Aristoteles
Nikomachische Ethik
Aristoteles

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Zweites Kapitel.

Als wir die Tugenden der Seele einteilten, haben wir gesagt, (1139a) sie seien teils sittliche oder Charaktertugenden, teils Verstandestugenden. Nachdem wir also die sittlichen Tugenden durchgegangen sind, wollen wir die anderen in der Art erklären, daß wir erst einige Bemerkungen über die Seele selbst hersetzen.

Es wurde weiter oben gesagt, es gebe zwei Seelenteile, einen vernunftbegabten und einen unvernünftigen. Jetzt aber müssen wir den vernunftbegabten wieder ebenso einteilenDer vernunftbegabte und der unvernünftige, aber doch an der Vernunft teilhabende Seelenteil wurden im letzten Kap. des 1. Buches vorletzter Absatz berührt. Die Vermutung Murets in seinem lat. Kommentar, Ingolstadt 1602, hier sei im Text in den Angaben über das früher Gesagte etwas ausgefallen, scheint grundlos. Der unvernünftige Seelenteil, höheres und niederes Strebevermögen, ist Träger der sittlichen Tugenden, der vernünftige Träger der Verstandestugenden. . Setzen wir also voraus, daß der vernunftbegabten Teile zwei sind, einer, mit dem wir jenes Sein betrachten, dessen Prinzipien sich nicht anders verhalten können, und einen, mit dem wir betrachten was sich anders verhalten kann. Denn wenn die Objekte der Gattung nach verschieden sind, ist auch der für das eine oder das andere Objekt eingerichtete Seelenteil der Gattung nach verschieden, wenn ja doch die Erkenntnis den erkennenden Potenzen gemäß einer gewissen Ähnlichkeit und Verwandtschaft zukommt. Der eine Teil heiße nun der »epistemonische« (scientifische oder wissende), der andere der »logistische« (ratiocinierende oder folgernde). Überlegen nämlich und Gedanken in bestimmter »Folge« verknüpfen ist dasselbe, nun überlegt aber niemand was sich nicht anders verhalten kann. So ist denn ein Teil der vernunftbegabten Seele der ratiocinierendeAristoteles sagt: nach den Objekten sind auch die erkennenden Seelenteile verschieden. Das Erkennende ist dem Erkannten ähnlich, oder Gleiches wird durch Gleiches erkannt, insofern der eigentliche und primäre Gegenstand der Erkenntnis mit der Natur des Erkennenden übereinstimmen muß. So ist der Mensch ein geistig sinnliches Wesen, und demnach ist der eigentliche Gegenstand seiner Erkenntnis das Intelligible im Sinnlichen. In unserem Texte handelt es sich um den Gegensatz der spekulativen und der praktischen Vernunft, der keine zwei Potenzen der Intelligenz je nach den Objekten erfordert, sondern nur den Unterschied des Denkens und der sinnlichen Wahrnehmung voraussetzt. Die spekulative Vernunft geht nämlich nicht auf das Handeln, sondern auf dessen höchste Ziele und Gesetze. Dagegen hat es die praktische Vernunft mit dem Handeln zu tun, und das Handeln mit dem Einzelnen und Konkreten, und dieses wird von dem Sinne erkannt, der also der praktischen Vernunft das Material für ihr Diktamen liefert. Aristoteles nennt die spekulative Vernunft die epistemonische, die praktische die logistische. Episteme ist nämlich die Wissenschaft des Allgemeinen und Notwendigen, während das Folgern, λογίζεσΦαι, zwar nicht den graden Gegensatz zu ihr bildet, wohl aber das Eigentümliche hat, zu suchen, indem es folgernd von Erkenntnis zu Erkenntnis gelangt. Hierin liegt nun grade seine Ähnlichkeit mit der praktischen Vernunft, die nach dem sucht, was in den einzelnen Fällen zu tun ist. .

Unsere Aufgabe wird es nun sein, zu ermitteln, welches je die beste Verfassung dieser beiden Teile ist. Denn das ist je ihre Tugend; die Tugend aber richtet sich nach ihrer eigentümlichen Verrichtung.

