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17

Was habe ich nun aus meinem Leben gemacht? dachte Mrs. Ramsay, als sie ihren Platz am oberen Ende der Tafel einnahm und auf all die Teller sah, die als weiße Kreise darauf standen. »William, setzen Sie sich zu mir«, sagte sie. »Lily«, sagte sie müde, »da drüben.« Paul Rayley und Minta Doyle hatten doch jenes; sie selbst nur dies – einen endlos langen Tisch und Teller und Messer. Am anderen Ende der Tafel nahm ihr Mann Platz, zusammengesunken, mit gerunzelter Stirn. Warum? Sie wußte es nicht. Es war ihr auch gleichgültig. Sie begriff nicht, wie sie je für ihn etwas hatte empfinden, hatte Zuneigung fühlen können. Als sie die Suppe austeilte, hatte sie ein Gefühl, als läge alles hinter ihr, als wäre sie durch alles hindurch, über alles hinaus, als wäre da ein Strudel – da –, man konnte drin sein, man konnte auch draußen sein, und sie war draußen. Alles ist zu Ende, dachte sie, während sie hereinkamen, einer nach dem andern – Charles Tansley – »nehmen Sie dort Platz«, sagte sie – Augustus Carmichael –, und sich setzten. Und währenddessen wartete sie, untätig, daß irgendeiner ihr antwortete, daß irgend etwas geschah. Aber das ist wohl nichts, dachte sie, die Suppe schöpfend, was sich mit Worten sagen läßt.

Sie hob die Brauen über den Widerspruch – dies dachte sie, und jenes – Suppeausschöpfen – tat sie – und fühlte immer deutlicher, daß sie außerhalb des Strudels war; oder als wäre ein Schatten gefallen, und sie sähe die Dinge, der Farbe beraubt, wie sie wirklich waren. Das Zimmer (sie blickte umher) war sehr schäbig. Nirgends Schönheit. Sie vermied es, Mr. Tansley anzusehen. Nichts schien miteinander verschmolzen. Alle saßen für sich. Und die ganze Mühe des Verschmelzens, des Zusammenführens und Lebendigmachens lastete auf ihr. Wieder empfand sie ohne Feindseligkeit, als Tatsache, wie unfruchtbar die Männer waren: denn wenn sie es nicht unternahm, würde es keiner tun, also gab sie sich einen kleinen Stoß, wie man ihn einer stehengebliebenen Uhr gibt, der altvertraute Puls begann zu schlagen, wie die Uhr zu ticken beginnt – eins, zwei, drei, eins, zwei, drei. Und so weiter und so weiter, wiederholte sie, lauschte und schirmte und hegte den noch schwachen Schlag, wie man wohl ein Flämmchen mit einer Zeitung schützt. Also dann, dachte sie und wandte sich, indem sie sich stumm in seine Richtung neigte, William Bankes zu – dem Armen! –, der weder Weib noch Kind hatte und seine Mahlzeiten einsam in Mietwohnungen einnahm, bloß heute abend nicht; und da das Leben nun wieder stark genug war, um sie weiterzutragen, tat sie aus Mitleid für ihn das Altgewohnte, wie der Seemann nicht ohne Müdigkeit seine Segel vom Wind gefüllt sieht und doch kaum den Wunsch nach neuer Fahrt verspürt und dabei denkt, daß er, wäre das Schiff gesunken, immer rundum gewirbelt worden wäre und auf dem Meeresgrund Ruhe gefunden hätte.

»Haben Sie Ihre Briefe gefunden? Sie sollten für Sie in die Halle gelegt werden«, sagte sie zu William Bankes.

Lily Briscoe sah zu, wie sie davontrieb in jenes seltsame Niemandsland, wohin keiner dem anderen folgen kann, und doch löst ihr Entschwinden bei denen, die zusehen, solche Niedergeschlagenheit aus, daß wir ihnen wenigstens immer mit den Augen zu folgen suchen, wie man einem entschwindenden Schiffe nachblickt, bis seine Segel am Horizont versunken sind.

Wie alt sie aussieht, wie müde sie aussieht, dachte Lily, und wie fern. Als sie sich dann lächelnd William Bankes zuwandte, war es, als hätte das Schiff gewendet und die Sonne läge wieder auf seinen Segeln, und Lily dachte ein wenig belustigt, da sie sich erleichtert fühlte: Warum bemitleidet sie ihn nur? Denn diesen Eindruck erweckte sie, als sie ihm sagte, seine Briefe lägen in der Halle. Armer William Bankes, schien sie zu sagen, als wäre das Mitleid mit den Menschen zum Teil an ihrer eigenen Müdigkeit schuld und das Leben in ihr, der Entschluß zum Weiterleben, würde durch Mitleid geweckt. Und es stimmte nicht, dachte Lily; es war eins ihrer Fehlurteile, die sich bei ihr offenbar instinktiv bildeten und eher ihrem eigenen als dem Bedürfnis anderer entsprangen. Er ist nicht im mindesten bemitleidenswert. Er hat seine Arbeit, sagte Lily zu sich selbst. Und dann kam ihr zum Bewußtsein, ganz plötzlich, als hätte sie einen Schatz entdeckt, daß auch sie ihre Arbeit hatte. Blitzartig sah sie ihr Bild und dachte: Ja, ich werde den Baum weiter in die Mitte rücken; damit vermeide ich die ungeschickte Leere. So will ich's machen. Das ist es, wonach ich gesucht habe. Sie nahm das Salzfaß und setzte es auf eine Blume im Tischtuchmuster, als solle dies sie daran erinnern, den Baum zu versetzen.

