Aristoteles
Nikomachische Ethik
Aristoteles

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Siebentes Kapitel.

Da nun also der Zweck Gegenstand des Wollens ist und die Mittel zum Zweck Gegenstand der Überlegung und Willenswahl, so sind wohl die auf diese Mittel gerichteten Handlungen frei gewählt und freiwilligMan vergleiche auch zu diesem Kap. die Anm. 58 im 1. Kapitel! . In solchen Handlungen bestehen aber die Tugendakte. Aber auch die Tugend wie das Laster steht bei uns. Denn wo das Tun in unserer Gewalt ist, da ist es auch das Unterlassen, und wo das Nein, da auch das Ja. Wenn demnach die tugendhafte Handlung bei uns steht, so steht auch deren tugendwidrige Unterlassung bei uns, und wenn die tugendhafte Unterlassung bei uns steht, so steht auch die tugendwidrige Begehung bei uns. Steht es aber bei uns, das Gute und das Böse zu tun und zu unterlassen – und das machte nach unserer früheren Darlegung die Tugendhaftigkeit und Schlechtigkeit der Person aus –, so steht es folgerichtig bei uns, sittlich und unsittlich zu sein.

Demnach ist der Ausspruch, daß »mit Willen schlecht und ungern glücklich keiner ist«, teils falsch, teils wahrMan weiß nicht, von wem dieser Ausspruch ist. – Die Ausführungen in diesem Kapitel sind gegen Platos Satz gerichtet, daß alle Verfehlung unfreiwillig oder auch durch mangelndes Wissen verschuldet ist; man sehe z. B. Gesetze, IX, 860 D und Protagoras 357 ff. In der großen Ethik I, 9. 1187a7 wird auch ausdrücklich gegen den vorgeblichen Satz des platonischen Sokrates, es sei nicht in unserer Gewalt, tugendhaft oder schlecht zu sein, Stellung genommen, wie auch in unserer Ethik VII, 3 gegen seine Lehre, es sei unmöglich, gegen besseres Wissen zu handeln. Plato wird aber im Grunde über die Freiheit und Verantwortlichkeit des Menschen kaum anders als Aristoteles gedacht haben. Er unterschied erstens zwischen schlecht sein und schlechtes tun und meinte, wer schlechtes tue, wolle doch nicht schlecht sein. Er nahm zweitens das Wort Freiheit und Freiwilligkeit in dem idealen Sinne, in dem eigentlich nur das frei und freiwillig ist, was der höhere, von Leidenschaft, Begierde und Zorn, unberührte und unbewegte Wille beschließt. Er nahm drittens das Wort Wissen, επιστήμη, im Sinne des vollkommenen Wissens, das wirklich mit keinem überlegten Fehltritt vereinbar ist, da das Fehlen vielmehr voraussetzt, daß das Wissen entweder schon anfangs unvollkommen war, oder in der Folge durch eigene Schuld, unter dem Einflüsse der Begierde, getrübt und gestört wird. – Vgl. über Plato bezw. Sokrates weiter unten III, 11, 1116b 4, wo sich Aristoteles auf den Schluß des Protagoras bezieht, ebd. VI, 13. 1144b. 17-28. . Niemand ist unfreiwillig glücklich, aber die Schlechtigkeit ist etwas Freiwilliges. Oder man müßte unsere Ausführungen von vorhin anzweifeln und läugnen, daß der Mensch das Prinzip und der Urheber seiner Handlungen sei, wie er auch der Vater seiner Kinder ist. Muß man uns aber beipflichten, und können wir unsere Handlungen auf keine anderen Prinzipien als auf solche zurückführen, die in unserer Macht stehen, so folgt notwendig, daß wessen Prinzip bei uns steht, das auch selbst bei uns steht und freiwillig ist.

