Raoul Auernheimer
Metternich
Raoul Auernheimer

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Das Siegesfest

»Aus des Schicksals dunkler Quelle
Fließt das wechselvolle Los.
Heute stehst du fest und groß,
Morgen schwankst du auf der Welle.«

Die unerhörte Leistung Metternichs, die er in diesen zwei Jahren zwischen dem russischen Feldzug Napoleons und dem Wiener Kongreß erbrachte, mußte ihn selbst überraschen. Denn nicht nur hatte er seine staatsmännische Haltung im Verlauf weniger Monate derart verändert, daß er, wofür er Hormayr im Frühling 1813 hatte einsperren lassen, im Juli selber tat, er hatte auch in diesem ungeheuren Ringkampf, in den er sich eingelassen hatte, schließlich weit mehr erreicht, als er erreichen wollte. Er stand eines Morgens mit seinen frisch gebrannten Haaren vor dem Spiegel und war der Besieger Napoleons. Ja, mehr noch als besiegt, er hatte ihn abgesetzt, was er doch gar nicht beabsichtigt hatte. Oder hat er es doch beabsichtigt, wenn auch nur in dem erst später erfundenen Unterbewußtsein? Im Oberbewußtsein hat er jedenfalls das Gegenteil versichert und sogar sich selbst nicht ohne Erfolg eingeredet. So daß er jetzt die doppelte Genugtuung hatte und 129 genoß, sich von der geschichtlichen Entwicklung zu etwas gezwungen zu sehen, das er gar nicht gewollt, oder, wenn überhaupt, erst ganz zuletzt gewollt hatte. Er badete wie Pilatus seine Hände in vollkommener Unschuld und vergnügte sich dabei und noch dazu mit gutem Gewissen an den saftigsten Früchten langsam herangereifter Schuld. Ein köstlicher Nachtisch.

Dieses Dessert nach dem Gemetzel war der Wiener Kongreß. Die Verbündeten hatten ihn, bei der Annäherung an Paris, im letzten Augenblick in Chaumont beschlossen, aus dem richtigen Gefühl, daß man sich über die Beute nicht werde einigen können, und weil man diese vorschattende Nichteinigung noch um ein paar Monate vertagen wollte. Jetzt im September fand man sich glücklich zusammen.

Es ging zu wie auf jedem Kongreß: erst war man nicht fertig und dann wurde man nicht fertig. Dazwischen zankte man tagsüber und unterhielt sich am Abend.

Der Beginn des weltgeschichtlichen Gezänks war für den ersten Oktober angesetzt. Eine Woche vorher traf Talleyrand, der Vertreter Frankreichs, in Wien ein. Von diesem Augenblick angefangen hatte Metternich, der in seiner geschmeidigen Weise dem Kongreß bereits präsidierte, ohne sein Präsident zu sein, einen ebenbürtigen Gegner. Talleyrand war um achtzehn Jahre älter als Metternich, der in Paris manches von ihm gelernt hatte. Nun fand er Gelegenheit, als dankbarer Schüler die erworbene Meisterschaft an ihm zu bewähren.

Die beiden Männer hatten manche Ähnlichkeit und waren doch grundverschieden. Talleyrand war ganz Franzose – »der französischeste Franzose« hatte der Fürst von Ligne von ihm gesagt – und Metternich viel deutscher, als er wußte oder zugeben wollte. Das Deutsche an ihm war sein Bedürfnis nach einer Ideologie, die er, wie jeder Deutsche, im dunklen Nährboden einer überkommenen Terminologie metaphysisch 130 verankerte. Dummheiten, Schlechtigkeiten, Unbegreiflichkeiten macht jede Nation; aber nur die deutsche fühlt sich in allen solchen Fällen gedrungen, das Geschehene oder Verübte auch noch gewissenhaft ideologisch zu untermauern. Wenn man das Philosophie nennen will, so war das deutsche Element im Wesen Metternichs der Philosoph, der er als Staatsmann und sogar als Liebhaber immer blieb, und der Talleyrand so gar nicht war. Talleyrand war ein scharfer Denker, ein schärferer noch als Metternich, weil er alles Unklare ausschloß, aber er würde niemals wie Metternich von sich gesagt haben: »I was born a thinker.« Andererseits war der weltliche Metternich im Grunde viel religiöser als der aus der Kutte gesprungene Bischof von Autun. Talleyrand glaubte an nichts, nicht einmal an den Teufel; Metternich verband sich zuweilen mit dem Teufel, um Gott nachher um so nachdrücklicher zu preisen. Er war nie zynisch, was Talleyrand immer war. Talleyrand hatte kein Gewissen, wogegen Metternich sich nur zuweilen über sein Gewissen hinwegsetzte. Auch beteuerte er gerne sein Herz, einen Muskel, den Talleyrand nie erwähnte. Aufs Lügen verstanden sie sich beide, als Diplomaten der klassischen Schule, trefflich; aber Metternich war, wenn man so sagen darf, der ehrlichere, Talleyrand der entschlossenere Lügner. Metternich glaubte zuletzt, was auch Grillparzer in seiner Charakteristik boshaft hervorhebt, an seine eigenen Lügen. Talleyrand war viel zu gewitzt, als daß er einem Mann wie Talleyrand je auf den Leim gegangen wäre. In Gesellschaft war Talleyrand der witzigere, Metternich der liebenswürdigere Unterhalter.