»Sonderbar«, sagte Mr. Bankes, »man bekommt kaum je etwas mit der Post, was sich lohnt, und doch will man immer seine Briefe haben.«

Verdammter Blödsinn, den sie schwatzen, dachte Charles Tansley und legte seinen Löffel genau in die Mitte des Tellers, den er so völlig geleert hatte, als wäre er entschlossen, dachte Lily (er saß ihr gegenüber, mit dem Rücken zum Fenster, mitten im Blickfeld), sich seiner Mahlzeiten zu versichern. Alles an ihm hatte diese dürre Genauigkeit, diese armselige Anmutlosigkeit. Dennoch blieb die Tatsache bestehen: wenn man die Leute ansah, war es fast unmöglich, Abneigung gegen jemanden zu empfinden. Seine Augen gefielen ihr; sie waren blau, tiefliegend, furchteinflößend.

»Schreiben Sie viele Briefe, Mr. Tansley?« fragte Mrs. Ramsay, und Lily vermutete, daß sie auch ihn bemitleidete; denn das war wirklich bei Mrs. Ramsay so: Sie bemitleidete stets die Männer, als fehlte ihnen etwas – die Frauen nie, als besäßen sie etwas. Er schreibe seiner Mutter; sonst schreibe er wohl kaum einen Brief im Monat, sagte Mr. Tansley kurz.

Denn er wollte nicht die Sorte Blödsinn reden, den diese Leute von ihm verlangten. Er wollte sich nicht von diesen albernen Frauenzimmern erniedrigen lassen. Er hatte in seinem Zimmer gelesen, und nun saß er hier unten, und alles kam ihm töricht, oberflächlich, belanglos vor. Warum kleideten sie sich um? Er war in seinem Straßenanzug heruntergekommen. Er hatte eben keinen Gesellschaftsanzug. ›Man bekommt kaum je etwas mit der Post, was sich lohnt‹ – immer redeten sie solches Zeug daher. Sie brachten die Männer dahin, solches Zeug zu reden. Ja, es stimmte ganz genau, dachte er. Sie bekamen nie etwas, was sich lohnte – von Neujahr bis Neujahr nicht. Sie taten nichts als reden, reden, reden, essen, essen, essen. Die Frauen waren schuld daran. Die Frauen mit all ihrem ›Charme‹, all ihrer Torheit machten wahre Kultur unmöglich.

»Aus der Fahrt zum Leuchtturm morgen wird nichts, Mrs. Ramsay«, sagte er, um sich durchzusetzen. Er hatte sie gern; er bewunderte sie; er dachte noch daran, wie der Mann im Abzugsgraben zu ihr aufgesehen hatte; aber er hielt es für notwendig, sich durchzusetzen.

Er war wirklich, dachte Lily Briscoe, trotz seiner Augen, man sehe aber seine Nase, sehe seine Hände an, das unliebenswürdigste Wesen, das ihr je begegnet war. Warum kümmerte sie sich dann aber darum, was er sagte? Frauen können nicht schreiben, Frauen können nicht malen – was wollte das aus seinem Munde besagen, denn natürlich weiß er, daß es nicht stimmt, aber aus irgendeinem Grunde hilft es ihm, und deshalb sagt er's. Warum beugte sich ihr ganzes Wesen davor wie eine Ähre im Wind, warum richtete es sich aus der Erniedrigung nur mit großer und recht mühevoller Anstrengung wieder auf? Sie mußte sie wiederum unternehmen. Da ist das Zweigmuster im Tischtuch; da ist mein Bild; ich muß den Baum nach der Mitte rücken; das ist wichtig – nichts sonst. Konnte sie sich nicht daran halten, fragte sie sich, und nicht die Laune verlieren und nicht streiten? Und wenn sie ein bißchen Rache nehmen wollte, konnte sie ihn nicht auslachen?

»Ach, Mr. Tansley«, sagte sie, »nehmen Sie mich doch mit zum Leuchtturm! Ich würde mich sehr freuen!«

Er sah wohl, daß sie log. Sie sagte es, aber sie meinte es nicht so, um ihn zu ärgern. Sie machte sich über ihn lustig. Er trug seine alte Flanellhose. Er hatte keine andere. Er kam sich sehr ungepflegt, allein und einsam vor. Er wußte, daß sie ihn aus irgendeinem Grunde hänseln wollte; sie wollte gar nicht mit ihm zum Leuchtturm fahren; sie verachtete ihn; auch Prue Ramsay; alle taten es. Aber er wollte sich nicht von Frauen zum Narren machen lassen: so drehte er sich denn bedachtsam im Stuhl um, sah aus dem Fenster und sagte ganz unvermittelt und sehr grob, es würde morgen für sie zu stürmisch sein. Sie würde seekrank werden.

