Raoul Auernheimer
Metternich
Raoul Auernheimer

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Das weltgeschichtliche Kind

Vor ein paar Jahren, als der Todestag des Herzogs von Reichstadt, des einzigen Sohnes Napoleons, zum hundertsten Male sich jährte, geisterte der romantische Schatten des unglücklichen Knaben, vom Stundenschlag der Geschichte beschworen, noch einmal im Scheinwerferglanz der Aktualität durch die Spalten der Weltpresse. »König von Rom« schon in der Wiege, war er, kaum einundzwanzigjährig, an der Auszehrung in Wien gestorben, mitten im saftigen Biedermeiertum. Man nennt diesen Zeitabschnitt in Frankreich die Musset-Zeit, in Wien minder poetisch, dafür aber um so schmackhafter, die Backhendel-Zeit, und der kleine Sohn des großen Napoleon ist auch hierin mehr Franzose als Österreicher, mehr Napoleonide als Habsburger, daß man bei ihm eher an die erste Bezeichnung denkt als an die zweite. Er hatte etwas von einem Mussetschen Mädchenhelden, und nicht umsonst hat ihn, als er um die Jahrhundertwende als »Aiglon« seine verheißungsvolle Bühnenlaufbahn antrat, eine Frau, Madame Sarah Bernhardt, auf zwei schlanke Beine gestellt. Auch war er, ganz im Geiste Mussets, ein richtiges enfant du siècle, jener Nachkriegsgeneration entsprossen, von der ihr Dichter in der Einleitung zu seinem 263 weltberühmten Roman »La confession d'un enfant du siècle« sagt, sie sei »zwischen zwei Schlachten erzeugt, zum Unheil geboren«. Das ist eine Verallgemeinerung, und eine poetische Verallgemeinerung war auch dieser junge Prinz. Sein persönliches Mißgeschick verschwisterte sich mit dem der Epoche, die eben die romantische war. Das Unglücklichsein galt damals als höchste Mode, wer in halbwegs günstigen Umständen lebte, leistete sich diesen Luxus, der »Weltschmerz« wurde zum Moschusduft der feinen Gesellschaft, der »beau tenebreux« zum Salonideal, von dem die jungen Mädchen träumten. Auch der zwanzigjährige Herzog von Reichstadt beklagte ein trauervoll dunkles Geschick in seinem schwanenweißen Waffenrock, in den ihn die Österreicher gesteckt hatten, und nachtschwarze Gedanken brüteten hinter den blauen Augen der von zahmen blonden Locken so hold umflorten Knabenstirn. Freilich es war kein eingebildetes Leiden in seinem Fall, der, obwohl vom Leben selbst gedichtet, alle Voraussetzungen einer künstlich ausgeklügelten Tragödie besitzt. Und wie in einer solchen gab es keine andere Lösung als den Tod.

Diese Tragödie ist oft erzählt und noch öfter beredet worden, zuletzt von Rostand, der sie in den zugespitzten schönen Versen seines l'Aiglon sentimentalisiert hat. Indessen verlief sie so einfach nicht, wie sie sich unter dem alles vereinfachenden nationalistischen Gesichtswinkel darstellt, und wenn man nichts anderes als den märchenhaften Glückswechsel in Betracht zöge, mit dem sie unter Tränen tändelt, so wäre sie höchstens ein Rührstück, aber keine Tragödie. Richtig ist, daß das Glück des einzigen Sohnes Napoleons einen märchenhaften Krebsgang ging. Man nennt den in den Pariser Tuilerien Geborenen schon in den Windeln »König von Rom«, ein Hofstaat umgibt seine winzige Majestät, noch ehe sie gehen und stehen kann. Und dann, noch nicht vierjährig, wird er aus seinem schönen Land gejagt, und an die Stelle des zärtlichsten Vaters tritt ein 264 unholder Großpapa, der irgendwo, weit weg, in einem großen gelben Schloß ein östliches Reich beherrscht. Mama weint immerfort, Papa ist verreist, und wenn der Kleine jetzt aus der Türe seines Kinderzimmers tritt, steht niemand draußen am Pfosten. Da entringt sich dem Vierjährigen der erste tragische Seufzer: »Ich sehe wohl, daß ich kein König mehr bin, da ich keine Pagen mehr habe.« Aber diese Pagen waren nur das erste, was man ihm nahm. Bald wurde auch seine französische Kindsfrau weggeschickt, die herzhafte Madame de Montesquiou, an der er mehr als an seiner eigenen Mutter hing, die französische Dienerschaft verschwindet, sogar sein kleiner französischer Spielkamerad ist plötzlich nicht mehr da. Der König von Rom wird von unsichtbar bleibenden Gewalten planmäßig umgearbeitet zu einem österreichischen Prinzlein, einem Prinzen ohne Land. Nicht einmal nach Parma läßt man ihn reisen, wohin seine Mutter nach einiger Zeit mit einem einäugigen Ersatzpapa sich verloren hat, ja nicht einmal Prinz von Parma sich zu nennen wird ihm erlaubt, weil sich Erbansprüche daraus ableiten ließen, die man nach keiner Richtung hin zugestehen will. Schließlich muß man doch dem Kind einen Namen geben – dem Kind Napoleons! Man denkt hin und her. »Herzog von Mödling« schlägt Kaiser Franz vor, so nannten sich die Babenberger tausend Jahre früher in Österreich, aber eben darum kommt man wieder ab davon; denn die Babenberger waren die Vorgänger der Habsburger in Österreich, und wozu Vergleiche herausfordern? Auch »Herzog von Buschtiehrad«, ein Einfall Metternichs, und weiß Gott kein Herzenseinfall, geht nicht, es klänge lächerlich, zumal in den Ohren der Wiener, die auf die kleine tschechische Provinzstadt dieses Namens wie auf alles »Böhmische« naserümpfend herabsehen. Schließlich einigen sich die Maßgebenden auf »Herzog von Reichstadt«. Das klingt ganz gut und sagt am Ende gar nichts, das ist das Richtige. Wahrscheinlich war es wieder Metternich, der diesen 265 nichtssagenden Namen erfunden hat. Er sagt gar nichts, aber er klingt »als ob«.

