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12

Mr. Ramsay war beinahe mit Lesen fertig. Eine Hand schwebte griffbereit über der Seite, als sollte sie umblättern, sobald er unten angelangt war. Er saß ohne Hut da, der Wind spielte mit seinem Haar, und er schien allem ungeschützt preisgegeben. Er sah sehr alt aus. Er sah aus, dachte James, der den Kopf bald zum Leuchtturm, bald zur weiten Wasserfläche wandte, die sich ins Grenzenlose dehnte, wie ein alter Stein, der im Sand liegt, er sah aus, als wäre er nun die Verkörperung dessen geworden, was beide immer schon geahnt hatten – jener Einsamkeit, die für beide das wahre Wesen der Dinge war.

Er las sehr rasch, als läge ihm viel daran, ans Ende zu gelangen. Sie waren dem Leuchtturm nun auch wirklich sehr nahe. Da ragte er auf, stark und gerade, in grellem Weiß und Schwarz, und man sah die Wellen wie splitterndes Glas weiß auf den Felsen zerbrechen. Man sah Risse und Spalten in den Felsen. Man sah deutlich die Fenster; auf einem glänzte ein Fleckchen Weiß, und auf dem Felsen war ein Tupfen Grün. Ein Mann war herausgekommen, sah durch ein Fernglas zu ihnen herüber und ging wieder hinein. So also sah er aus, dachte James, der Leuchtturm, den man all die Jahre über die Bucht hinweg gesehen hatte; er war ein starker Turm auf einem nackten Felsen. Er befriedigte ihn. Er bestätigte eine gewisse Vorstellung von seinem eigenen Wesen. Die alten Damen, dachte er und stellte sich den Garten am Haus vor, zogen mit ihren Stühlen über den Rasen. Die alte Mrs. Beckwith zum Beispiel sagte immer, wie nett es wäre und wie reizend es wäre und wie stolz sie doch sein müßten und wie glücklich sie doch sein müßten, in Wirklichkeit aber, dachte James und sah zum Leuchtturm hinüber, wie er auf dem Felsen stand – in Wirklichkeit ist es natürlich so. Er sah seinen Vater an, der grimmig drauflos las, die Beine fest angewinkelt. Dieses Wissen, dachte er, haben wir gemeinsam. »Wir treiben vorm Sturm – wir müssen sinken«, sagte er zu sich selbst, und er sagte es halblaut, genau wie sein Vater.

Es war, als hätte seit einer Ewigkeit niemand ein Wort gesprochen. Cam war es müde, das Meer zu betrachten. Kleine schwarze Korkstücke waren vorübergetrieben; die Fische unten im Boot waren tot. Immer noch las der Vater, James sah ihn an, und Cam sah ihn an, und sie schworen, daß sie sich der Tyrannei widersetzen wollten bis zum Tode, und er las weiter und wußte gar nichts von ihren Gedanken. Auf diese Weise brachte er es fertig zu entkommen, dachte sie. Ja, mit seiner mächtigen Stirn und seiner großen Nase, das kleine gesprenkelte Buch fest in der Hand, entkam er. Man konnte wohl versuchen, ihn zu halten, aber dann breitete er wie ein Vogel die Schwingen aus und entflog, um sich irgendwo weit weg auf einen einsamen Baumstumpf niederzulassen, wo er unerreichbar war. Sie starrte auf die unermeßliche Meeresfläche. Die Insel war so klein geworden, daß sie kaum noch einem Blatt ähnlich sah. Sie glich einer Felsspitze, die unter der nächsten großen Welle verschwinden konnte. Und doch barg sie in ihrer Winzigkeit all die Wege, die Terrassen, die Schlafkammern – all die unzähligen Dinge. Aber es ging ihr wie vorm Einschlafen, wo die Dinge sich so vereinfachen, daß von den zahllosen Einzelheiten nur eine einzige die Kraft hat, sich im Bewußtsein durchzusetzen, sie fühlte, als sie schläfrig zur Insel blickte, wie die Wege, Terrassen, Schlafkammern verblaßten und verschwanden und nichts übrigblieb als ein hellblaues Weihrauchfaß, das gleichmäßig in ihr hin- und herschwang. Es war ein hängender Garten; es war ein Tal, voll von Vögeln und Blumen und Antilopen … Cam schlief ein.