Dafür legen nicht blos die Einzelnen für sich, sondern auch die Gesetzgeber selbst Zeugnis ab. Denn sie züchtigen und strafen die, welche Böses tun, so weit es nicht aus Zwang oder unverschuldeter Unwissenheit geschehen ist; die aber das Gute tun, zeichnen sie aus, wobei ihre Absicht ist, die einen zu ermuntern, die anderen abzuschrecken. Niemand aber muntert zu Dingen auf, die nicht bei uns stehen und nicht freiwillig sind, da es gar nichts nützen könnte, wenn man sich überreden ließe, keine Hitze oder Schmerz oder Hunger oder sonst dergleichen zu empfinden. Denn man empfände es doch. Selbst die Unwissenheit bestraft das Gesetz, wenn sich herausstellt, daß man an derselben selber schuld ist. So trifft die, die sich in der Trunkenheit vergehen, ein doppeltes Strafmaß, weil die Ursache in dem Betrunkenen selbst liegtVgl. Politik, Schluß des 2. Buches: »Dem Pittakus ist das Gesetz eigentümlich, nach dem die Betrunkenen, wenn sie jemanden geschlagen haben, strenger bestraft werden sollen, als die Nüchternen. Denn da Ruchlosigkeiten häufiger von Betrunkenen verübt werden als von Nüchternen, so wollte er die Rücksicht auf den Zustand der Trunkenheit als Entschuldigungsgrund weniger gelten lassen als den Nutzen, der in der Verhütung der Exzesse liegt.« Vgl. auch Rhetorik II, 25: »Wenn einer das Enthymema vorgebracht hat: den Betrunkenen muß man verzeihen; denn sie fehlen, ohne es zu wissen, so lautet der Einwurf: dann wäre also Pittakus nicht zu loben; denn hätte er so gedacht, so würde er nicht in seinen Gesetzen auf Vergehen eines Betrunkenen größere Strafen gesetzt haben.« . Es stand bei ihm, sich nicht zu betrinken. Die Trunkenheit aber war die Ursache seiner Unwissenheit. Auch die, welche eine Bestimmung der Gesetze nicht kennen, die sie kennen sollten (1114a) und unschwer kennen könnten, trifft Strafe. Ebenso wird es in Bezug auf alles andere gehalten, wo anzunehmen ist, daß jemand es aus Fahrlässigkeit nicht weiß, auf Grund der Erwägung, daß es bei dem Betreffenden stand nicht unwissend zu sein, da er Herr war, die nötige Sorgfalt anzuwenden.

Aber vielleicht ist er nun einmal so, daß er keine Sorgfalt anwendet. – Aber, daß man ein solcher geworden ist, ist man selber schuld, indem man sich gehen läßt; und daß man ungerecht und zügellos ist, ist man selber schuld, der eine dadurch, daß er fortgesetzt Unrecht begeht, der andere dadurch, daß er in Trinkgelagen und ähnlichen Dingen seine Zeit hinbringt. Denn die Akte, die man in einer bestimmten Richtung ausübt, machen einen zu einem solchen, wie man ist. Man sieht das an denen, die sich auf irgend einen Wettkampf oder ein Geschäft einüben. Sie tun dies, indem sie beharrlich die erforderlichen Akte verrichten.

Wenn man nicht weiß, daß Akte, die in bestimmter Richtung erfolgen, einen entsprechenden Habitus erzeugen, so nimmt sich das beinahe wie Stumpfsinn aus. Es ist aber auch unvernünftig, wenn man Unrecht tut und dabei nicht den Willen haben soll, ungerecht zu sein, und zuchtlos lebt und nicht den Willen haben soll, zuchtlos zu seinVgl. Anm. 66. . Wer mit klarer Erkenntnis tut, was ihn ungerecht macht, ist doch wohl freiwillig ungerecht. Dagegen wird er freilich nicht, wenn er nur will, aufhören, ungerecht zu sein, und gerecht werden, so wenig als ein Kranker auf diese Weise gesund werden wird, während dagegen seine Krankheit unter Umständen freiwillig ist, wenn er nämlich zügellos gelebt hat und den Ärzten nicht gefolgt ist. Einmal gewiß stand es ihm frei, nicht krank zu werden, jetzt aber, wo er sich hat gehen lassen, nicht mehr, so wenig einer den Stein, den er aus der Hand entlassen hat, wieder an sich nehmen kann. Und doch ist das Werfen und Schleudern des Steines seine freie Tat, weil das Prinzip davon in ihm liegt. Ebenso stand es dem Ungerechten und dem Zügellosen ursprünglich zwar frei, dies nicht zu werden, und deswegen sind sie es freiwillig. Nachdem sie es aber geworden sind, steht es ihnen nicht mehr frei, es nicht zu sein.