Es ärgerte ihn, daß sie ihn dazu gebracht hatte, vor Mrs. Ramsays Ohren das zu sagen. Könnte er doch nur allein in seinem Zimmer sein, bei der Arbeit, bei seinen Büchern, dachte er. Dort fühlte er sich wohl. Und er hatte niemals nur einen Penny Schulden gehabt; seit seinem fünfzehnten Jahr hatte er seinen Vater keinen Penny mehr gekostet; er hatte denen zu Hause mit seinen Ersparnissen geholfen; er sorgte für die Ausbildung seiner Schwester. Dennoch wünschte er, er hätte Miss Briscoe eine angemessene Antwort geben können; er wünschte, es wäre ihm nicht so unvermittelt herausgefahren wie eben: ›Sie würden seekrank werden!‹ Er wünschte, ihm fiele etwas ein, was er zu Mrs. Ramsay sagen könnte, was ihr beweisen würde, daß er nicht nur ein trockener Pedant war. Denn dafür hielten sie ihn. Er wandte sich zu ihr. Aber Mrs. Ramsay unterhielt sich mit William Bankes über Leute, von denen er nie gehört hatte.

»Ja, räumen Sie ab«, sagte sie kurz zu dem Mädchen und unterbrach das Gespräch mit Mr. Bankes. »Es muß fünfzehn – nein, zwanzig Jahre her sein, daß ich sie zuletzt gesehen habe«, sagte sie und wandte sich ihm wieder zu, als wollte sie keine Sekunde des Gesprächs verlieren; denn sie war ganz gefesselt von der Unterhaltung. Er habe also wirklich heute abend Nachricht von ihr bekommen! Und wohne Carrie immer noch in Marlow, und sei alles noch wie früher? Oh, sie könne sich erinnern, als sei es gestern gewesen – auf dem Fluß, es sei wie gestern –, auf dem Fluß da, und wie kalt es gewesen sei. Aber wenn die Mannings sich etwas vornähmen, dann blieben sie dabei. Sie würde nie vergessen, wie Herbert eine Wespe mit dem Teelöffel auf der Bank totgeschlagen habe. Und so war es immer noch, dachte Mrs. Ramsay und glitt wie ein Geist zwischen den Stühlen und Tischen jenes Wohnzimmers an den Ufern der Themse hindurch, wo sie vor zwanzig Jahren so erbärmlich gefroren hatte; nun ging sie dort wie ein Geist umher, und es faszinierte sie, als wäre jener Tag, nun sehr still und schön geworden, all die Jahre hindurch dort geblieben, während sie selbst sich verändert hatte. Ob Carrie ihm selbst geschrieben habe? fragte sie.

»Ja. Sie schreibt, sie bauen ein neues Billardzimmer«, antwortete er. Nein, nein! Das sei doch ausgeschlossen! Ein Billardzimmer bauen? Es schien ihr unmöglich.

Mr. Bankes begriff nicht, was daran so merkwürdig sei. Es gehe ihnen jetzt sehr gut. Ob er Carrie von ihr grüßen solle?

»Oh«, sagte Mrs. Ramsay und erschrak ein wenig. »Nein«, fügte sie hinzu, denn sie überlegte, daß sie diese Carrie, die ein neues Billardzimmer baute, nicht kannte. Aber wie seltsam, fügte sie zu Mr. Bankes' Erheiterung hinzu – wie seltsam, daß dort alles so weitergehe. Es komme ihr wunderlich vor, daß sie imstande gewesen seien, all die Jahre hindurch so weiterzuleben – wo sie doch während der ganzen Zeit kaum ein einziges Mal an sie gedacht habe. Wie ereignisreich sei während dieser selben Jahre ihr eigenes Leben gewesen! Aber vielleicht habe Carrie Manning auch nicht an sie gedacht. Der Gedanke sei seltsam und abscheulich.

