Aristoteles
Nikomachische Ethik
Aristoteles

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Fünftes Kapitel.

Kommen wir nun wieder auf das fragliche Gut zurück, um zu ermitteln, was es sein möge. Wir sehen, daß es in jeder Tätigkeit und Kunst immer ein anderes ist: ein anderes in der Medizin, in der Strategik u. s. w. Was ist nun also das eigentümliche Gut einer jeden? Doch wohl das, wegen dessen in jeder alles andere geschieht. Das wäre in der Medizin die Gesundheit, in der Strategik der Sieg, in der Baukunst das Haus, in anderen Künsten wieder ein anderes, und bei allem Handeln und Wollen das Ziel. Dieses ist es immer, wegen dessen man das übrige tut. Wenn es daher für alles, was unter die menschliche Handlung fällt, ein gemeinsames Ziel gibt, so ist dieses das durch Handeln erreichbare Gut, und wenn mehrere, diese. So ist denn unsere Erörterung auch auf diesem Wege wieder zu dem gleichen Ergebnisse gelangt. Jedoch müssen wir versuchen, dasselbe noch besser zu verdeutlichen.

Da der Ziele zweifellos viele sind und wir deren manche nur wegen anderer Ziele wollen, so leuchtet ein, daß sie nicht alle Endziele sind, während doch das höchste Gut ein Endziel und etwas Vollendetes sein muß. Wenn es daher nur ein Endziel gibt, so muß dieses das Gesuchte sein, und wenn mehrere, dasjenige unter ihnen, welches im höchsten Sinne Endziel ist. Als Endziel in höherem Sinne gilt uns das seiner selbst wegen Erstrebte gegenüber dem eines andern wegen Erstrebten und das, was niemals wegen eines anderen gewollt wird, gegenüber dem, was ebenso wohl deswegen wie wegen seiner selbst gewollt wird, mithin als Endziel schlechthin und als schlechthin vollendet, was allezeit seinetwegen und niemals eines anderen wegen gewollt wird. Eine solche Beschaffenheit (1097b) scheint aber vor allem die Glückseligkeit zu besitzen. Sie wollen wir immer wegen ihrer selbst, nie wegen eines anderen, während wir die Ehre, die Lust, den Verstand und jede Tugend zwar auch ihrer selbst wegen wollen (denn wenn wir auch nichts weiter von ihnen hätten, so würden uns doch alle diese Dinge erwünscht sein), doch wollen wir sie auch um der Glückseligkeit willen in der Überzeugung eben durch sie ihrer teilhaftig zu werden. Die Glückseligkeit dagegen will keiner wegen jener Güter und überhaupt um keines anderen willen.

Zu demselben Ergebnisse mag uns der Begriff des Genügens führen. Das vollendet Gute muß sich selbst genügen. Wir verstehen darunter ein Genügen nicht blos für den Einzelnen, der für sich lebt, sondern auch für seine Eltern, Kinder, Weib, Freunde und Mitbürger überhaupt, da der Mensch von Natur für die staatliche Gemeinschaft bestimmt ist. Indessen muß hier eine Grenze gezogen werden. Denn wollte man dies noch weiter auf die Vorfahren und Nachkommen und auf die Freunde der Freunde ausdehnen, so käme man an kein Ende. Dies soll später in Betracht genommen werden. Als sich selbst genügend gilt uns demnach das, was für sich allein das Leben begehrenswert macht und keines weiteren bedarf. Für etwas Derartiges aber halten wir die Glückseligkeit, ja, für das Allerbegehrenswerteste, ohne daß sie mit anderem, was man auch begehrt, von gleicher Art wäre. Denn wäre sie das, so würde sie offenbar durch den Hinzutritt des kleinsten Gutes noch in höherem Grade begehrenswert werden, da das Hinzugefügte ein Mehr des Guten bedeutet und das größere Gut auch naturgemäß immer mehr begehrt wird.

Also: die Glückseligkeit stellt sich dar als ein Vollendetes und sich selbst Genügendes, da sie das Endziel alles Handelns ist.


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