Es gibt etwas, das man das österreichische »als ob« nennen könnte, die scheinhafte Vortäuschung einer Realität, der keine Realität entspricht, wir begegnen ihm auf Schritt und Tritt in der neueren Geschichte Österreichs, von Metternich abwärts. Der Kaiser von Österreich war zwar nicht mehr Deutscher Kaiser, aber Österreich führte den Vorsitz im Deutschen Bunde, »als ob« er es noch wäre. Metternich regierte, »als ob« er Minister wäre, in Wirklichkeit war er der Regent. Die österreichiche Währung war in Wahrheit nur den fünften Teil wert von dem, was sie auf den »Guldenzetteln« wert zu sein anzeigte, darum unterschied man zwischen wirklicher Währung »in Münz« und »Wiener Schein«, eine verhängnisvoll sich selbst anklagende Bezeichnung: »als ob«. Hieher gehören auch die übertreibenden Wiener Titulaturen, das »Euer Gnaden« des Wiener Fiakers, mit dem er den Fahrgast, das »Herr von« der Wiener Salondame, mit dem sie ihren Gast anspricht und vorstellt, »als ob« er von Adel wäre oder als ob es überhaupt nur Adelige auf der Welt gäbe und der Mensch wirklich, wie für Melanie Metternich, erst beim Baron anfinge. Sogar Metternich selbst verschmähte es nicht, diesen »als-ob«-Adel an Bürgerliche zu verschwenden, er sprach sein Leben lang von einem »Monsieur de Fouché«, obwohl Fouché nie im Leben »de« war. Das »Küss' die Hand«, das in Wien das Danke, das »Ich lege mich zu Füßen«, das den »guten Tag« unter Umständen ersetzt, steht auf dem gleichen Blatt wie auch die metaphorische Metternichsche Schreibweise, der Als-ob-Stil seiner Noten, der sich bis zuletzt im österreichischen Auswärtigen Amt weitervererbt hat. »Vergleiche haben etwas Beruhigendes«, sagte Schnitzler, Österreichs liebevollster und schärfster Satiriker, und da sie etwas Beruhigendes haben, liebte sie der ruhebedürftige Österreicher. Noch im Weltkrieg, als es sich darum handelte, 266 durch Abtretung des italienischen Trento den Eintritt Italiens in den Krieg zu vermeiden, gab mir, der ich dieses Opfer im Gespräch befürwortete, ein damals junger österreichischer Diplomat aus der Metternich-Schule die großartig klingende, aber eben nur klingende Antwort: »Man kann ein Land nicht wie eine Artischocke zerteilen!« Die Wendung hat etwas Fiktives und das hatte zeitlebens auch Österreich. Es lebte in Fiktionen – die letzte dieser Fiktionen war der sogenannte »Ständestaat«, das Abrakadabra der milden Schuschnigg-Diktatur – und war schließlich selbst nur eine Fiktion.