Eines hatten die beiden Männer, die beide noch als Achtzigjährige sich von den Frauen verwöhnen ließen, miteinander gemein: den Frauendienst, der sich bei beiden gut und gern über ein halbes Jahrhundert erstreckte. Beide konnten sie wie jener Wiener Geistliche von sich sagen: die Frauen sind mir Luft – und ohne Luft kann ich nicht leben. 131

Als Frauenfreunde hatten sie zeitlebens nicht viel Zeit für Männer, es wäre denn im beruflichen Verkehr, wozu sie in Metternichs Pariser Epoche einige Gelegenheit hatten, ohne dabei einander menschlich nahe zu kommen. Aber wenn auch nicht nahe, so kamen sie sich doch näher, was schließlich so weit ging, daß Talleyrand durch Metternichs Vermittlung vom Wiener Hof für seine Unterstützung der österreichischen Politik eine kleine Aufmerksamkeit von hunderttausend Francs zugesteckt erhielt. Talleyrand war in Geldsachen nicht kleinlich und Metternich war großzügig; doch hatte er Grundsätze auch in diesem Punkt. Daß er vom Senat der Stadt Frankfurt am Schlusse des Freiheitskrieges zehntausend Dukaten überwiesen erhielt und annahm, wird von ernsthaften Historikern behauptet. Als ihm aber am Ende seines Lebens, in der Not der Verbannung, der Zar Nikolaus hunderttausend Rubel zur Verfügung stellte, nahm er das Geschenk nur als ein Darlehen an und zahlte es später pünktlich wieder zurück. Sein Grundsatz war, Geldzuwendungen nur von befreundeten Mächten anzunehmen, wozu Rußland zu rechnen er sich nie hatte entschließen können. Ideolog auch hier!

Als Diplomaten, also auf ihrem eigensten Feld, waren die beiden Männer einander gewachsen, obwohl der jüngere, Metternich, bloß Talleyrands begabtester Schüler war. Metternichs jüngster französischer Biograph Grünwald sagt von ihm, daß Metternich mehr Taktiker war und Talleyrand mehr Stratege. Das mag sein, und da sie als Taktiker und Stratege selten im selben Hauptquartier beschäftigt waren, sahen sie einander naturgemäß nur bei den Sitzungen. Von einem persönlichen, vertrauensvollen oder gar freundschaftlichen Umgang zwischen ihnen kann man kaum reden. Sie kamen um so weniger dazu, als sie ja beinahe immer Rivalen waren. Dazu trat dann noch der Erfolg, der, wenn er sich auf dem gleichen Boden ereignet, zwei Männer eher entfremdet als 132 verbindet. Beide Tenöre der hohen Politik, verkehrten sie auch miteinander eben als Tenöre, die, was sie sich zu sagen haben, am liebsten singen.

Talleyrand traf am 23. September in Wien ein und fing sofort an unzufrieden zu sein, um seine Stellung – Vertreter eines geschlagenen Landes immerhin – dadurch zu verbessern. Die Veranlassung ergab sich bei der allerersten Zusammenkunft. Die Vertreter der Siegermächte Österreich, Rußland, Preußen und England waren bereits seit ein paar Tagen anwesend, eine Sitzung fand eben statt und der überraschend erschienene französische Bevollmächtigte wurde aufgefordert, an ihr teilzunehmen. Da aber diese Besprechung am Tage seiner Ankunft unzweifelhaft auch ohne ihn würde stattgefunden haben, fühlte Talleyrand sich, und mit Recht, mehr zugezogen als eingeladen. Dafür sprach auch, daß, obwohl er pünktlich erschien, die anderen bereits sämtlich anwesend waren und ratschlagend um den Konferenztisch herumsaßen, dem Lord Castlereagh, Vertreter Englands, vorsaß.

Talleyrand nahm in einem leeren Lehnstuhl, der neben demjenigen des Präsidenten stand, Platz, womit man gerechnet zu haben schien, obwohl man ihn nicht dazu aufforderte. Er blickte durch die vorgehaltene Lorgnette im Kreise umher und eröffnete sofort die diplomatischen Feindseligkeiten, indem er die höflich verwunderte Frage stellte, warum man nur ihn und nicht auch seine Delegation – er hatte zwei Begleiter nach Wien mitgebracht – eingeladen hätte? Weil nur die Führer der Delegationen eingeladen worden wären, wurde ihm ebenso höflich bedeutet. Aber Talleyrand – wir halten uns an die Darstellung Duff Coopers in seiner brillanten Talleyrand-Biographie – verwundert sich weiter: wenn das so wäre, wie es dann käme, daß Spanien durch Monsieur Labrador vertreten sei, der doch, soviel man wüßte, nicht der Anführer der spanischen Delegation wäre? Weil der Anführer der 133 Abordnung bis zur Stunde in Wien noch nicht angelangt sei. Und Preußen? fragt Talleyrand, immer noch die Stielbrille handhabend, rastlos weiter: warum es trotzdem durch zwei Delegierte – Humboldt und Hardenberg – vertreten wäre? Wegen des Leidens, das der eine habe, erwiderte man ihm gedämpft. Man hätte es aber auch laut sagen können, denn Hardenberg war stocktaub. Nun, versetzte Talleyrand mit gewinnender Artigkeit: wir haben alle unsere kleinen Leiden! Es bleibt nichts anderes übrig, man muß, in die Enge getrieben, ihm zugestehen, daß von jetzt an die französische Delegation stets vollzählig eingeladen werden würde: Monsieur Dalberg, Monsieur du Pin und er.