Dreierlei ist in der Seele, wovon Handlung und Wahrheitserkenntnis abhängt: Sinn, Verstand, Begehren. Unter diesen dreien kann der Sinn kein Prinzip des Handelns sein, was daraus hervorgeht, daß die Tiere zwar sinnbegabt sind, aber an dem, was man Handlung nennt, keinen Anteil haben. Was nun beim Denken Bejahung und Verneinung, das ist beim Begehren Streben und Fliehen. Darum muß, da die sittliche Tugend ein Habitus der Willenswahl und die Willenswahl ein überlegtes Begehren ist, der Ausspruch der Vernunft wahr und das Begehren des Willens recht sein, wenn die getroffene Wahl der Sittlichkeit entsprechen soll, und es muß eines und dasselbe von der Vernunft bejaht und von dem Willen erstrebt werden.

Das ist nun die praktische Vernunft und Wahrheit. Das Gute und Schlechte der theoretischen Vernunft aber, die nicht handelt und nicht hervorbringt, ist Wahrheit und Falschheit, wie das von der Leistung jedes denkenden Vermögens gilt; die Leistung des zugleich praktischen Denkvermögens aber ist jene Wahrheit, die mit dem rechten Begehren übereinstimmt.

Prinzip des Handelns im Sinne des bewegenden, nicht des Zweckprinzips ist die Willenswahl und das der Willenswahl das Begehren und der Begriff oder die Vorstellung des Zweckes. Darum gibt es keine Willenswahl ohne Verstand und Denken einerseits und sittlichen Habitus anderseits. Denn richtiges und verkehrtes Handeln ist ohne Denken und ein Verhältnis zur Sittlichkeit unmöglich.

Das Denken für sich allein aber bewegt nichts, sondern nur das auf einen bestimmten Zweck gerichtete, praktische (1139b) Denken. Von ihm hängt auch das hervorbringende Denken ab. Denn jeder Hervorbringende bringt sein Erzeugnis für einen bestimmten Zweck hervor, und was er hervorbringt, ist nicht schlechthin Zweck, sondern nur mit Bezug auf ein anderes und für ein anderes. Wohl aber ist die Handlung und ihr Inhalt schlechthin Zweck. Denn das richtige Handeln ist ein absoluter Zweck, und auf diesen ist auch das Begehren gerichtet. Und so ist denn die Willenswahl entweder begehrendes Denken oder denkendes Begehren, und das Prinzip, in dem sich beides, Denken und Begehren, verbunden findet, ist der Mensch.

 

Gegenstand der Willenswahl oder des Vorsatzes kann kein Vergangenes sein, wie sich denn niemand zum Vorsatz macht, Ilium zerstört zu haben; man überlegt oder beratschlagt ja auch nicht über Vergangenes, sondern über Zukünftiges und Mögliches, Vergangenes aber kann unmöglich nicht geschehen sein, weshalb Agathon treffend sagt:

»Denn dies allein, sogar der Gottheit bleibts versagt,
Ungeschehn zu machen, was einmal geschehen ist«Agathon, tragischer Dichter, jüngerer Zeitgenosse des Sokrates und Euripides. In der Poetik, K. 9 wird eine Tragödie von ihm »die Blume« erwähnt. Die Zustimmung des Aristoteles zu dem citierten Vers zeigt, daß er Gott die Allmacht zugeschrieben hat. Und so, wenn es uns gestattet ist, dies im Vorübergehen zu bemerken, mußte er ihm prinzipiell auch die Freiheit zusprechen. Denn ein Gott, der z. B. nicht imstande ist, ein Gebet zu erhören, weil er nur nach notwendigen und unüberschreitbaren Gesetzen wirkt, ist nichts weniger als allmächtig. .

So ist denn die Leistung beider vernünftigen Teile die Wahrheitserkenntnis, und in den Beschaffenheiten, vermöge deren sie die Wahrheit am besten erkennen, haben wir jene Tugenden zu erblicken, die beiden eigen sein könnenDies die Definition der dianoëtischen Tugend. .


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