Aber nicht blos die fehlerhaften Beschaffenheiten der Seele sind freiwillig, bei manchen sind es auch die des Leibes, und diese Menschen tadeln wir denn auch. Wer von Natur mißgestaltet ist, den tadelt niemand, wohl aber den, der es aus Mangel an Gymnastik und durch Vernachlässigung seines Körpers ist. Ebenso hält man es mit Krankheiten und Gebrechen. Niemand macht einem Blinden Vorwürfe, wenn er es von Natur oder in Folge einer Krankheit oder eines Schlages ist, sondern man bemitleidet ihn vielmehr. Wer es dagegen in Folge von Trunkenheit oder sonstigen Ausschweifungen ist, den wird jedermann tadeln. Die verschuldeten körperlichen Fehler werden mithin getadelt, die unverschuldeten aber nicht. Wenn dem aber so ist, so müssen auch in den anderen Dingen diejenigen Fehler, die dem Tadel unterliegen, verschuldet sein.

Wollte man aber sagen, Alle strebten nach dem, was ihnen gut scheint oder was sie sich als gut vorstellen, sie seien aber nicht Herr ihrer Vorstellung, sondern wie einer (1114b) sei, so stelle er sich das Ziel vor, so ist zu erwiedern, daß wenn jedermann an einem Habitus, den er hat, in der oder jener Weise schuld ist, er in derselben Weise auch an seiner Vorstellung selber schuld sein muß. Soll aber niemand an dem Schlechten, was er tut, selber schuld sein, sondern es aus Unkenntnis des Zieles tun, indem er dadurch das Beste für sich zu erreichen glaubt, und will man gleichzeitig geltend machen, daß das Streben nach dem Ziele kein Gegenstand seiner Wahl ist, sondern einer gleichsam mit einem geistigen Gesichtssinn geboren sein muß, um vermöge desselben richtig zu urteilen und das wahrhaft Gute zu erwählen, und soll der von guter Art sein, bei dem dieses Vermögen gut geraten ist – ist es doch das Größte und Schönste, was man von keinem anderen empfangen und lernen, sondern nur so besitzen kann, wie die Natur es gegeben hat, und in dieser guten und schönen Naturbegabung besteht die vollkommene und wahre Wohlgeartetheit –, ist das also wahr, wie wäre dann die Tugend eher freiwillig als das Laster? Für beide, den guten und den schlechten Mann, ist ja das Ziel ebenmäßig entweder ein von Natur oder ein wie immer vorgestelltes und gegebenes, das andere aber beziehen sie auf das Ziel und tun es wie immer. Mag also das Ziel nicht von Natur einem jeden wie immer erscheinen, sondern man auch selbst etwas dazu tun, oder mag das Ziel natürlich, die Tugend aber dadurch freiwillig sein, daß das übrige von dem Tugendhaften freiwillig getan wird – die Verkehrtheit muß um nichts weniger freiwillig sein, weil dem schlechten Manne die gleiche Selbstbestimmung bezüglich seiner Handlungen, wenn auch nicht bezüglich des Zieles, zukommt. Wenn demnach die Tugenden, wie man behauptet, freiwillig sind – denn einerseits sind wir an unseren Beschaffenheiten irgend wie mit schuld, und anderseits hängt die Qualität des Zieles, das wir uns vorsetzen, von unserer eigenen Qualität ab –, so müssen auch die Laster freiwillig sein; denn beide verhalten sich gleich.


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