»So, nun komm«, sagte Mr. Ramsay plötzlich und klappte sein Buch zu.

Kommen – wohin? Zu welchen unerwartetem Abenteuer? Sie erwachte mit einem Ruck. Um irgendwo zu landen, irgendwo hinaufzuklimmen? Wohin führte er sie? Denn die Worte erschreckten sie nach seinem endlosen Schweigen. Aber es war natürlich lächerlich. Er hätte Hunger, sagte er. Es wäre Zeit zum Lunch. Außerdem – seht mal, sagte er. Da ist der Leuchtturm. »Wir sind fast angelangt.«

»Er macht's sehr gut«, sagte Macalister als Lob für James. »Er hält ordentlich Kurs.«

Aber der Vater lobte ihn niemals, dachte James grimmig. Mr. Ramsay öffnete das Paket und verteilte die Sandwiches. Nun war er glücklich, weil er mit den Fischern Brot und Käse essen konnte. Er hätte gern in einer Hütte gewohnt, am Hafen herumgelungert und mit den anderen alten Männern ins Wasser gespuckt, dachte James und sah zu, wie er den Käse mit seinem Taschenmesser in dünne, gelbe Scheiben schnitt. So ist es recht, so ist es gut, empfand Cam, während sie ihr hartgekochtes Ei schälte. Nun war ihr zumute wie im Arbeitszimmer, wenn die alten Herren die ›Times‹ lasen. Nun kann ich weiter nachdenken, wie es mir gefällt, ohne in einen Abgrund zu stürzen oder zu ertrinken; denn er ist da und behütet mich.

Währenddessen schoß das Boot so rasch an den Felsen dahin, daß es höchst aufregend war – als täten sie zweierlei zu gleicher Zeit: als äßen sie ihren Lunch hier in der Sonne und suchten sich zugleich bei schwerem Sturm nach einem Schiffbruch in Sicherheit zu bringen. Würde das Wasser reichen? Würden die Lebensmittel reichen? fragte sie sich und erfand sich eine Geschichte, blieb sich dabei aber der Wirklichkeit bewußt.

Sie würden es nun bald hinter sich haben, sagte Mr. Ramsay zum alten Macalister; ihre Kinder aber würden noch allerlei Merkwürdiges erleben. Er wäre im letzten März fünfundsiebzig geworden, sagte Macalister; Mr. Ramsay war einundsiebzig. Er hätte nie im Leben einen Doktor gebraucht, sagte Macalister; er hätte auch nie einen Zahn verloren. Ich wollte, meine Kinder würden so leben – Cam war überzeugt, daß ihr Vater das dachte; denn als sie ein Sandwich ins Wasser werfen wollte, hinderte er sie daran und sagte, als dächte er dabei an die Fischer und ihre Lebensweise, wenn sie es nicht haben wolle, solle sie es wieder ins Paket tun. Sie solle es nicht vergeuden. Er sagte es so voller Weisheit, als wüßte er um alles, was in der Welt geschah, so daß Cam es sogleich wieder einpackte; worauf er ihr aus seinem eigenen Paket einen Pfefferkuchen überreichte, als wäre er ein spanischer Grande, dachte sie, der einer Dame am Fenster eine Blume überreicht (so höflich war sein Benehmen). Er war einfach, er sah schäbig aus, er aß Brot und Käse; und doch war er ihr Führer auf einer großen Unternehmung, bei der sie wahrscheinlich alle ertrinken würden.

»Hier war's, wo das Schiff gesunken ist«, sagte Macalisters Junge plötzlich.

»An dieser Stelle sind drei Mann ertrunken«, sagte der Alte. Er hatte mit eigenen Augen gesehen, wie sie sich an den Mast klammerten. Und Cam und James hatten Angst, daß Mr. Ramsay, als er einen Blick auf die Stelle warf, nun loslegen würde:

Uns aber haben wildere Wogen,

und wenn er es täte, so würden sie es nicht ertragen können; sie würden laut schreien; einem neuen Ausbruch der Leidenschaft, die in ihm kochte, würden sie nicht gewachsen sein; aber zu ihrer Überraschung sagte er nichts weiter als: »Aha!« – als dächte er im stillen: Warum soviel Aufhebens davon machen? Natürlich ertrinken Menschen beim Sturm, aber es ist eine ganz einfache Sache, und die Tiefen der See (er streute die Krumen aus seinem Sandwichpapier darüber hin) sind letzten Endes bloß Wasser. Dann zündete er seine Pfeife an und sah nach der Uhr. Er betrachtete sie eingehend; vielleicht stellte er irgendeine mathematische Berechnung an. Schließlich sagte er lobend: »Gut gemacht!« James hatte gesteuert wie ein geborener Seemann.

