Aristoteles
Nikomachische Ethik
Aristoteles

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Siebentes Kapitel.

Ist aber die Glückseligkeit eine der Tugend gemäße Tätigkeit, so muß dieselbe natürlich der vorzüglichsten Tugend gemäß sein, und das ist wieder die Tugend des Besten in uns. Mag das nun der Verstand oder etwas anderes sein, was da seiner Natur nach als das Herrschende und Leitende auftritt und das wesentlich Gute und Göttliche zu erkennen vermag, sei es selbst auch göttlich oder das Göttlichste in uns: – immer wird seine seiner eigentümlichen Tugend gemäße Tätigkeit die vollendete Glückseligkeit sein.

Daß diese Tätigkeit theoretischer oder betrachtender Art ist, haben wir bereits gesagt. Man sieht aber auch, daß das sowohl mit unseren früheren Ausführungen wie mit der Wahrheit übereinstimmt.

Denn zunächst ist diese Tätigkeit die vornehmste. Der Verstand oder die Vernunft ist nämlich das Vornehmste in uns, und die Objekte der Vernunft sind wieder die vornehmsten im ganzen Felde der Erkenntnis.

Sodann ist sie die anhaltendste. Anhaltend betrachten oder denken können wir leichter, als irgend etwas Äußerliches anhaltend tun.

Ferner geht die gemeine Meinung dahin, daß die Glückseligkeit mit Lust verpaart sein muß. Nun ist aber unter allen tugendgemäßen Tätigkeiten die der Weisheit zugewandte eingestandenermaßen die genußreichste und seligste. Und, in der Tat bietet das Studium der Weisheit Genüsse von wunderbarer Reinheit und Beständigkeit, selbstredend ist aber der Genuß noch größer, wenn man schon weiß, als wenn man erst sucht.

Auch was man Selbstgenüge nennt, findet sich am meisten bei der Betrachtung. Was zum Leben erforderlich ist, dessen bedarf auch der Weise und der Gerechte und die Inhaber der anderen sittlichen Tugenden. Sind sie aber mit dergleichen ausreichend versehen, so bedarf der Gerechte noch solcher, gegen die und mit denen er gerecht handeln kann, und das gleiche gilt von dem Mäßigen, dem Mutigen und jedem anderen; der Weise dagegen kann, auch wenn er für sich ist, betrachten, und je weiser er ist, desto mehr; (1177b) vielleicht kann er es besser, wenn er Mitarbeiter hat, aber immerhin ist er sich selbst am meisten genug.

Und, von ihr allein läßt sich behaupten, daß sie ihrer selbst wegen geliebt wird. Sie bietet uns ja außer dem Denken und Betrachten sonst nichts; vom praktischen Handeln dagegen haben wir noch einen größeren oder kleineren Gewinn außer der Handlung.