So macht er sich eine Stellung und baut sie dann aus. Ein Protokoll wird verlesen über das seit Chaumont Vorgefallene und Geleistete; in diesem Rechenschaftsbericht kommt das Wort »die Alliierten« vor. Talleyrand unterbricht: »Wenn es noch Alliierte gibt, dann habe ich hier nichts zu suchen.« Man habe den Ausdruck nur der Kürze wegen gewählt, entschuldigt man sich. Bedauerlich, meint Talleyrand überlegen: Kürze dürfte nie um den Preis der Genauigkeit erkauft werden. Da hat er recht, und so sind auch diese »Alliierten« im Protokoll nicht zu halten. Hingegen verlängert Talleyrand jetzt sofort seine Front durch Einbeziehung des unzufriedenen portugiesischen Gesandten, der sich brieflich darüber beklagt hat, der Sitzung nicht zugezogen zu sein. Talleyrand stellt sich gewandt an seine Seite. Mehr noch, er verallgemeinert blitzschnell den Fall. Frankreich macht sich, durch seinen Mund, zum Anwalt nicht nur Portugals, sondern aller Kleinstaaten. Gibt es denn nicht auch so etwas wie eine Völkerrechtsmoral? Talleyrand hält sie aufrecht, obwohl es sicherlich die einzige Moral ist, um die er sich in seinem Leben je gekümmert hat. Auch ist er schnell bereit, dieser hinfälligen Moral den Mantel christlicher Nächstenliebe um die mageren Schultern zu legen. Frankreich, 134 gibt sein gewitzter Vertreter hinter der vorgehaltenen Hand zu verstehen, ist die einzige Macht, die in diesem Kongreß keinen Ländergewinn anstrebt. Frankreich bescheidet sich, selbstlos, wie es ist, mit seinen ihm zugestandenen Grenzen; und so schiebt Talleyrand die seinen in der Folge um so unbescheidener hinaus. Eine Meisterleistung der Diplomatie und als solche nur mit den napoleonischen Feldzügen zu vergleichen. Auch Metternichs wendige Zähigkeit kann daran nicht viel ändern. Den Krieg gegen Frankreich hat er gewonnen, aber am grünen Tisch muß er Schritt für Schritt nachgeben.

Einmal, nachdem der Kongreß drei Monate lang getagt und seine Teilnehmer sich im Schweiße ihres Angesichts rastlos unterhalten haben, hätten die bestehenden Unstimmigkeiten beinahe zum Krieg geführt. Rußland wollte Polen »befreien« und Preußen wollte Sachsen, und beides wollte Österreich nicht. Also Krieg gegen Österreich! Napoleon reibt sich auf Elba bereits die Hände. Aber im letzten Augenblick kommt ein Bündnis zwischen England, Frankreich und Österreich zustande, das die gegnerischen Mächte erfolgreich einschüchtert. Metternich hat diesmal nicht gegen, aber zusammen mit Talleyrand gesiegt; um den Preis freilich, daß Talleyrands Sieg größer war als der seine. Denn schon ist Frankreich die bestimmende Großmacht auf dem Kongreß. In einem andern Falle wird der österreichische Staatskanzler von seinem älteren Nebenbuhler in der geistigen Führung Europas noch beklemmender an die Wand gedrückt. Man kann diesmal geradezu von einer diplomatischen Niederlage Metternichs sprechen. Aber es ist eine lächelnde Niederlage, die mit seinen früheren Siegen auf verschwiegeneren Schlachtfeldern zusammenhängt. Der Fall betrifft Neapel; betrifft, genauer gesagt, Caroline von Neapel; denn Murat, ihr kriegerisch beschäftigter Gatte, bekümmert Metternich weit weniger. Er ist ihm sogar eher unsympathisch, was ein betrogener Ehemann nur allzu leicht wird. 135

Metternich war mit Caroline vor sieben Jahren in Paris und auch vor vier Jahren noch »au mieux« gewesen, wie man dort sagt, wenn man einen Grad von Freundschaft, zwischen Mann und Weib, bezeichnen will, der weitere Steigerungen nicht mehr zuläßt. Das Cromwell-Köpfchen war ihm noch in allerliebster unordentlicher Erinnerung, und daß es sich seither ein Krönchen, die Krone von Neapel, aufgestülpt hatte, mochte seiner Eitelkeit, die nicht gering war, zudem sehr schmeicheln.

Jedoch dieses Köpfchen war kein bequemes Köpfchen; es war ein ehrgeiziges, ein herrschsüchtiges Köpfchen. Nicht umsonst war Caroline die Schwester Napoleons, der einmal von sich gesagt hatte: »Wenn ich einen Thron sehe, muß ich mich darauf setzen.« Das Schwesterlein wollte Königin von Neapel bleiben, und das war gar nicht so leicht, jetzt nach dem Sturze Napoleons und der Rückkehr der Bourbonen nach Frankreich. Auch in Neapel hatten die Bourbonen geherrscht und gewirtschaftet; auch dorthin wünschten sie jetzt zurückzukehren. Und Talleyrand vertrat ihren Anspruch; von seinem französischen Standpunkt aus vollkommen logisch.