Eine solche Fiktion war auch der von Metternich schlau erfundene Herzog von Reichstadt, ein Titel ohne Mittel, wie man in Wien sagt. Aber dahinter stand ein lebendiger junger Mensch, der nicht nur »als ob« auf einer höheren, purpurbelegten Stufe den wienerischen »Herrn von« spielen, sondern seinen vom Vater ererbten Ehrgeiz früher oder später auch leibhaftig ausleben wollte. Er meinte es ernst inmitten einer spielerischen Scheinwelt, die ihn tändelnd umschwindelte; das war seine Tragödie oder doch die eine Hälfte dieser Tragödie, das Trauerspiel des unerlebten Ruhmes. Ein schönes Bild zu sein im stolzen Rahmen der Wiener Hofgesellschaft, jeder hätte es ihm von Herzen gegönnt, auch Metternich, der bei seinen Als-ob-Geschäften mit der menschlichen Eitelkeit nicht kleinlich verfuhr. Nur Ernst durfte sie nicht machen wollen; und gerade diesen unvernünftigen Ernst hatte der ruhmsüchtige Jüngling, der »dumme Bub«, wie Marie Louise gesagt oder gedacht haben dürfte, leider Gottes aus Paris mitgebracht; eine väterliche Erbschaft, was soll man machen? Hätte sich der Zwanzigjährige damit beschieden, in seinem schmucken weißen Waffenrock eines »überzähligen« österreichischen Obersten auf dem ihm vom guten Großpapa geschenkten Arabergaul mädchenschlank und knabentoll durch die engen Gassen Wiens zu galoppieren, wie er es zuweilen tat, die Fuchsien und 267 Pelargonienstöckchen vor den von Mädchenhänden sanft bewegten Mullgardinen in ein beinahe kriegerisches Wackeln bringend, er hätte im langlebigen Wien achtzig Jahre alt und ebenso lang jung bleiben können, ein von den Frauen angeschwärmter kleiner Als-ob-Napoleon en biscuit bis zuletzt. Doch der von einer ererbten plutarchischen Ruhmsucht besessene Jüngling behielt sich innerlich vor, die Probe aufs Exempel zu machen, den Helden nicht nur zu spielen, sondern einer zu werden, und an diesem Gegensatz zwischen Schein und Sein, zwischen als ob und Wirklichkeit, der so wienerisch ist, ging er schließlich in Wien zugrunde.

Man hat Anklagen erhoben; man hat Anklagen entkräftet. Der Prinz wäre an Österreich verdorben, wurde behauptet und mannigfach unter Beweis gestellt. Das ist richtig, aber ebenso richtig ist, daß, wäre der Herzog von Reichstadt in Wien geboren gewesen und hätte er im Alter von vier Jahren in ein siegreiches Frankreich übersiedeln müssen, ein halber Fremdling und gefährlicher Prätendent, er an Frankreich gestorben wäre. Die Politik wird in keinem Lande von Mitleidsgefühlen bestimmt, und daß einer, der hoch steht, tief fällt, je höher desto tiefer, ist leider ein physikalisches Gesetz, an dem auch die menschliche Staatskunst nichts zu ändern vermag. Womit nicht gesagt sei, daß diejenige des Fürsten Metternich die allermenschlichste war. Auch das wird behauptet, und seine reaktionären Eideshelfer, deren er ja schon viele gefunden hat, stellen in weitläufigen Metternichschen Satzperioden gerne unter Beweis, daß der napoleonische Prinz die allerbeste Erziehung erhielt, was übrigens auch der gegnerische Bibl nicht bestreitet. Man habe ihn keineswegs zum österreichischen Erzherzog ummodeln wollen, sagen sie und berufen sich dabei auf den Inhalt der erst neuestens zugänglich gewordenen Geheimarchive. Aber alle Noten, Berichte und Tagebuchstellen ändern nichts an der Tatsache, daß man beispielsweise dem Fünfzehnjährigen als 268 Reifeprüfungsarbeit eine Schilderung der Schlacht bei Leipzig auferlegte, in der sein Vater aufs Haupt geschlagen worden war, und die mittelbar doch nur auf eine Verherrlichung des militärischen Genies des österreichischen Befehlshabers, des Fürsten Schwarzenberg, hinauslaufen konnte. Man versetze sich in die Seele des hochaufgeschossenen, frühreifen, reizbaren Kindes, das seinen Vater vergöttert und das sich solcherart schulmeisterlich gezwungen sieht, den Gott in der eigenen Brust ans Kreuz zu schlagen. Kein Wunder, daß es die arme Brust nicht aushielt.