»Die Menschen treiben rasch auseinander«, sagte Mr. Bankes, doch empfand er einige Genugtuung bei dem Gedanken, daß er schließlich beide kannte, die Mannings und die Ramsays. Er war nicht weggetrieben worden, dachte er, legte seinen Löffel hin und wischte sich übertrieben sorgfältig den glattrasierten Mund sauber. Aber vielleicht wich er da, dachte er weiter, vom Üblichen ab; er ließ sich nicht in eine Schablone pressen, er hatte Freunde in allen Kreisen … Mrs. Ramsay mußte hier das Gespräch unterbrechen, dem Mädchen sagen, daß das Essen warm gehalten werden müßte. Das war der Grund, weshalb er lieber allein speiste. Alle diese Störungen waren ihm zuwider. Nun ja, dachte William Bankes, wahrte eine Haltung vollendeter Höflichkeit, spreizte nur die Finger der linken Hand auf dem Tischtuch und betrachtete sie, wie ein Handwerker in einem Augenblick der Muße ein schöngeputztes und gebrauchsbereites Werkzeug betrachtet, das sind eben die Opfer, die Freunde von einem verlangen. Es hätte sie gekränkt, wenn er die Einladung abgelehnt hätte. Aber es lohnte sich nicht für ihn. Wäre er allein gewesen, dachte er, als er seine Hand betrachtete, dann wäre das Dinner schon zu Ende; er hätte sich an die Arbeit setzen können. Ja, dachte er, es ist eine schreckliche Zeitvergeudung. Die Kinder waren noch immer nicht alle da. »Einer von euch soll bitte in Rogers Zimmer gehen«, sagte Mrs. Ramsay. Wie nichtig ist das alles, wie fade ist das alles, verglichen mit dem anderen – der Arbeit, dachte er. Da saß er nun und trommelte mit den Fingern auf das Tischtuch, dabei hätte er … hier warf er aus der Vogelschau einen raschen Blick auf seine Arbeit. Ja, wahrhaftig, was für eine Zeitvergeudung war all das hier! Immerhin, dachte er, sie zählt zu meinen ältesten Freunden. Gewiß, ich bin ihr aufrichtig ergeben. Und doch bedeutete ihre Gegenwart ihm in diesem Augenblick gar nichts; ihre Schönheit bedeutete ihm nichts; das Bild, wie sie mit ihrem Jungen am Fenster gesessen hatte, bedeutete ihm nichts – gar nichts. Er wollte nur allein sein und sein Buch vornehmen. Er fühlte sich unbehaglich; er fühlte sich wie ein Verräter, weil er hier an ihrer Seite saß und nichts für sie empfand. Er hatte eben keine Freude am Familienleben. In dieser Lage fragte man sich: Wofür lebt man eigentlich? Warum, so fragte man sich, nimmt man all diese Mühen für den Fortbestand der Menschheit auf sich? Ist das so wünschenswert? Sind wir als Gattung reizvoll? Nicht so sehr, dachte er und musterte die ziemlich unordentlich aussehenden Jungen. Cam, sein Liebling, war vermutlich schon im Bett. Alberne Fragen, unnütze Fragen, Fragen, die man niemals stellte, wenn man beschäftigt war. Ist das Menschenleben so? Oder ist das Menschenleben so? Man hat nie Zeit, darüber nachzudenken. Hier aber stellte er sich diese Frage, weil Mrs. Ramsay den Dienstboten Anweisungen gab; aber auch weil es ihn betroffen machte, daß Freundschaften, auch die besten, recht zerbrechlich sind, denn Mrs. Ramsay war so überrascht gewesen, als sie hörte, daß Carrie Manning noch lebte. Man treibt auseinander. Wieder machte er sich Vorwürfe. Er saß neben Mrs. Ramsay und hatte ihr nichts, gar nichts zu sagen.

»Verzeihen Sie«, sagte Mrs. Ramsay schließlich und wandte sich ihm wieder zu. Er kam sich steif und nutzlos vor, wie ein Paar Schuhe, die naß geworden und getrocknet sind, so daß man kaum die Füße hineinzwängen kann. Aber er mußte die Füße hineinzwängen. Er mußte sich zum Reden zwingen. Wenn er nicht sehr achtgab, würde sie seinen Verrat entdecken: daß sie ihm ganz gleichgültig war; und das wäre, dachte er, ganz und gar nicht angenehm. So neigte er sich ihr denn höflich zu.

»Wie lästig muß es für Sie sein, in diesem Bärenzwinger zu essen«, sagte sie und bediente sich wie immer, wenn sie zerstreut war, ihrer höflichen Manieren. So macht der Vorsitzende, wenn bei einer Zusammenkunft ein Sprachenstreit entbrennt, den Vorschlag, alle sollen sich um der Einigkeit willen der französischen Sprache bedienen. Vielleicht ist es schlechtes Französisch; vielleicht hat das Französische nicht die Ausdrücke, die die Gedanken des Redners wiedergeben; aber es erzwingt eine gewisse Ordnung und Übereinstimmung. Mr. Bankes antwortete ihr in der gleichen Sprache: »Nein, ganz und gar nicht«; und Mr. Tansley, der die Sprache nicht kannte, auch wenn sie diese einsilbigen Wörter benutzte, argwöhnte sogleich Unaufrichtigkeit. Sie schwatzen Unsinn, die Ramsays, dachte er; und er stürzte sich mit Freude auf dieses neue Beispiel und machte in Gedanken eine Notiz, die er nächstens ein paar Freunden laut vorlesen wollte. Dort, in dieser Gesellschaft, wo man reden konnte, wie es einem beliebte, wollte er sarkastisch einen ›Besuch bei den Ramsays‹ schildern und den Unsinn, den sie schwatzten. Es lohne sich, das einmal mitzumachen, würde er sagen; aber nicht zum zweitenmal. Die Frauen sind todlangweilig, würde er sagen. Ramsay habe sich selbst hineingeritten, als er eine schöne Frau heiratete und acht Kinder in die Welt setzte. In dieser Art etwa würde es sich gestalten, jetzt, in diesem Augenblick freilich, wie er da am Tische hockte, einen leeren Stuhl neben sich, wollte sich gar nichts gestalten. Es waren nur Schnitzel und Fetzen. Er fühlte sich äußerst unbehaglich, auch körperlich. Wenn ihm doch jemand eine Möglichkeit böte, sich zur Geltung zu bringen! Er sehnte sich so brennend danach, daß er auf seinem Stuhl hin und her rückte, einmal diesen, dann jenen ansah, sich ins Gespräch zu drängen suchte, den Mund öffnete und wieder zumachte. Jetzt redeten sie über das Fischereigewerbe. Warum fragte ihn niemand nach seiner Meinung? Was wußten sie denn vom Fischereigewerbe?