Doch Caroline setzte sich zur Wehr. Wenn eine Frau wie sie ihren Kopf in Kissen gewühlt hat, so will sie irgend einmal auch etwas davon haben, und dieser Augenblick war jetzt gekommen. Metternich selbst hatte ihn herbeigeführt. Er hatte sich am 11. Jänner 1814, kaum auf französischem Boden angelangt, in einem Brief an Caroline gewandt, um sie unter stiller Berufung auf ihren alten Liebesvertrag auch politisch in sein Lager zu ziehen. Er schlug damals ein Bündnis zwischen Neapel und Österreich vor. Caroline war darauf eingegangen und ihr königlicher Gatte hatte sich, unter ihrem Einfluß, bereitwillig den Alliierten angeschlossen. Jetzt verlangte er natürlich seinen Lohn dafür, daß er Napoleon verraten hatte: der Wiener Kongreß sollte ihm seine wacklige Krone bestätigen und befestigen. Metternich war dafür, Talleyrand dagegen. 136 »Wer ist das – Murat? Ich kenne ihn nicht«, sagte er, als in einer Sitzung vom derzeitigen König von Neapel vorfühlend die Rede war.

Dieser Sitzung nicht beigezogen gewesen zu sein, kann Clio, die Muse der Geschichtsschreibung, nur bedauern. Es war eine Frauenangelegenheit, die allen Anwesenden, mit einziger Ausnahme Metternichs, ein unbeschreibliches Vergnügen machen mußte. Denn wenn Talleyrand Murat angriff, was sollte, was konnte der österreichische Staatsminister darauf erwidern? Daß Caroline ihren Kopf in Kissen gewühlt hatte, war kein Sitzungsargument, das sich öffentlich erörtern ließ. Und doch war es ein zwingendes Argument, aber eben nur für ihn, und er durfte es nicht geltend machen. Es gibt Lagen, in denen der beredteste Frauenfreund verstummen muß, und das war eine solche. Er öffnete, wenn von ihr die Rede war, die Lippen nicht, die Caroline so oft geküßt hatte, sondern sprach immer nur von ihrem Mann, dem schneidigen Reitergeneral, gegen den Talleyrand, wahrscheinlich höchlich amüsiert über Metternichs verhältnismäßige Zurückhaltung, seine wütenden Attacken ritt. Schließlich blieb Metternich nichts übrig, als auch in diesem Punkt bescheiden nachzugeben. Es wurde einstimmig beschlossen, Murat fallen zu lassen, und die Exekution wurde vermutlich auf Antrag Talleyrands Metternich anvertraut, der nur noch den geeigneten Augenblick abwarten sollte. Dieser Augenblick würde eintreten, wenn Murat die erste Dummheit machte. Das geschah bald genug, wie sich später zeigen wird, und als er sich während der hundert Tage noch einmal an Napoleons Seite stellte, war es endgültig um ihn geschehen. Caroline aber fand dank Metternich ein Asyl in den österreichischen Erblanden, wo sie erst 1839 starb. 137

*

Über den Wiener Kongreß ist viel und oft und gut geschrieben worden. Von De la Garde angefangen, dem liederlichen Homer dieser heiteren Iliade, haben sich zahllose Federn an dieser reizvollen Aufgabe erprobt oder doch gewetzt, Federn von Historikern, von Tagebuchschreibern, von holden Briefschreiberinnen, die sich und ihre Eindrücke in ihrem Tintenfäßchen spiegelten. Auch eine Reihe von mehr oder minder durchgefallenen Lustspielen ist über ihn verfaßt worden, darunter auch mein eigenes. Am hübschesten hat seine gesellschaftliche Seite die geistreiche Rahel Varnhagen charakterisiert, mit drei Berliner Worten: »Man amüsor sich.« Auch das abgegriffene Wort des alten Prince de Ligne muß erwähnt werden: »Der Kongreß tanzt, aber er geht nicht.« Das trügerische Element, das allem Gesellschaftlichen anhaftet, kommt in solchen zweideutigen Worten witzig zum Ausdruck.

Ein Gesellschaftsfest war der Kongreß vor allem, und insofern war Wien der geeignetste Schauplatz. »Europa bist du, nicht mehr eine Stadt!« redete Gentz sein vergnügungssüchtiges Donaubabel an. Gentz war die andere Seite Metternichs, zuweilen sogar seine bessere; er war der publizistische Vortänzer der Reaktion, Metternich taktschlagender Dirigent einer rückläufigen Bewegung, die jetzt und hier verheißungsvoll einsetzte und bald genug ganz Europa mitriß.