Daß der Herzog von Reichstadt hochfliegende Pläne nährte, wußte Metternich, wie ganz Wien es wußte. Er war eben doch der Sohn seines Vaters, das »Adlerchen«, der »Aiglon«, wie ihn nicht erst Rostand, sondern schon die Wiener Gräfin Lulu Thürheim, eine hübsche und kokette Zeitgenossin. in ihren Tagebüchern zärtlich nennt. Einmal hatte sie ein Ballgespräch mit dem Zwanzigjährigen, das sie sich aufschreibt. »Glauben Sie wirklich«, fragt er sie unter Walzerklängen, »daß ich zwischen Ruhm und Liebe werde wählen müssen? Und auf welche von beiden Gaben soll ich verzichten?« – »Selbstverständlich auf die Liebe«, erwidert die erfahrene Kokette, die seine Mutter hätte sein können, mit zärtlichem Augenaufschlag. Ob es wirklich ihre Meinung war oder nur ein Wink, eine »Aufforderung zum Tanz«, bleibe dahingestellt. Sicher ist, daß auch Metternich es nicht ungern gesehen hätte, wenn das »weltgeschichtliche Kind« in einem gewissen Alter die Liebe vorgezogen und in den runden Armen einer erfahrenen Frau seinen ungesunden Ehrgeiz weggeküßt hätte. Diese Möglichkeit bestand, wie bei jedem jungen Mann, und sie wurde im damaligen Wien wie auch späterhin gerne und ausgiebig erörtert. Die Bevorzugung der Liebesangelegenheiten lieber Mitmenschen im Gesellschaftsschwatz ist ein Nebenerfolg der Metternichschen Staatskunst, die dem Untertanen politisch den Mund verbot. Im gegebenen 269 Falle nannte man vor allem zwei Namen – um nur zwei herauszugreifen –: die Erzherzogin Sophie und die Tänzerin Fanny Elßler. Eins so unsinnig wie das andere. Die große Tänzerin hat den Herzog von Reichstadt überhaupt nicht gekannt, und die Erzherzogin, um ein paar Jahre älter als der schöne Prinz, war ihm höchstens eine mütterliche Freundin, die ihm als solche den zugleich größten und schlimmsten Dienst erweisen sollte. Als der sich zu Tode Hustende im Sterben lag, erwartete die Hochschwangere eben ihr zweites Kind, den nachmaligen Kaiser Max von Mexiko. Sie machte dem Sterbenden einen Besuch und bat ihn, auf ihre schwere Stunde sich vorbereitend, mit ihr zusammen zu kommunizieren. Er tat es, und während er das Heilige Abendmahl aus der Hand des Beichtvaters der Erzherzogin empfing, wurden die Türen ins Nebenzimmer aufgerissen. Er sah den ganzen Hof auf den Knien liegen, wie es die Habsburger Etikette in solchen Fällen einer Hinüberreise ins Jenseits vorschreibt, und er erkannte, aus seinem Fiebertraum erwachend, jählings, daß er sterben müsse. Eine schrecklich schöne Szene, die Rostand in seinem Effektstück sich nicht hat entgehen lassen.