Lily Briscoe wußte das alles. Sah sie nicht, da sie ihm gegenübersaß, wie auf einer Röntgenaufnahme die Rippen und Schenkelknochen seines Geltungsverlangens dunkel im Nebel seines Fleisches lagen – in dem dünnen Nebel, den Konvention über seinen brennenden Wunsch gelegt hatte, sich ins Gespräch einzumischen? Aber, dachte sie, kniff ihre Schlitzaugen zusammen und dachte daran, wie er die Frauen verspottete, können nicht schreiben, können nicht malen, warum soll ich ihm beistehen?

Es gibt, das wußte sie, eine gesellschaftliche Regel, deren siebentes Gebot (oder so) lautet, daß es in solchen Fällen der Frau geziemt, ganz gleich, womit sie selbst beschäftigt ist, dem jungen Mann gegenüber zu Hilfe zu kommen, so daß er die Schenkelknochen und Rippen seiner Eitelkeit und seines brennenden Geltungsdranges aus der peinvollen Haft befreien kann; denn es ist ja auch ihre Pflicht, so dachte sie in ihrer redlichen Altmädchengesinnung, uns zu helfen, wenn zum Beispiel die Untergrundbahn in Flammen steht. Dann würde ich erwarten, dachte sie, daß Mr. Tansley mich herausholt.

»Sie wollen doch nicht etwa zum Leuchtturm fahren, Lily?« fragte Mrs. Ramsay. »Denken Sie an den armen Mr. Langley! Er ist Dutzende von Malen rund um die Welt gereist, aber er hat mir erzählt, nie wäre es so schlimm gewesen wie hier, als mein Mann ihn auf die Fahrt mitgenommen hatte. Sind Sie seefest, Mr. Tansley?« fragte sie.

Mr. Tansley hob einen Hammer und schwang ihn hoch hinauf; aber als er ihn niedersausen lassen wollte, kam ihm zum Bewußtsein, daß man diesen Schmetterling nicht mit solch einem Werkzeug erschlagen konnte, also sagte er nur, er sei nie im Leben seekrank gewesen. Aber in diesem einen Satz lag, explosiv wie Schießpulver, sein Großvater sei Fischer gewesen, sein Vater Drogist; er habe sich ganz allein hinaufgearbeitet; er sei stolz darauf; er sei Charles Tansley – was hier offenbar niemand wisse, eines Tages aber jedermann zur Kenntnis nehmen müsse. Er blickte finster geradeaus. Fast bemitleidete er diese sanften, gepflegten Menschen, die vielleicht bald schon durch das Schießpulver, das er in sich trug, gen Himmel gejagt würden wie Wollballen und Apfelfässer.

»Wollen Sie mich mitnehmen, Mr. Tansley?« fragte Lily rasch und freundlich; denn natürlich, wenn Mrs. Ramsay ihr bedeutete, was sie eigentlich schon getan hatte: ›Ich ersticke, Liebste, in einem Flammenmeer. Wenn du nicht Balsam auf die Qual dieser Stunde träufelst und dem jungen Mann da drüben etwas Nettes sagst, wird das Leben an den Felsen zerschellen – ich höre schon in diesem Augenblick, wie es knirscht und knackt. Meine Nerven sind gespannt wie Geigensaiten. Nur ein kleiner Druck noch, und sie reißen‹, wenn Mrs. Ramsay all dies sagte, wenn sie es mit den Augen zum Ausdruck brachte, dann mußte Lily Briscoe natürlich zum hundertfünfzigsten Male auf den Versuch verzichten – was sich ereignen würde, wenn man gegen den jungen Mann da drüben nicht nett war – und eben nett sein.

Er deutete die Wandlung ihres Tones richtig – daß sie jetzt freundlich zu ihm war –, ließ davon ab, sich mit sich selbst zu beschäftigen, und erzählte ihr, wie man ihn als kleines Kind aus dem Boot ins Wasser geworfen habe; sein Vater habe ihn dann mit dem Bootshaken herausgeholt, und auf die Art habe er schwimmen gelernt. Ein Onkel von ihm sei Leuchtturmwächter irgendwo auf einem Felsen an der schottischen Küste, sagte er. Er sei einmal bei einem Sturm dort gewesen. Dies sagte er laut in eine Gesprächspause hinein. Alle mußten ihm zuhören, als er sagte, er sei während eines Sturms bei seinem Onkel im Leuchtturm gewesen. Ja, dachte Lily Briscoe, als das Gespräch diese günstige Wendung nahm und sie Mrs. Ramsays Dankbarkeit fühlte (denn nun konnte Mrs. Ramsay sich einen Augenblick ungestört unterhalten) – ja, dachte sie, aber was hat es mich gekostet, dir diesen Gefallen zu tun? Unaufrichtig war sie gewesen.

