Aristoteles
Nikomachische Ethik
Aristoteles

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Dreizehntes Kapitel.

Da aber die Glückseligkeit eine der vollendeten Tugend gemäße Tätigkeit der Seele ist, so haben wir die Tugend zum Gegenstande unserer Untersuchung zu machen, da wir dann auch die Glückseligkeit besser werden verstehen lernen. Um die Tugend scheint auch der wahre Staatsmann sich am meisten zu bemühen, da er die Bürger tugendhaft und den Gesetzen gehorsam machen will. Ein Beispiel dafür haben wir an den Gesetzgebern der Kreter und Lacedämonier und wohl noch an einigen anderen dieser Art. Wenn sonach diese Betrachtung zur Staatskunst gehört, so bleibt unsere Untersuchung zweifellos dem eingangsbezeichneten Plane treu. Die Tugend aber, der unsere Betrachtung gilt, kann selbstverständlich nur die menschliche sein. Wir wollten ja auch nur das menschliche Gut und die menschliche Glückseligkeit zu ermitteln suchen.

Unter menschlicher Tugend verstehen wir aber nicht Tüchtigkeit des Leibes, sondern solche der Seele, wie wir ja auch unter der Glückseligkeit eine Tätigkeit der Seele verstehen. Ist aber dem also, so muß der Staatsmann und der Lehrer der Staatswissenschaft bis zu einem gewissen Grade mit der Seelenkunde vertraut sein, grade wie wer die Augen oder sonst einen Leibesteil heilen will, deren Beschaffenheit kennen muß, und zwar jener noch vielmehr als dieser, weil die Staatskunst viel würdiger und besser ist als die Heilkunst. In der Tat machen sich die tüchtigen Ärzte mit der Untersuchung des Körpers sehr viel zu schaffen. So muß nun auch der Lehrer der Staatskunst die Seele zum Gegenstande seiner Betrachtung machen, aber immer nur um der angegebenen Zwecke willen und soweit, als es für diese Zwecke genügt; noch genauer darauf einzugehen, ist wohl für die gestellte Aufgabe der Mühe zu viel.

Einiges aus der Seelenlehre ist nun in den exoterischenVgl. Kapitel 3 Anm. 17. Schriften ausreichend behandelt und mag hier Verwendung finden. So, daß die Seele einen unvernünftigen und einen vernünftigen Teil hat. Ob diese beiden Teile sich so von einander unterscheiden wie die Teile des Körpers und alles Teilbare, oder ob sie ihrer Natur nach untrennbar und nur dem Begriffe nach zwei sind wie die innere und äußere Seite der Kreisperipherie, ist für unseren Zweck gleichgültigDa mit diesem Kapitel der Kern des Buches, die Erörterung der Tugend, beginnt und die Tugend wie sie hier gemeint ist, der Seele angehört, so wird zum besseren Verständnis einiges aus der Seelenlehre vorausgeschickt. Sogar der Staatsmann, meint Aristoteles ganz im Sinne der sokratischen Philosophie, müsse einigermaßen in der Seelenlehre zu Hause sein. So unterscheidet er denn den rationalen und den irrationalen Seelenteil, das ist einerseits Verstand und Willen, anderseits Sinnlichkeit und vegetatives Vermögen. Die beiden Seiten des rationalen Teils entsprechen den beiden Klassen der Tugend, den dianoëtischen und den Charaktertugenden, die er vom 2. Buche an behandelt. Hier aber, an unserer Stelle, schickt er, wieder im Interesse der Systematik, die Bemerkung voraus, es müsse in unserer Disziplin unentschieden bleiben, ob die Seelenteile wie Teile des Körpers von einander getrennt oder nur dem Begriffe nach verschieden sind. Plato hatte die Vernunft in den Kopf verlegt, den Zorn oder Eifer oder wie man auch sagt, den iraszibeln Seelenteil in den oberen, die Begierde oder Lust oder den konkupiszibeln Seelenteil in den unteren Teil des Rumpfes, Timäus 69. Aristoteles will die Möglichkeit offen lassen, daß die Seelenvermögen sich nicht dem Orte und dem Subjekte, d. h. dem Träger nach unterscheiden, sondern nur dem Begriffe nach, wie die innere und die äußere Seite einer Kreislinie. Dieses Bild muß man richtig verstehen. Die Seelenkräfte, Verstand und Sinnlichkeit, sind auf keinen Fall nur der Betrachtungsweise nach verschieden, sondern real als zwei Vermögen der einen und ungeteilten Seelensubstanz, ja, sie sind auch ihrem Träger nach verschieden, insofern der Verstand ausschließlich im Geiste seinen Sitz hat, die Sinnlichkeit aber in dem Ganzen aus Geist und Körper. . In dem unvernünftigen Vermögen ist wieder ein Teil wie ein allem Lebendigen Gemeinsames, nämlich das vegetative Vermögen, das Prinzip der Ernährung und des Wachstums. Denn ein solches Seelenvermögen ist wohl in (1102b) allem, was sich ernährt, schon für die Embryonen anzunehmen und ebenso für die ausgebildeten Individuen, und zwar mit besserem Fug und Grunde als irgend ein anderes. Dasselbe hat nun offenbar eine generelle, nicht die spezifisch menschliche Vollkommenheit. Denn dieser Teil und dieses Vermögen scheint ganz besonders im Schlafe tätig zu sein; im Schlafe aber sind der Gute und der Schlechte am wenigsten zu erkennen. Daher auch das Sprüchwort: Zwischen den Glücklichen und den Unglücklichen ist ihr halbes Leben lang kein Unterschied. Dies ist auch nicht auffallend. Denn der Schlaf ist eine Untätigkeit der Seele, insofern sie tugendhaft und schlecht genannt wird, nur daß manche von den im wachen Zustande vorausgegangenen Bewegungen sich allmälig im Schlafe einigermaßen zur Geltung bringen und in diesem Anbetracht die Träume tugendhafter Menschen besser werden als die beliebiger Leute.