Mit alledem hat Metternich nichts zu schaffen, auch nicht mit den Weibergeschichten, die ihm so nahe lagen. Der Herzog von Reichstadt ist ohne sein Zutun an sich selbst gestorben. Er trug zwei gegensätzliche Schlachtfelder in seiner allzu schmalen Brust, Aspern, wo Österreich Napoleon, und das benachbarte Wagram, wo Napoleon Österreich geschlagen hatte. Wie diesen Widerstreit überwinden und den Ausgleich herstellen zwischen seinem ungewöhnlichen Vater und der gewöhnlichsten Mutter, die in den letzten sechs Jahren seines so kurz bemessenen Lebens nicht ein einziges Mal den Weg nach Wien fand und erst, als er erlosch, an das Sterbebett ihres Kindes »eilte«! Dennoch lebte auch sie, die Habsburgerin, in seinem Blute. Denn zwar wollte er Napoleon II., Kaiser der Franzosen 270 werden, aber auf legitime Weise und beileibe nicht im Wege eines Staatsstreichs, den nach der Juli-Revolution herbeizuführen ein Leichtes gewesen wäre. An dieser ängstlichen Neigung zum Legitimen erkennt man den Habsburger-Sproß, auf den alles in allem die österreichische Kapuzinergruft eben doch mehr Anspruch hat als das Pariser Pantheon. In seinem Schicksal verschränken sich zwei Tragödien: das unerfüllte Prätendentenschicksal eines für den Thron Geborenen, der nie regieren wird, und das Schicksal des Geniesprößlings, der notgedrungen, weil das Genie eine Ausnahme ist, hinter seinem Vater zurückbleibt. Das Glück ist eine rechnerische Göttin, die, was sie an eine Generation verausgabt, der nächsten gern wieder in Abzug bringt. Davon wußte »das weltgeschichtliche Kind«, wie Varnhagen den Herzog von Reichstadt nennt, ein traurig Lied zu singen, und er sang es, bis seine Stimme brach. Zwischen Wiege und Sarg, die beide bis zuletzt in Wien standen, liest sich sein Leben wie ein schwermütig-schönes Märchen: das Märchen vom Kaisersohn, von dem niemand etwas wissen wollte. Ein Stoff, fast zu zart für die Weltgeschichte, aber als Mythos eben recht. Musset hätte eine Ballade daraus machen müssen und Schubert die Musik dazu schreiben. Indessen gibt es nur ein mittelmäßiges Gedicht: Le Fils de l'Homme von Barthélemy, dessen pathetische Trommelwirbel siebzig Jahre später in Rostands »Histoire« effektsicher nachhallen. Eines ist klar, daß, die blasse Unsterblichkeit dieses hinfällig Unsterblichen zu betreuen, Sache des Dichters, nicht des Geschichtsschreibers ist. Nur müßte es ein wahrer Dichter sein, kein hitziger Nationalist von der einen oder anderen Seite.

In Metternichs Leben spielt der frühe Tod des Herzogs von Reichsstadt ungefähr dieselbe Rolle wie die Erschießung des ritterlichen Herzogs von Enghien im Leben Napoleons. Auch diejenigen, die ihm alles vergeben, können ihm das nicht verzeihen. Mit Recht. Aber wenn man im Falle Metternich die 271 Ankläger zur Rede stellt, wissen sie wenig zu sagen. Der junge Prinz war brustkrank, und man hätte ihn trotzdem einen Kondukt bei einer Temperatur »weit unter Null« kommandieren lassen. Nun, dieses »unter Null« ist für Russen oder Österreicher lange nicht so schreckhaft wie für Franzosen oder Amerikaner, die an ein milderes Klima gewöhnt sind. Auch war ja Metternich nicht der Korpskommandant von Wien. Daß man dem Herzog nicht erlaubt hat, nach dem Süden, das heißt also nach Italien zu gehen, um sein Lungenübel auszuheilen, darf man Metternich ebenso wenig anrechnen. Er hat selbst drei erwachsene Kinder der »Wiener Krankheit« opfern müssen, und nur einer von ihnen, Viktor, ist in Italien gestorben. Bleibt der weiße österreichische Waffenrock, in den man den Sohn Napoleons gezwängt hat, zwängen mußte, weil er nun einmal in der österreichischen Armee diente. Daß man ihn von der Erbfolge in Parma ausschloß, ist richtig, aber begreiflich, man wollte, gerade auf dem heißen Boden Italiens, keine Prätendentschaft aufkeimen lassen. Grausam, mag sein; aber wie anders springt man heute mit unbequemen Prätendenten aus uralten Fürstenhäusern um! Man verfolgt sie steckbrieflich und bedroht sie mit Erschießen. Übrigens hat Metternich in einem gegebenen Augenblick die Anwartschaft des Herzogs von Reichstadt auf den französischen Kaiserthron sogar ermutigt oder doch zumindest mit dieser Möglichkeit diplomatisch gespielt, um Louis Philippe in Schach zu halten. Das einzige, was man Metternich in dieser ganzen traurigen Familienangelegenheit wirklich zum Vorwurf machen kann, ist dasjenige, womit seine Anhänger um jeden Preis alle Vorwürfe, die gegen ihn erhoben werden, entkräften zu können glauben. Wie hätte er den Herzog von Reichstadt hassen und verfolgen sollen, so sagen sie, fragen sie: er hat ihn ja kaum gekannt, alles in allem nur wohlgezählte fünf Male im Leben gesehen und höchstens einmal im letzten Lebensjahr des Bedauernswerten eine etwas 272 längere Aussprache mit ihm gehabt, die ohne rechtes Ergebnis verlief. Das ist richtig, aber das eben ist Metternichs Verschulden. Daß er, der für so vieles Zeit hatte, für ein unglückliches Kind so wenig, so gar keine Zeit sich nahm, muß man dem Vielbeschäftigten dauernd übelnehmen. Er war ein besserer Diktator als Vormund. 273

 


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