Und, die Glückseligkeit scheint in der Muße zu bestehenHierzu macht Stahr S. 379 die folgende treffende Anmerkung: »In der Muße, d. h. in der von keiner Lebensnot verkümmerten Freiheit des Daseins. Das ist ein Begriff, der in seiner Erhabenheit ganz dem hellenischen Altertum angehört. Auch im römischen findet sich hier und da ein Abglanz davon; in unserer unruhigen, rastlos arbeitenden Zeit scheint er verloren gegangen zu sein. Edle Muße, mit edelster Geistestätigkeit erfüllt, ist dem großen Stagiriten der Zweck der Lebensarbeit.« Dennoch scheint Stahr in dem Begriffe der σχολή, der Muße, etwas übersehen zu haben. Man hat Muße, wenn einem nichts mehr zu tun übrig bleibt, und das ist der Fall, wenn man sein Ziel erreicht hat. Darum sagt Aristoteles: ασχολούμεθα, ίνα σχολάζωμεν, und spricht von dem Kriege um des Friedens willen. Die Muße bedeutet die Erreichung des Zieles: sie ist die Ruhe des Strebevermögens im Besitze seines geliebten Gegenstandes. . Wir opfern unsere Muße, um Muße zu haben, und wir führen Krieg, um in Frieden zu leben. Die praktischen Tugenden nun äußern ihre Tätigkeit im bürgerlichen Leben oder im Kriege. Die Aktionen auf diesen Gebieten aber dürften sich mit der Muße kaum vertragen. Die kriegerische Tätigkeit schon gar nicht. Niemand will Krieg und Kriegsrüstungen des Krieges wegen. Denn man müßte als ein ganz blutdürstiger Mensch erscheinen, wenn man sich seine Freunde zu Feinden machte, nur damit es Kampf und Blutvergießen gäbe. Aber auch die friedliche Tätigkeit im Dienste des Gemeinwesens verträgt sich nicht mit der Muße und verfolgt neben der Besorgung der öffentlichen Angelegenheiten selbst den Besitz der Macht und den Genuß der Ehren oder doch das wahre Lebensglück für die eigene Person und die Mitbürger, als ein Ziel, das vom Staatsdienst verschieden ist, und das wir Menschen auch durch das Leben in der staatlichen Gemeinschaft zu erreichen suchen, selbstverständlich als etwas von diesem Leben selbst Verschiedenes. Wenn also nun zwar unter allen tugendhaften Handlungen diejenigen, die sich um Staat und Krieg drehen, an Schönheit und Größe obenan stehen, und sie gleichwohl mit der Muße unvereinbar und auf ein außer ihnen liegendes Ziel gerichtet sind und also nicht ihrer selbst wegen begehrt werden, und wenn dagegen die Tätigkeit der Vernunft, die denkende, ebensowohl an Ernst und Würde hervorragt, als sie keinen anderen Zweck hat, als sich selbst, auch eine eigentümliche Lust und Seligkeit in sich schließt, die die Tätigkeit steigert, so sieht man klar, daß in dieser Tätigkeit, so weit es menschenmöglich ist, das Selbstgenüge, die Muße, die Freiheit von Ermüdung und alles, was man sonst noch dem Glückseligen beilegt, sich finden muß. Und somit wäre dies die vollendete Glückseligkeit des Menschen, wenn sie auch noch die volle Länge eines Lebens dauert, da nichts, was zur Glückseligkeit gehört, unvollkommen sein darfMan sieht hieraus sehr klar, daß Aristoteles mit der Eudämonie, die in der Ethik erörtert wird, nur die diesseitige meint. Ebenso klar zeigt dieser Absatz, daß nach Aristoteles das Leben des Geistes und die Erkenntnis und Verbreitung der Wahrheit nicht blos das letzte Ziel des Einzelnen, sondern eben darum auch des Staates ist. Seine höchste Aufgabe ist die Schaffung und Erhaltung solcher Zustände, die möglichst vielen Angehörigen des Staates das Leben nach dem Geiste ermöglichen. In diesem Sinne schreibt Thomas v. Aquin in seinem Kommentar zu dieser Stelle X, lect. XI: »Ad felicitatem speculativam tota vita politica videtur ordinata; dum per pacem, quae per ordinationem vitae politicae statuitur et conservatur, datur hominibus facultas contemplandi veritatem.« .

Aber das Leben, in dem sich diese Bedingungen erfüllen, ist höher, als es dem Menschen als Menschen zukommt. Denn so kann er nicht leben, insofern er Mensch ist, sondern nur insofern er etwas Göttliches in sich hatInsofern er Mensch ist, ist er vernünftiges Sinnenwesen, Zusammensetzung aus Leib und Seele, und dem entspricht ein Leben körperlicher und sinnlicher Empfindung und Tätigkeit. Insofern er darum dem Denken, der θεωρία, obliegt, lebt er nicht als Mensch, sondern insofern er etwas Göttliches in sich hat, den Geist, durch den er Gott ähnlich ist. . So groß aber der Unterschied ist zwischen diesem Göttlichen selbst und dem aus Leib und Seele zusammengesetzten Menschenwesen, so groß ist auch der Unterschied zwischen der Tätigkeit, die von diesem Göttlichen ausgeht, und allem sonstigen tugendgemäßen Tun. Ist nun die Vernunft im Vergleich mit dem Menschen etwas Göttliches, so muß auch das Leben nach der Vernunft im Vergleich mit dem menschlichen Leben göttlich sein.

Man darf aber nicht jener Mahnung Gehör geben, die uns anweist, unser Streben als Menschen auf Menschliches und als Sterbliche auf Sterbliches zu beschränken, sondern wir sollen, so weit es möglich ist, uns bemühen, unsterblich zu sein, und alles zu dem Zwecke tun, dem Besten, (1178a) was in uns ist, nachzuleben. Denn ob auch klein an Umfang, ist es doch an Kraft und Wert das bei weitem über alles Hervorragende. Ja, man darf sagen: dieses Göttliche in uns ist unser wahres Selbst, wenn anders es unser vornehmster und bester Teil ist. Mithin wäre es ungereimt, wenn einer nicht sein eigenes Leben leben wollte, sondern das eines anderen. Und was wir oben gesagt, paßt auch hieher. Was einem Wesen von Natur eigentümlich ist im Unterschiede von anderen, ist auch für dasselbe das Beste und Genußreichste. Also ist das für den Menschen das Leben nach der Vernunft, wenn anders die Vernunft am meisten der Mensch ist. Mithin ist dieses Leben auch das glückseligste.


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