Siehst du wohl! sagte Cam in Gedanken zu James. Nun hast du's doch erreicht. Denn sie wußte, dies war es, was James sich gewünscht hatte; und nachdem er es erreicht hatte, würde er vor lauter Befriedigung weder sie noch den Vater noch sonst jemanden ansehen. Da saß er, kerzengerade, die Hand auf der Ruderpinne, runzelte ein wenig die Stirn und sah ziemlich brummig aus. Er war so befriedigt, daß er sich von niemandem auch nur ein Körnchen dieses Freudegefühls nehmen lassen wollte. Der Vater hatte ihn gelobt. Sie mußten ihn für vollkommen gleichgültig halten. Aber erreicht hast du's doch, dachte Cam.

Sie hatten gewendet und segelten nun flink und schnell neben dem Riff über die langen schaukelnden Wellen, mit viel Schwung und Freude von einer zur anderen weitergereicht. Zur Linken hob sich braun eine Reihe von Felsen im Wasser ab, das durchsichtiger und grünlicher wurde, und an einem, einem höheren Felsen, brach sich unablässig eine Welle und spritzte eine kleine Tropfensäule auf, die als ein Schauer niederfiel. Man hörte das Wasser klatschen und die Tropfen fallen, dazu das eintönige zischende Geräusch der anrollenden, springenden Wellen, die klatschend auf die Felsen schlugen, als wären sie wilde, völlig freie Geschöpfe, die bis in alle Ewigkeit springen, toben und spielen durften.

Auf dem Leuchtturm bemerkten sie nun zwei Männer, die dem Boot entgegenblickten und sich anschickten, die Besucher zu empfangen.

Mr. Ramsay knöpfte seinen Rock zu und krempelte sich die Hosen auf. Er nahm das große, schlecht verschnürte braune Paket, das Nancy fertiggemacht hatte, auf den Schoß. So saß er, völlig zum Landen gerüstet, und blickte zurück zur Insel. Vielleicht nahmen seine weitsichtigen Augen den zusammengeschrumpften blattähnlichen Schatten, der aufrecht auf einer goldenen Schüssel stand, ganz deutlich wahr. Was sah er wohl? dachte Cam. Für sie war alles verschwommen. Was dachte er jetzt? – fragte sie sich. Was suchte er wohl, so unverwandt, so angespannt, so stumm? Beide sahen sie ihn an, wie er dasaß, mit bloßem Kopf, das Paket auf den Knien, und immer und immer zu jenem zarten blauen Schatten hinüberstarrte, der aussah wie ein Dunst von etwas, was sich selbst verzehrt hatte. Was ersehnst du? hätten sie am liebsten gefragt. Und beide hätten am liebsten gesagt: Verlange von uns, was du willst – wir wollen es dir geben. Aber er verlangte gar nichts von ihnen. Er saß nur da und sah zur Insel zurück und dachte vielleicht: Wir gingen unter, jeder allein; oder vielleicht dachte er auch: Ich habe es erreicht. Ich habe es gefunden. Aber er sagte nichts.

Dann setzte er den Hut auf.

»Nehmt die Pakete!« sagte er und wies mit dem Kopf auf die Päckchen, die Nancy für die Leute vom Leuchtturm fertiggemacht hatte. »Die Pakete für die Leuchtturmleute«, fügte er hinzu. Er erhob sich und stand am Bug des Bootes, sehr gerade und groß, als ob er, dachte James, wahrhaftig sagen wollte: »Es gibt keinen Gott«, als ob er, dachte Cam, in den Weltraum springen wollte. Und sie erhoben sich, um ihm zu folgen, als er, sein Paket unterm Arm, leichtfüßig wie ein junger Mann auf den Felsen sprang.


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