Einstweilen aber war es ein Siegesfest und nichts weiter. Eine Zeitlang kam fast jeden Tag ein anderer Souverän in Wien an und stieg in der Hofburg beim Kaiser von Österreich ab, als ob der »Kaiser von Österreich« ein Hotel wäre, was er auch tatsächlich war. Zwei Kaiser, zwei Kaiserinnen, vier Könige und ein halbes Dutzend Erzherzoge wohnten allein bei ihm in der »Burg«, mitsamt ihren Suiten. Dreihundert Equipagen standen bei Tag und Nacht angeschirrt für sie bereit. Die kaiserlichen Pferde hatten festlich bunte Bänder in den Mähnen, und die Wagenräder waren vergoldet, wie nur die 138 des Hofes sein durften. Und so war alles: Bälle, Redouten, Empfänge, Reiterfeste, Truppenparaden – die größte am 18. Oktober zur Feier der Schlacht bei Leipzig –, Festgottesdienste, Schlittenfahrten und Tourniere. Heut' ein Karussell in der Wiener Hofreitschule, morgen eine Reiherbeize in Laxenburg, einem anderen kaiserlichen Lustschloß, nah bei Wien gelegen. Konzerte und Theaterlust verstanden sich am Rande. In der Oper gab man jetzt noch einmal Beethovens »Fidelio«, der diesmal auch schon bei den Wiener Bürgern Erfolg hatte, und im Schauspielhaus führte man »die Bürger von Wien« auf, die im übrigen nur zuschauen und den vorüberfahrenden Wagen nachgaffen durften. In Wien nennt man das »Spalier stehen«. Das tun die Wiener mit Wonne, sogar im Frühling 1938 taten sie es nicht allzu ungern. Daß es etwas zu sehen gibt, war in Wien allezeit wichtiger, als was es zu sehen gab. Es ist eine maßlos neugierige Stadt; sie verkauft ihre Seele, nur um »dabei zu sein«. Der »gute« Kaiser Franz ließ sich als freigebiger Hausherr nicht spotten, was eine zeitgemäße Karikatur der Nachwelt verbrieft. Da sehen wir sie, die sechs »Könige auf Ferien« – ein andres Wort des Prince von Ligne –, in einem spaßhaften Bilde vereinigt, samt einer spöttischen Legende. Der Kaiser von Rußland, so heißt es auf dem Blatt: liebt für alle. Der König von Preußen: denkt für alle. Der König von Dänemark: spricht für alle. Der König von Bayern: trinkt für alle. Der König von Württemberg: ißt für alle. Und zum Schluß: der Kaiser von Österreich – zahlt für alle. Freilich, das sah nur so aus. Denn in Wirklichkeit wurde ein fünfzigprozentiger Steuerzuschlag eingehoben, der die Kosten der Veranstaltung auf das aus den Lesebüchern bekannte Volk überwälzte. »Da fahr'n s' für unsre fufzig Prozent«, maulten die Wiener bei der großen Schlittenfahrt, indem sie den geputzt und bepelzt vorübergleitenden Ehrengästen Seiner Majestät nicht allzu wohlwollend nachblickten. 139

Die gute Laune der Gäste ließ nichts zu wünschen übrig. Man unterhielt sich königlich bei den verschiedenen Schlittenfahrten, Turnieren und Redouten und lachte sogar am Tisch des Kaisers. Die Kaiserin von Österreich, die auf dem rechten Ohr taub war, saß zur Linken des Königs von Preußen, der auf dem linken Ohr nichts hörte. Es war ein Spaß, zuzuhören, wie sie nie verstanden, was sie einander zu sagen hatten. Der Zar von Rußland, der neben Kaiser Franz saß, bemerkte, wie ein Riesenpfau, der als Schaugericht herumgereicht worden war, abgetragen, statt in die Küche zurück, in das Zimmer eines Bedienten hineinfand. »Hast du das gesehen?« wandte der Zar sich neckend an seinen kaiserlichen Bruder. Und Kaiser Franz todernst, wie es die Art der Komiker ist, und ganz trocken: »Freilich, freilich . . . jetzt kannst du dir erst vorstellen, wie bei dir in Rußland gestohlen wird.«

Metternich war überall zugleich und maître de plaisir; »Ministre Papillon« nannten ihn jetzt, die hinter ihm her redeten. Er flatterte von einer Gesellschaft in die andere, von einer Sitzung zur anderen, von einem Fest aufs andere. An jedem Montag empfing er selbst in seinem schönen Haus auf dem Rennweg, wo sich bis 1938 die italienische Botschaft befand, das aber dazumal noch außerhalb der Stadt inmitten eines erfrischenden und verschwiegenen Gartens mit alten Bäumen und verschlungenen Wegen lag. Der schönste dieser Empfänge, die Madame Metternich als geübte Hausfrau sachkundig leitete, während Metternich mit koketter Anmut seine Gäste empfing, fand am Jahrestag der Schlacht bei Leipzig statt. Es wurde eine Art Pantomime aufgeführt, die – wie heiter! – den Triumph der Eintracht über die Zwietracht mythologisch darstellte. Alle Damen waren blau gekleidet, eine Huldigung für die Bourbonen vermutlich, und trugen Ölzweige im Haar. Das Gedränge war so groß, daß die dänische Gräfin Bernstorff zwei Stunden sich gedulden mußte, bevor sie ihrer Kutsche entsteigen 140 konnte. Überflüssig zu sagen, daß auch alle Majestäten anwesend waren, von denen jeder bereits seine Koterie, seinen Anhang und seine Schöne hatte, der er vor allen andern Damen den Vorzug gab. Der Wiener Leumund hatte den im Vordertreffen Stehenden rasch passende Spitznamen angeheftet, um sie wie Weinmarken kennerisch zu unterscheiden. Die eine war die »beauté céleste«, die andere hieß die »beauté du diable«, und eine dritte wurde »die beauté genannt, bei der man etwas fühlt«. Aber alle waren sie Gräfinnen.

