Aristoteles
Nikomachische Ethik
Aristoteles

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Sechszehntes Kapitel.

Zu Differenzen kommt es auch in den auf Überlegenheit beruhenden Freundschaften. Jeder verlangt da, mehr zu bekommen, und wenn das geschieht, löst sich die Freundschaft auf. Der Bessere meint, ihm gebühre es, mehr zu erhalten, da dem Guten und Tüchtigen mehr zugeteilt werde; dasselbe meint der, der mehr Nutzen gewährt. Wer nichts leiste, so heißt es, dürfe auch nicht das gleiche haben; es sei ein Ehrendienst, wie man ihn wohl dem Staate leistet, aber kein Freundesverhältnis, wenn die Beweise der Freundschaft sich nicht nach dem Werte der Leistungen richteten. Nämlich man stellt sich vor, es müsse in der Freundschaft zugehen wie bei einem gemeinschaftlichen Handel, wo auf den größeren Einsatz auch der größere Gewinn trifft. Der Bedürftige dagegen und der minder Gute und Tüchtige nimmt die Sache umgekehrt: er denkt, ein guter Freund sei verpflichtet, dem bedürftigen Freunde zu helfen. Denn, so sagt man, was nützt es, einem trefflichen oder einflußreichen Mann befreundet zu sein, wenn man keinen Vorteil davon haben soll?

(1163b) Hier kann man nun den Anspruch beider Teile für begründet ansehen und sagen, daß jeder auf Grund des Freundschaftsverhältnisses dem anderen mehr leisten muß; aber der Gegenstand dieses Mehr kann nicht derselbe sein, vielmehr gebührt dem überlegenen Teil mehr Ehre, dem bedürftigen mehr Gewinn. Denn der Lohn der Tugend und Wohltat ist die Ehre; was aber der Bedürftigkeit Hülfe bringt, ist der Gewinn. Daß dem so ist, zeigt sich auch im staatlichen Leben: wer der Gemeinschaft nichts gutes leistet, genießt auch keine Ehre. Denn was das Gemeinwesen gewähren kann, wird dem zuteil, der um das Gemeinwesen sich verdient macht, das aber ist die Ehre. Es geht nämlich nicht an, daß einer vom Gemeinwesen Geldvorteil und Ehre zugleich erhält, und ebenso erträgt es niemand, in allen Stücken zu kurz zu kommen. Wer darum bei dem Gelde zu kurz gekommen ist, wird durch Ehre entschädigt, und wer gern Geschenke nimmt, erhält Geld. Denn das Verhältnismäßige stellt den Ausgleich her und erhält die Freundschaft, wie wir gesagt haben. In dieser Weise müssen also auch die Beziehungen unter ungleichen Freunden geregelt werden, und wer aus der Freundschaft materielle Vorteile zieht oder durch sie in der Tugend und Tüchtigkeit gefördert wird, der muß es dem anderen mit Ehre vergelten, so viel als er kann. Denn die Freundschaft verlangt nur das Mögliche, nicht das Gebührende. Letzteres ist auch gar nicht in allen Verhältnissen möglich, wie z. B. bei der Ehre, die den Göttern zu erweisen ist und den Eltern; da kann niemand nach Würden vergelten, und wer ihnen gegenüber nur nach Kräften seine Schuldigkeit tut, gilt für rechtschaffen.

Darum muß es auch als unstatthaft gelten, daß ein Sohn sich von seinem Vater lossagt, wohl aber darf ein Vater sich von seinem Sohne lossagen. Denn wer schuldet, muß bezahlen, der Sohn aber kann mit allem, was er tut, die empfangenen Wohltaten nicht nach Würden vergelten, und so bleibt er immer in der Schuld. Dem Schuldherrn dagegen steht es frei, den Schuldner aus der Pflicht zu entlassen, mithin auch dem Vater. Gleichzeitig kommt hier in betracht, daß vielleicht kein Vater sich von seinem Sohne trennt, wenn derselbe nicht ein ausgesucht lasterhafter Mensch ist. Denn abgesehen von der natürlichen Liebe und Freundschaft, ist es den Menschen angetan, eine Hilfe nicht von sich zu stoßen. Wenn der Sohn dagegen nichtswürdig ist, so erscheint ihm die seinem Vater zu leistende Hilfe als etwas, dem man sich entziehen oder wofür man sich doch nicht besonders erwärmen muß. Denn Gutes empfangen wollen alle, aber gutes zu tun hütet man sich, weil es nichts einbringt.

So viel über diese Dinge.


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