Sie hatte sich der üblichen List bedient – war nett gewesen. Nie würde sie ihn kennenlernen. Nie würde er sie kennenlernen. Die menschlichen Beziehungen waren immer so, dachte sie, und am schlimmsten stand es zwischen Mann und Frau (wenn man von Mr. Bankes absah). Die waren unweigerlich in höchstem Maße unehrlich. Dann fiel ihr Blick auf das Salzfaß, das sie sich als Gedächtnisstütze hingestellt hatte, und ihr fiel ein, daß sie morgen früh den Baum weiter in die Mitte rücken wollte; und bei dem Gedanken an die morgige Malarbeit stieg ihre Stimmung so, daß sie über Mr. Tansleys Worte laut lachte. Mochte er doch den ganzen Abend reden, wenn es ihm Spaß machte!

»Wie lange müssen eigentlich die Leute auf den Leuchttürmen bleiben?« fragte sie. Er sagte es ihr. Er war erstaunlich gut unterrichtet. Und weil er dankbar war und sie mochte und sich offenbar allmählich behaglich fühlte, so durfte Mrs. Ramsay nun in ihr Traumland zurückkehren, in jenen unwirklichen, aber zauberkräftigen Bezirk: nach Marlow ins Wohnzimmer im Hause Manning vor zwanzig Jahren, wo man sich ohne Hast oder Beklommenheit bewegen konnte, denn da gab es keine Zukunft, um die man bangen mußte. Sie wußte ja, was das Leben ihnen und ihr selbst gebracht hatte. Es war, als läse man ein gutes Buch wieder, denn sie kannte das Ende der Geschichte, da sie sich vor zwanzig Jahren zugetragen hatte; und das Leben, das sich sogar von diesem Speisezimmertisch in Kaskaden ergoß, der Himmel weiß wohin – lag dort noch wie versiegelt, lag friedlich wie ein See inmitten seiner Ufer. Also ein neues Billardzimmer hatten sie gebaut – war das möglich? Ob William wohl mehr von den Mannings erzählen würde? Sie hätte es gewünscht. Aber nein – er hatte aus irgendeinem Grunde die Lust verloren. Sie versuchte es. Er antwortete nicht. Zwingen konnte sie ihn nicht. Sie war enttäuscht.

»Es ist schrecklich mit den Kindern«, sagte sie seufzend. Worauf er etwas antwortete wie, daß Pünktlichkeit zu den zweitrangigen Tugenden zähle, die wir uns erst später im Leben aneignen.

»Wenn überhaupt«, sagte Mrs. Ramsay, aber nur, um die Pause zu füllen; denn im stillen dachte sie, welch alte Jungfer William doch würde. Er war sich seines Verrats bewußt, auch dessen, daß sie lieber vertraulich geplaudert hätte, aber er war jetzt nicht dazu aufgelegt und fühlte, wie ihn die Widerwärtigkeit des Lebens anfiel, als er dasaß und wartete. Vielleicht sprachen die anderen von interessanten Dingen? Wovon redeten sie?

Davon, daß der Fischfang in diesem Jahr schlecht war, daß die Männer auswanderten. Von Löhnen war die Rede und von Arbeitslosigkeit. Der junge Mann schalt auf die Regierung. Es war doch, dachte William Bankes, eine wahre Erleichterung, daß sich dergleichen als Rettungsanker bot, wenn das Privatleben unangenehm wurde, und er hörte Mr. Tansley etwas sagen von ›einer der schändlichsten Handlungen der jetzigen Regierung‹. Lily hörte zu; Mrs. Ramsay hörte zu; alle hörten zu. Schon aber empfand Lily, rasch gelangweilt, daß etwas fehlte; Mr. Bankes empfand, daß etwas fehlte. Auch Mrs. Ramsay, die den Schal fester um die Schultern zog, empfand, daß etwas fehlte. Alle neigten sich lauschend vor und dachten: ›Gebe der Himmel, daß niemand in meine Gedanken hineinsehen kann!‹ Denn jeder dachte: ›Die anderen meinen es wirklich so. Sie sind empört und aufgebracht über die Regierung wegen der Fischer. Ich dagegen bin ganz gleichgültig.‹ Vielleicht aber, dachte Mr. Bankes und sah Mr. Tansley an, ist das der kommende Mann. Man wartete immer auf ihn. Eine Gelegenheit gab es immer. Jeden Augenblick mochte ein Führer erscheinen, der Mann von Genie in der Politik wie auf anderem Gebiet. Wahrscheinlich wird er uns alten Käuzen höchst unangenehm sein, dachte Mr. Bankes und bemühte sich nach Kräften um Nachsicht, denn er merkte an einer sonderbaren körperlichen Empfindung, als stünden in seinem Rückgrat die Nerven zu Berge, daß er eifersüchtig war – teils persönlich, teils aber, und wahrscheinlich stärker, um seiner Arbeit, seines Standpunkts, seiner Wissenschaft willen; und deshalb war er nicht ganz vorurteilslos und gerecht; denn Mr. Tansley schien zu sagen: Ihr habt euer Leben vertan. Ihr habt alle miteinander unrecht. Arme alte Käuze, ihr seid hoffnungslos hinter der Zeit zurückgeblieben. Er wirkte ziemlich anmaßend, der junge Mann, und schlechte Manieren hatte er auch. Aber Mr. Bankes gebot sich, seinen Mut nicht zu verkennen, seine Fähigkeiten und daß er erstaunlich gut Bescheid wußte. Wahrscheinlich, dachte Mr. Bankes, als Tansley auf die Regierung schalt, steckt ein gut Teil Richtiges in dem, was er sagt.