Doch genug hiervon und lassen wir das vegetative Vermögen, da es von Natur an der menschlichen Tugend keinen Teil hat. Es scheint aber auch ein anderer Teil der Seele ohne Vernunft zu sein, jedoch in gewisser Beziehung an der Vernunft teil zu nehmen. Wir loben nämlich an dem Enthaltsamen und Unenthaltsamen die Vernunft und den vernünftigen Seelenteil. Denn er ermahnt richtig und zum Guten. Aber die Erfahrung lehrt, daß den Genannten noch ein anderes Prinzip außer der Vernunft eingepflanzt ist, das dieser widerstrebt und widerstreitet. Wie gelähmte Leibesteile, wenn man sie nach rechts bewegen will, umgekehrt sich nach links drehen, so und nicht anders verhält es sich mit der Seele: die Begierden des Unenthaltsamen gehen auf das Gegenteil von dem, was die Vernunft gebietet, nur daß man die Verkehrung am Leibe sieht, dagegen an der Seele nicht. Trotzdem mögen wir überzeugt sein, daß auch in der Seele etwas außer der Vernunft vorhanden ist, was dieser entgegensteht und widerstreitet. In wie weit dasselbe von der Vernunft verschieden ist, ist hier gleichgültig. Und doch scheint es wie gesagt an der Vernunft teil zu nehmen. Es gehorcht ihr ja beim Enthaltsamen. Noch gehorsamer aber ist es beim Mäßigen und Starkmütigen, bei denen alles mit der Vernunft im Einklang stehtVgl. VII, 11, 2. Absatz. .

Es erweist sich also auch das unvernünftige Vermögen als zweifach: das pflanzliche hat gar nichts mit der Vernunft gemein, das sinnlich begehrende dagegen und überhaupt das strebende Vermögen nimmt an ihr in gewisser Weise teil, insofern es auf sie hört und ihr Folge leistet. Das wäre also etwa in der Art, wie wir uns in praktischen Dingen nach dem Rate des Vaters und der Freunde, nicht wie in der Wissenschaft nach den Sätzen der Mathematik richten. Daß aber der unvernünftige Teil gewissermaßen von der Vernunft überredet wird, beweisen auch die Ermahnungen, (1103a) alle Zurechtweisung und Ermunterung. Soll man aber diesem Teil ebenfalls Vernunft zuschreiben, so ist auch das vernünftige Vermögen zweifach: das eine hat eigentlich Vernunft und hat sie in sich selbst, das andere hat sie wie ein Kind, das auf seinen Vater hört.

Nach diesem Unterschiede wird auch die Tugend eingeteilt. Von den Tugenden nennen wir die einen dianoëtische oder Verstandestugenden, die anderen ethische oder sittliche Tugenden. Verstandestugenden sind Weisheit, Verstand und Klugheit, sittliche Tugenden Freigebigkeit und Mäßigkeit. Denn wenn wir von dem sittlichen Charakter sprechen, sagen wir nicht, daß einer weise oder verständig, sondern daß er sanft und mäßig ist. Wir loben aber auch den Habitus der Weisheit. Ein lobenswerter Habitus wird aber Tugend genannt.


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