Der Zar Alexander, einer der beflissensten und ungefährlichsten Frauenfreunde seiner Epoche, ging am liebsten zur Bagration Tee trinken, dem »bel ange nu«, den wir noch von Dresden her in freundlicher Erinnerung haben. Sie neigte jetzt schon sehr zur Üppigkeit, aber je mehr Stoff sie für ihre Kleider gebraucht hätte, desto weniger gönnte sie sich und desto mehr machte sie aus der Ausstellung ihrer Reize eine Weltausstellung. Was Metternich betraf, so war sie seine Geliebte gewesen und eine augenblicklich zurückgesetzte Geliebte geblieben. Kein Wunder, daß sich das Verhältnis zwischen dem Zaren und ihm auf dem Kongreß von einem Teebesuch zum anderen, den Alexander bei Madame Bagration machte, immer mehr verschlechterte. Wäre sie die Geliebte des Zaren geworden, so wäre es wahrscheinlich zum Krieg zwischen Rußland und Österreich gekommen, aber es kam nur zu einem diplomatischen Aufmarsch. Weiter brachte es die Bagration mit allen ihren freigebigen Toilettekünsten bei Alexander schließlich doch nicht.

Fürstin Bagration wohnte im fürstlich Palmschen Hause, gleich um die Ecke herum, wenn man von der Hofburg kam, und im gleichen Hause, das noch heute steht, wohnte »maigre et ardente« in einem anderen Flügel die Herzogin von Sagan, Metternichs Dauergeliebte und Herzensmarketenderin auf dem französischen Kriegsschauplatz. Welch eine Situation, diese 141 beiden Bienenköniginnen, in eben demselben gesellschaftlichen Bienenhaus, in dem bei Tag und Nacht die Besucher aus- und einflogen. Wenn der österreichische Staatskanzler zu seiner Schönen die ausgewetzte Treppe des alten Palais hinaufschlich, schlich auf einer anderen Treppe, vielleicht sogar auf derselben, der russische Selbstherrscher von seiner Schönen die Treppe herunter. Übrigens schlichen noch andere, vor allem der junge Fürst Windischgrätz, zur »Frau, die liebt, wie man diniert«. Wieder einmal ließ der alte Adel Metternich fühlen, daß er doch nur ein Zugewanderter war. Sein Leben, reich an Erntesegen, war jetzt im Hochsommer angelangt. Es gab schwüle Himmel und nachher Gewitter. Die Sagan, als eine Frau der leichten Stunden, machte es ihm nicht immer leicht, was schon die Zeitgenossen mit Befriedigung feststellten. Mit Befriedigung; denn warum soll ein Mann alles haben? Das dachte auch die Sagan.

Es geht die Sage, daß ein über die Nacht ausgedehnter Besuch Metternichs bei der schönen Herzogin Österreich einen beträchtlichen Teil Bayerns gekostet hat. Bayern sollte ihn abtreten und dafür durch eine saftige Schnitte Italiens entschädigt werden. Es war alles bereits aufs beste geregelt und am nächsten Vormittag sollte der Vertrag in feierlicher Sitzung unterschrieben werden. Doch wartete man in dieser Sitzung vom 11. November 1814 vergeblich auf den österreichischen Plenipotentiär, Fürst Metternich, der verschlafen hatte. Bayern besann sich und trat von der bereits erfolgten Abmachung in letzter Stunde doch wieder zurück. Eine reichsdeutsche Legende. Wenn Metternich an diesem Novembermorgen verschlief, so wußte er natürlich warum. Er hätte sich gewiß gerne, noch über Salzburg hinaus, ein Stück Bayern vergönnt, aber er gönnte Bayern nicht das in Aussicht gestellte Stück Italien. Der Besuch bei der Sagan und seine nachteiligen Folgen waren nur eine Ausrede, die den Wienern Spaß machen 142 sollte; in Wirklichkeit war es ganz anders. Er hatte sich nur vergessen, weil er sich rechtzeitig erinnert hatte, daß es zweckmäßiger wäre, sich zu vergessen. Noch wenn er zerstreut war, geschah es nicht ganz ohne Absicht. Auch hierin glich er seinem Meister Talleyrand, der, als er starb, einem überraschten Zeitgenossen den Ausruf entlockte: »Was mag er damit beabsichtigt haben?«

Die schöne Herzogin von Sagan hatte eine ebenso schöne Schwester, die Gräfin von Périgord, die wieder Talleyrands Herzenstrost war. Auch hier ergeben sich Lustspielbeziehungen zwischen den beiden Matadoren der Politik und den mediatisierten Schwestern, von denen jede ihren Platz auf der Landkarte eifersüchtig behauptete. Die beiden Damen im selben Hause zettelten und schürten; in Wien nannte man sie »les deux Sibylles«. Es war eine mythologische Zeit, und wenn der alte Prince de Ligne ein Gedicht über den Kongreß machte, mußte stets der ganze Olymp ausrücken. Zwischen Venus, Mars und Kupido spielte sich für ihn alles und jedes ab.

