehen, und sie hätte es auch tun können, niemand durfte es ihr verbieten. Sie tat es nicht. Sie deklamierte ein bißchen – »mon devoir est d'être auprès de l'Empereur dans un moment, où il doit être si malheureux« – aber sie blieb in Blois, wohin sie sich in den ersten Apriltagen von Paris begeben hatte, einigermaßen überstürzt, aber doch mit achtundvierzig Hüten, fünfundachzig Paar Schuhen und dreißig Paar Stiefelchen, wie der gewissenhafte Chronist zu melden weiß. Und warum blieb 124 sie ein paar Tage lang in Blois, Zeit vertrödelnd, während der gestürzte Cäsar nach Unterzeichnung der Abdankungsurkunde nahebei in Fontainebleau auf sie wartete? Ihrer erschütterten Gesundheit wegen – in einem Brief an den »très cher Papa« behauptet sie, Blut zu husten – und auch weil ihre Umgebung es so wünschte. Ihre Umgebung, das waren die Herzogin von Montebello, die im Bunde mit den Alliierten stand, und die beiden »Könige«, Jérôme und Joseph Bonaparte, die sich an ihre Röcke klammerten, um bessere Abgangsbedingungen für sich herauszuschlagen. Napoleon, der zeitlebens nur allzu sehr mit der Niedrigkeit der Menschen gerechnet hatte, lernte sie nun erst richtig kennen. Marmonts Verrat beendigte die militärische Aktion, Talleyrand ging politisch zu den Bourbonen über, die Garde weigerte sich, auf Paris zu marschieren. Und nun ließ ihn auch seine Frau im Stich, nicht gleich, nicht auf einmal, aber schrittweise, wie eine unselbständige Frau, eine Zeit noch schwankend, den Mann schließlich im Stiche läßt. Noch im März hatte sie ihm einen schönen Brief ins Feld geschrieben, worin sie sich auf die sanfteste Art allen seinen Wünschen fügt, von dem unruhigen Schlaf des Königs von Rom berichtet, der im Traum geweint habe, weil er von seinem Vater träumt, und welchen Brief sie, die auch nicht unwichtige Wetterlage streifend, mit den allerdings mehr herzigen als kaiserlichen Sätzen schließt: »Le temps est assez doux, pour que je puisse monter à cheval. Cela m'a fait grand bien, mais ce qui me ferait plus de bien que tout cela, ce serait de te revoir et de ne plus être tourmentée. Ta fidèle amie, Louise.« Jetzt aber, im April, während der also geliebte Mann in Fontainebleau sehnsüchtig auf sie wartet, läßt sie sich von Schuwaloff, dem Adjutanten des Zaren, bereden, sich noch etwas weiter weg, nach Orléans, zu begeben, von wo es dann nach Rambouillet, zu Papa, nur noch ein Schritt ist. War es nicht zu Blois, wo ein französischer König 125 mit einem Diamanten in die Fensterscheibe ritzte: Souvent femme varie, bien fol qui s'y fie?

Der schließlich den Ausschlag gab in dieser letzten, höchst unkaiserlichen Entscheidung der Kaiserin, war wieder Metternich. In Paris angelangt, fertigte er, kaum daß er sich das Haar hatte richten und kräuseln lassen, einen vorbereiteten Brief an Maria Louise ab. Darin bot er ihr »Parma, Piacenza und Guastalla« als Versorgung an, indem er ihr gleichzeitig namens ihres cher Papa den Rat gab, sobald wie möglich nach Österreich zurückzukehren, anstatt nach Fontainebleau – das unerwähnt blieb – zu reisen. Der Wunsch war natürlich eine Bedingung und der Lohn für die erfüllte Bedingung war Parma, Guastalla und »Piacenza«, was mit Piacere, ist gleich »Plaisier«, zusammenhängt.

Marie Louise hatte zu wählen zwischen Piacenza und Fontainebleau, und sie wählte, wie es vorauszusehen war. Fontainebleau bedeutete Elba, das gemeinsame Verbanntenschicksal auf dem italienischen Inselchen, das sie unter ihrem erzherzoglichen Rang fand. Kaum hatte sie davon gehört, als sie am 8. April an Kaiser Franz schrieb und auch namens ihres Sohnes »qui est innocent de toutes les fautes de son père« eine ihrer Abkunft entsprechende Behandlung forderte. In diesem »innocent de toutes les fautes de son père« steckte bereits der Verrat, die Übermannung Samsons durch Delila bereitet sich darin vor, und es ist nicht ausgeschlossen, daß der Brief Metternichs vom 11. April durch diese Wendung mitveranlaßt und insofern nur eine Antwort war. Wäre dies so, dann trüge dieser Umstand wesentlich zur Entlastung Metternichs bei, und die diabolische Geschicklichkeit, mit der er ein Zusammentreffen Marie Louisens mit Napoleon, indem er es ihr scheinbar freistellte, in der Folge zu verhindern wußte, wäre so diabolisch nicht. Marie Louise versagte aus eigenem in einem Augenblick, in dem sie menschlich nicht hätte versagen dürfen, was immer »Ritter 126 ohne Furcht und Tadel«, deren sie bis in die jüngste Vergangenheit immer wieder welche findet, zu ihren Gunsten anführen mögen. Freisprechen kann man sie nicht. Doch kann man ihr als Milderungsgrund zubilligen, daß sie geheiratet hatte ohne vorangegangene Werbung. Sie war damals nur Objekt der Entschließungen eines anderen gewesen und sie war es jetzt wieder; sie wurde von ihrem Mann entfernt, wie sie ihm zugeführt worden war: ungefragt. Es entsprach der damaligen Stellung der Frau, zumal in Österreich. Es entsprach aber auch ihrem eigenen Wesen, das, fatalistisch eigenen Entscheidungen ausweichend, bequem und gefügig das Schicksal über sich walten ließ. Und es entsprach schließlich der habsburgischen Überlieferung, für die nur ein Wille, derjenige des Chefs des Hauses, in diesem Falle Kaiser Franz, maßgebend ist. In Blois, als sie den brieflichen Anruf ihres Gatten unbeantwortet ließ und anstatt zu schreiben oder zu reisen, die Ellbogen auf die Knie gestützt, sich untätig in Tränen auflöste, siegte die Kaisertochter in ihr über die Frau.

Als Minister der Koalition machte Metternich in Paris den Frieden. Sein Gegenspieler bei diesem Geschäft, aber ein Gegenspieler, der ihm in die Hand spielte, war Talleyrand, der Günstling des Zaren. Dann, als es soweit war und Napoleon auf Elba bereits sein Miniaturkaiserreich einzurichten begann, rührend und bewundernswert zugleich in seiner herrlichen theoretisch ungebrochenen Schöpferkraft, reiste Fürst Metternich nach Wien zurück, um dort die Vorbereitungen zum Wiener Kongreß zu treffen. Fürst Metternich, das war er über Nacht geworden, es war die Morgengabe seines Kaisers nach der Schlacht bei Leipzig. Wie Lord Byron von sich sagen konnte, er sei eines Tages aufgewacht und sei berühmt gewesen, so erwachte Graf Metternich als Fürst. Und sein wohlerzogener, stets auf alles gefaßter Diener, ein Herrschaftsdiener von vollendeten Manieren und Humor, redete ihn mit den 127 wohlgesetzten Worten an: »Son Altesse mettrat-elle aujourdhui le même habit, que Son Excellence a porté hier?« (Tragen Durchlaucht heute denselben Anzug wie Exzellenz gestern?) Man kann nicht taktvoller fragen. 128

 


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