»Bitte, sagen Sie mir doch …«, sprach er ihn an. Sie diskutierten also über Politik, und Lily betrachtete das Blatt im Tischtuchmuster; Mrs. Ramsay überließ das Gespräch völlig den beiden Herren, fragte sich, weshalb sie sich dabei so langweilte, und wünschte mit einem Blick über den Tisch hinweg zu ihrem Mann, daß er etwas sagen möchte. Nur ein Wort, dachte sie. Denn wenn er etwas sagte, würde alles anders sein. Er ging den Dingen auf den Grund. Ihm lagen die Fischer und ihre Löhne am Herzen. Der Gedanke daran ließ ihn nicht schlafen. Wenn er sprach, so war das anders; dann dachte man nicht, hoffentlich merkt niemand, wie wenig ich mir daraus mache, denn man machte sich etwas daraus. Als ihr bewußt wurde, daß sie deshalb auf ein Wort von ihm wartete, weil sie ihn so sehr bewunderte, da war ihr, als hätte ihr jemand ein Lob über ihren Mann und ihre Ehe gesagt, und sie glühte vor Aufregung und merkte gar nicht, daß das Lob von ihr stammte. Sie sah ihn an, weil sie dachte, es müßte sich auf seinem Gesicht widerspiegeln, er müßte großartig aussehen … Aber nichts dergleichen! Er verzog das Gesicht, er runzelte die Stirn, er war wütend und rot vor Ärger. Was in aller Welt hat er bloß? wunderte sie sich. Was ist denn nur? Nichts weiter, als daß der arme alte Augustus noch um einen Teller Suppe gebeten hatte. Es war unerhört, es war empörend (so ließ er sie über den Tisch durch Zeichensprache wissen), daß Augustus noch einmal Suppe essen wollte. Er haßte Leute, die noch aßen, wenn er selbst schon fertig war. Sie sah, daß ihm der Ärger wie eine Meute Hunde in die Augen sprang, und sie wußte, daß in einer Sekunde etwas explodieren würde, dann aber – Gott sei Dank! – sah sie, wie er sich zusammennahm, wie er die Bremse am Rad zog, und zwar mit dem ganzen Leibe Funken zu sprühen schien, aber stumm blieb. Er saß wütend da. Er hatte nichts gesagt, und das sollte sie bemerken. Dafür hatte sie ihm Dank zu wissen. Warum aber sollte der arme alte Augustus schließlich nicht um einen zweiten Teller Suppe bitten? Er hatte doch nur Ellens Arm berührt und gesagt: »Ellen, bitte noch einen Teller Suppe«, und darüber war Mr. Ramsay nun so wütend!

Und warum nicht? fragte Mrs. Ramsay. Mochte Augustus doch seine Suppe haben, wenn er wollte. Er hasse Leute, die im Essen schwelgen, sagte Mr. Ramsays gerunzelte Stirn. Er hasse alles, was sich stundenlang hinziehe, wie dies hier. Aber er habe sich beherrscht, wie Mr. Ramsay zu bemerken bitte, so ärgerlich der Anblick auch sei. Aber warum so deutlich sein? fragte Mrs. Ramsay (sie sahen einander über den langen Tisch an und tauschten Fragen und Antworten, wobei jeder genau wußte, was der andere empfand). Jeder konnte es sehen, dachte Mrs. Ramsay. Rose starrte ihren Vater an, Roger starrte den Vater an, und es war vorauszusehen, daß sie in der nächsten Sekunde losprusten würden, also sagte sie (es war wirklich höchste Zeit): »Zündet die Kerzen an«, und sie sprangen sogleich auf, gingen zur Anrichte und hantierten herum.

Warum konnte er nie seine Gefühle verbergen? dachte Mrs. Ramsay und fragte sich, ob Augustus Carmichael es bemerkt hatte. Vielleicht ja; vielleicht nein. Sie mußte, ob sie wollte oder nicht, die Gelassenheit bewundern, mit der er dasaß und seine Suppe aß. Wenn er Suppe haben wollte, so verlangte er eben Suppe. Ob die Leute über ihn lachten oder sich über ihn ärgerten, kümmerte ihn nicht. Er konnte sie nicht leiden, das wußte sie, aber zum Teil war gerade das der Grund ihrer Achtung für ihn; und als sie ihm zusah, wie er seine Suppe aß, umfänglich und gelassen im schwindenden Licht, wuchtig und nachdenklich, da fragte sie sich, was er wohl fühlte und warum er immer zufrieden und würdevoll war; und sie dachte daran, wie sehr er Andrew zugetan war, ihn oft in sein Zimmer rief und ›ihm was zeigte‹, wie Andrew sagte. Und dann lag er den ganzen Tag im Grase und brütete wahrscheinlich über seinen Gedichten, bis er an eine Katze erinnerte, die Vögel belauert; wenn er seinen Reim gefunden hatte, schlug er die Pfoten zusammen, und Mr. Ramsay sagte: »Der arme alte Augustus – er ist ein richtiger Dichter«, was aus seinem Munde ein hohes Lob war.