Der alte Herr war selbst kein Kostverächter. Bei einem Stelldichein auf der Bastei mitten im Winter zog der Achtzigjährige sich eine Erkältung zu, der er im dritten Monate des Kongresses erlag, nicht ohne vorher eines jener Worte abgeschnellt zu haben, die erfahrene Lustspieldichter einer abgehenden Figur gern in den Mund legen. »Dem Wiener Kongreß hat bisher nichts als das Schauspiel einer Marschallsleiche gefehlt«, soll der sterbende Marschall gesagt haben. Nun gewährte er den Wienern nach manchem Feuerwerk des Geistes auch noch dieses funebre Glanzstück. Sein schmalbrüstiges Haus auf der Mölkerbastei, in dessen Oberstock er wohnte – die Stange des Papageien nannten es die Wiener – war mit einem Male leer. Es war rosenrot gewesen, wie die Laune seines Besitzers; auch die Livreen seiner Bedienten waren rosenrot mit Silbertressen, und so war auch sein Stil: ein lackiertes Nichts, mit 143 Rosenbändern witzig umwickelt. Metternich verdankt seiner vorbildlichen Anmut, auch Anmut des Geistes und Herzens, manches. Man wüßte gerne, ob er bei seinem Leichenbegängnis mitgegangen ist. Aber freilich, es war ein bißchen weit bis zum Kahlenberg hinauf, wo der Fürst von Ligne unter wiegenden Baumwipfeln noch heut' begraben ist. Kein Wiener Grab liegt höher.

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Der Wiener Kongreß bedeutete den Höhepunkt in Metternichs Lebensgeschichte wie in der Geschichte Wiens. Damals zum ersten Male weitete die »Kaiserstadt« sich zur Weltstadt, die sie dann ein Jahrhundert lang blieb. Doch darf man daraus nicht den Schluß ziehen, daß Metternich um dieses seines Verdienstes willen in Kongreß-Wien wie auch späterhin besonders beliebt gewesen wäre. Das Gegenteil war der Fall. Er war höchst unbeliebt, ja beinahe verhaßt.

Man steht angesichts solcher Unbeliebtheit, die diesem Günstling des Glücks zeitlebens anhaftete, vor einem Rätsel, das die traditionelle Undankbarkeit Wiens nur teilweise löst. Es muß auch noch etwas anderes im Spiele gewesen sein, etwas, das mit seiner Persönlichkeit und seinem Schicksal inniger zusammenhing. Vielleicht waren es seine vielen Weibergeschichten. Er hatte, wie Graf Leicester, in Schillers »Maria Stuart«: in jedem Weiberrat bestochne Richter sitzen. Das mag ihn die Zuneigung der anderen Ratsmitglieder und ihrer Vorsitzenden, der öffentlichen Meinung, sowie ihres männlichen Anhangs gekostet haben.

Wenn man Metternichs gesellschaftliche und geschichtliche Stellung im Wien des Siegesfestes überblickt, so muß man sagen, daß er mit Ausnahme seines Kaisers alle gegen sich hatte: die Kaiserin, die Erzherzoge, die Hochadeligen – 144 »Starhemberg und Co.« scherzten die Wiener –, die »Patrioten«, die Minister, die es nicht mehr waren, und die »Teutschen«, die es nicht werden konnten. Sie fühlten sich von ihm nicht ganz mit Unrecht genasführt und geprellt; denn er wollte kein mächtiges und einiges Deutsches Reich, er wollte ein national ohnmächtiges, und er schuf ihm Hindernisse der nationalen Einigung, statt sie zu beseitigen. Das ist richtig; doch sollte man denken, daß ihm dafür die überzeugten Österreicher, die Preußenhasser, die »Schwarzgelben« hätten erkenntlich sein müssen. Ganz im Gegenteil waren sie seine schlimmsten, seine unerbittlichsten Gegner. Die Wallis, die Schwarzenberg, die Chotek – von dem durch ihn beerbten Stadion nicht zu reden – hatten alle etwas gegen ihn; und diese Gegnerschaft reichte weit ins Bürgertum und Kleinbürgertum herunter. Die eine Hälfte der Wiener verübelte ihm, daß er Marie Louise mit Napoleon verheiratet hatte, die andere Hälfte, daß er Napoleon zu spät verraten hatte. Übrigens gab es in beiden Hälften unter diesen nicht immer unbezahlten Wiener Patrioten sogar etwelche, die ihm den Abfall von Napoleon verübelten.

Die Gesandten und ausländischen Würdenträger lassen auch kein gutes Haar an ihm. Diesen tut er zuviel, jenen wieder viel zuwenig. »Ein guter Diplomat«, heißt es von ihm, »aber ein schlechter Minister.« – »Unternehmend«, sagt ein anderer, »ist er nur, wenn er mit einer Frau allein ist!« Das ist auch die Meinung alter Damen, die nicht müde werden, den Allzu-Umworbenen auf ihren Teekränzchen rastlos zu verleumden. »Die arme Fürstin! . . .«, heißt es dann wohl von seiner Frau: »Aber um am Montag seine Gäste zu empfangen, dazu ist sie ihm gut genug, die arme Lori!« Die Exzellenzen denken nicht anders. »Er läßt zwei Botschafter im Vorzimmer warten, während er mit seiner Tochter lebende Bilder stellt«, murrt etwa der preußische Geschäftsträger Humboldt. Das war schon richtig. Es war 145 Metternichs Tochter Marie, ein halbwüchsiges Mädchen damals, das ihm unter allen seinen Kindern am nächsten stand (Frauenmann auch hier!). Und nun erst die Kirche, der päpstliche Sekretär Monsignore Evangelisti! Er sieht in Metternich geradezu einen Verlorenen, »den Mysterien der Isis, der Ceres und der Freimaurerei ergeben!«

