Aristoteles
Nikomachische Ethik
Aristoteles

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Viertes Kapitel.

Nachdem wir das Freiwillige und Unfreiwillige erklärt haben, ist das nächstfolgende, daß wir den Begriff der Entschließung oder der Willenswahl erörternMit Willenswahl, lateinisch electio, übersetzen wir προαίρεσις. Es bedeutet eigentlich, wie Aristoteles am Ende des Kapitels bemerkt: einem vor anderem den Vorzug geben. Oft ist es mit Vorsatz wiederzugeben. Der Vorsatz scheint aber vorauszusetzen, daß die Ausführung noch etwas aussteht, oder auch, daß sie schwer oder langwierig ist. Am Scheidewege wähle ich z. B. den Weg rechts, mache aber keinen Vorsatz ihn einzuschlagen. Oder ich mache den Vorsatz, mich in der Geduld zu üben, erwähle das aber nicht, weil es nicht ohne weiteres bei mir steht. . Die Willenswahl scheint vor allem das Eigentümliche der Tugend auszumachen und noch mehr als die Handlungen selbst den Unterschied der Charaktere zu begründen.

Die Willenswahl ist etwas freiwilliges, fällt aber nicht mit dem Freiwilligen zusammen, sondern letzteres hat einen weiteren Umfang. Das Freiwillige oder Spontane findet sich auch bei den Kindern und den anderen Sinnenwesen, eine Willenswahl dagegen nicht; und rasche Handlungen des Augenblicks nennen wir zwar freiwillig, sagen aber nicht, daß sie auf grund vorbedachter Willenswahl geschehen sind.

Die aber sagen, sie sei Begierde oder Zorn oder Wille oder eine Meinung, scheinen nicht recht zu reden.

Denn die unvernünftigen Wesen haben an der Willenswahl keinen Teil, an Begierde und Zorn aber wohl.

Und wer an sittlicher Kraftlosigkeit leidet, handelt zwar aus Begierde, aber nicht aus vorbedachter Wahl, und umgekehrt handelt der Enthaltsame zwar aus freier Wahl, aber doch nicht aus Begierde.

Und die Begierde streitet mit der Willenswahl, doch die Begierde nicht mit der Begierde.

Und die Begierde hat es zu tun mit Lust und Unlust, die Willenswahl aber mit dem einen so wenig als mit dem anderen.

Noch weniger ist die Willenswahl mit Zorn oder Eifer identisch. Denn was im Zorn geschieht, scheint am allerwenigsten auf vorbedachter Wahl zu beruhen.

Aber auch Wille ist sie nicht, wenn auch anscheinend ihm verwandt. Denn es gibt keine Wahl des Unmöglichen, und sagte jemand, er erwähle es, so würde er für einen Thoren gelten. Dagegen gibt es ein Wollen des Unmöglichen, z. B. nicht zu sterben. Und das Wollen geht auch auf solches, was man selber gar nicht verwirklichen kann, z. B. daß ein Schauspieler oder Wettkämpfer den Sieg gewinne; dagegen wählt solches niemand, sondern nur das, was man durch sich selbst erreichen zu können glaubt. Ferner geht der Wille mehr auf den Endzweck, die Wahl auf die Mittel zum Zwecke. So wollen wir z. B. die Gesundheit, die Mittel dazu aber wählen wir, und wollen die Glückseligkeit und sagen, daß wir sie wollen, dagegen zu sagen, daß wir sie wählen, geht nicht an. Denn die Willenswahl scheint überhaupt nur da eine Stelle zu finden, wo etwas in unserer Macht steht.

Doch auch Meinung kann sie nicht gut sein. Eine Meinung scheint man von allem haben zu können, von dem Ewigen und dem Unmöglichen sowohl, wie von dem, was in unserer Gewalt steht. Sie wird nach Falschheit und Wahrheit, nicht nach bös und gut unterschieden, sondern hiernach wird vielmehr die Willenswahl eingeteilt. Und so wird denn (1112a) wohl niemand dieselbe für ganz identisch mit Meinung setzen.

Sie ist aber auch mit keiner bestimmten Meinung dasselbe.

Denn je nachdem wir das Gute oder das Böse wählen, haben wir eine bestimmte sittliche Qualität, aber nicht je nach unseren Meinungen.

Und durch die Willenswahl bestimmen wir uns, etwas uns eigen zu machen oder ihm aus dem Wege zu gehen oder zu sonst etwas dergleichen, eine Meinung aber haben wir darüber, was etwas ist, und wem es frommt oder wie; dagegen die Tatsache, daß wir uns etwas aneignen oder es meiden, ist selten Objekt unseres Meinens oder Nachdenkens.

Auch wird die Willenswahl mehr deshalb gelobt, weil sie auf das Rechte gerichtet oder recht beschaffen, die Meinung aber deshalb, weil sie wahr ist.

Und wir erwählen das, von dessen Güte wir vorzüglich gewiß sind; dagegen meinen wir etwas, wenn wir es nicht genau wissen.

Auch trifft nicht derselbe Mensch die beste Willenswahl, der die besten Meinungen hat, sondern bei Manchen sind die Meinungen besser, während sie aus Schlechtigkeit das wählen, was sie nicht sollen.

Übrigens ist es gleichgültig, ob die Meinung der Willenswahl vorausgeht oder ihr nachfolgt; denn dies steht nicht in Frage, sondern ob die Willenswahl dasselbe ist, wie eine gewisse Meinung.

Was ist also nun die Willenswahl und welcher Art, da sie keines der genannten Dinge ist? Offenbar etwas Freiwilliges. Aber nicht alles Freiwillige ist frei gewählt. Sollte sie also nicht jenes Freiwillige sein, das überlegt oder vorbedacht ist? Die Willenswahl erfolgt ja mit Verstand und Vernunft, und auch ihr Name scheint leise anzudeuten, wie es sich bei ihr darum handelt, daß etwas vor anderem gewählt wird.


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