Auch die anwesenden Majestäten waren ihm nicht grün. Der König von Dänemark beklagt sich, weil Metternich sitzend mit ihm spricht. Der König von Preußen, den sie in Wien den König »Infinitiv« nennen, weil er es für sein preußisches Vorrecht hält, das Zeitwort nicht zu konjugieren, wird sich wohl wiederholt höchst mißfällig über ihn geäußert haben: »Auf Fürst Metternich kein Verlaß sein. Mann uns betrügen wollen. Heftigen Auftritt gehabt! Längere Zeit nicht mehr sehen wollen!« Der schlimmste aber war der von der Bagration mit Teebrötchen aufgestachelte Zar Alexander, der auch bei Polen, als ob Polen eine schöne Frau wäre, durchaus den Liberalen spielen wollte. Einmal schreit er Metternich an: »Sie sind der einzige Mann in Österreich, der so mit mir zu sprechen wagt!« Ein andermal wirft er in einer Unterredung seinen Degen auf den Tisch und fordert Metternich zum Duell. Dann geht er wochenlang in allen Gesellschaften wortlos und grußlos an ihm vorüber. Schließlich werden sie wieder gut, und Metternich setzt alles durch. Er versöhnt Preußen, indem er ihm ein Stück von Sachsen und von Polen überläßt, dessen Rest dann der Zar, sich über seinen eigenen Liberalismus hinwegsetzend, einsteckt, indem er es zu Rußland schlägt.

Überhaupt stellte sich, als der Kongreß zu Ende ging, immer offensichtlicher heraus, daß ein Staatsmann auf einer gewissen Stufe durch seine Unbeliebtheit mehr erreicht als durch die gewinnendste Beliebtheit. Alle hatten ihn verleumdet, manche hatten ihn besiegen wollen, und einige, wie Talleyrand, in Teilgefechten sogar wirklich besiegt. Aber als man schließlich 146 Inventur machte, trat zu Tage, daß von allen in Wien vertretenen Staaten Österreich doch am besten abgeschnitten hatte. Es erhielt die Lombardei mit Venetien, ein Stück Illyrien, ein großes Stück Galizien und das liebliche Salzburg, dessen internationale Sommergäste, wenn sie ein Jahrhundert später vor einem Reinhardtschen Spektakel saßen, gewiß am wenigsten daran dachten, daß sie dieses österreichischeste Stück Österreich dem unbedankten Metternich verdankten.

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Der Wiener Kongreß hatte und hat keinen guten Ruf bei deutschen Geschichtsprofessoren; denn er besaß den in ihren Augen unverzeihlichen Fehler, amüsant zu sein. Von diesem Vorwurf ist er tatsächlich nicht freizusprechen, doch entsteht die Frage, ob wirklich nur der Langweile, wie der deutsche Gelehrte ein Jahrhundert lang gerne annahm, säkulare Bedeutung zukommt. In Wien, sagen diese Schulmeister in ihrer überheblichen Art, wird immer nur geschwätzt und nichts geleistet. Worauf ein Wiener Zeitungsschreiber in Berlin einmal eine hübsche Antwort gab. Er unterbrach seine Berliner Kollegen, die diese Meinung in seiner Gegenwart unerbittlich aufrecht hielten, schließlich mit der bescheidenen Gegenäußerung: »Gearbeitet wird auch in Wien. Nur das Gespräch über die Arbeit ist in Berlin besser organisiert.« Dasselbe gilt auch vom Wiener Kongreß, wenn man ihn etwa mit dem Berliner Kongreß von 1878, der anderen und besser organisierten großen Veranstaltung gleicher Art, vergleicht. Und es gilt erst recht, setzt man ihn in Vergleich mit der großen Tagung von Versailles, ein Jahrhundert später. Der Wiener Kongreß hatte eine europäische Ordnung geschaffen, die immerhin bis 1914 standhielt. Das Bündnis zwischen Österreich, Rußland und Preußen war der Garant dieses Dauerzustandes. und erst 147 als es zusammenbrach, sah Bismarck, der unverbrüchlich daran festgehalten hatte, mit Recht das Chaos herandrohen. Zwischen dem Wiener Kongreß und dem Sturze Bismarcks liegt ein Zeitraum von achtzig Jahren, und wenn sich diese acht Jahrzehnte zu einem perikleischen Zeitalter der europäischen Menschheit gestalteten, so ist das zu nicht geringem Teile auch das Verdienst des gesellschaftsfrohen Wiener Kongresses und desjenigen, der ihn ins Leben gerufen hat, ohne über diesem Ruf das Leben zu vergessen. »Eh' er singt und eh' er aufhört – muß der Dichter leben!« sagt Goethe. Aber warum nur der Dichter? Warum nicht auch der Staatsmann? Ein natürlich empfindender Mensch zu sein, wird immer seine wertvollste Eigenschaft bleiben. Metternich, mit allen seinen Fehlern, hatte sie. 148

 


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