Nun wurden acht Kerzen auf den Tisch gestellt; nach dem ersten Flackern standen die Flammen aufrecht, erhellten den ganzen langen Tisch und in der Mitte eine Fruchtschale mit Gelb und Purpur. Was hat sie nur damit gemacht, dachte Mrs. Ramsay; denn wie Rose die Weintrauben, Birnen und Bananen in der rauhen, hellgeäderten Muschelschale angeordnet hatte, das erinnerte an eine Trophäe, die vom Meeresgrund heraufgeholt worden war, von der Festtafel Neptuns, oder an das Früchtebündel, das auf einem Bild zusammen mit Weinblättern Bacchus über der Schulter hängt, mitten zwischen Leopardenfellen und rot und golden züngelnden Fackeln … Auf diese Weise plötzlich ins Licht gerückt, schien die Schale machtvolle Größe und Tiefe zu gewinnen, war wie eine Welt, in der man, dachte sie, seinen Stock nehmen, Höhen erklimmen und in Täler hinabsteigen konnte, und sie bemerkte zu ihrer Freude (denn es schuf für einen Augenblick ein Gemeinschaftsgefühl zwischen ihnen), daß auch Augustus den Blick auf die Fruchtschale heftete, sich gleichsam hineinstürzte, hier eine Blüte brach, dort eine Beere naschte und nach dem Schmaus in seinen Bienenkorb zurückkehrte. Das war seine Art des Betrachtens, die anders war als die ihre. Aber das gemeinsame Betrachten knüpfte ein Band zwischen ihnen.

Nun alle Kerzen brannten und die Gesichter zu beiden Seiten des Tisches durch das Kerzenlicht näher herangeholt waren, bildeten sie, anders als vorhin in der Dämmerung, eine rings um einen Tisch vereinte Gesellschaft; denn die Nacht war jetzt durch Glasscheiben ausgeschlossen, die von der Welt da draußen kein klares Bild mehr boten, es vielmehr so seltsam kräuselten, daß es einem vorkam, als wäre hier drinnen Ordnung und trockenes Land, draußen aber nur ein Widerschein, in dem die Dinge wässerig schwankten und schwanden.

Sogleich ging eine Wandlung mit allen vor, als wäre es wirklich so, als wüßten alle, daß sie als Gesellschaft auf einer Insel in einer Höhle saßen; als hätten sie sich gegen das Fließende da draußen verbündet. Mrs. Ramsay, der unbehaglich zumute gewesen war, weil Paul und Minta noch immer nicht da waren, und die keine Ruhe fand, spürte jetzt, wie ihr Unbehagen sich in Erwartung wandelte. Denn nun mußten sie ja kommen, und Lily Briscoe, die den Anlaß der plötzlichen Aufheiterung zu ergründen suchte, verglich diesen Augenblick mit jenem Vorgang auf dem Tennisplatz, wenn alles Feste plötzlich verschwunden war und so riesige Räume zwischen ihnen lagen; nun wurde das gleiche durch die vielen Kerzen in dem spärlich ausgestatteten Zimmer, durch die vorhanglosen Fenster und das helle, maskenhafte Aussehen der Gesichter bei Kerzenlicht bewirkt. Irgendeine Last war von ihnen genommen; sie hielt in diesem Augenblick nichts für unmöglich. Jetzt müssen sie kommen, dachte Mrs. Ramsay und sah zur Tür; und in diesem Augenblick kamen Minta Doyle, Paul Rayley und ein Mädchen mit einer großen Schüssel in den Händen zusammen herein. Sie hätten sich furchtbar verspätet; sie hätten sich entsetzlich verspätet, sagte Minta, während sie ihre Plätze an beiden Enden des Tisches aufsuchten.

»Ich habe meine Agraffe verloren – die Agraffe meiner Großmutter«, sagte Minta, als sie neben Mr. Ramsay saß, mit einem Klageton in der Stimme und feuchten großen braunen Augen, die sie aufschlug und senkte, was Mr. Ramsays Ritterlichkeit weckte, so daß er sie hänselte.

Wie sie nur so dumm sein könne, juwelengeschmückt über die Klippen zu klettern?

Fast hätte sie sich wieder vor ihm gefürchtet: er war so schrecklich gescheit; am ersten Abend, als sie neben ihm gesessen und er über George Eliot gesprochen hatte, war ihr richtig bange gewesen, denn sie hatte den dritten Band von ›Middlemarch‹ in der Eisenbahn liegenlassen und wußte nicht, wie es ausging; später aber kam sie ausgezeichnet mit ihm aus und stellte sich sogar noch unwissender, als sie war, denn sie hörte es gern, wenn er sie eine Närrin nannte. So ließ sie sich auch heute abend nicht einschüchtern, als er sie auslachte. Obendrein wußte sie, schon als sie ins Zimmer trat, daß sich das Wunder begeben hatte: sie trug ihren goldenen Schleier. Manchmal war er da; manchmal nicht. Sie wußte nie, warum er kam oder schwand; und ob sie ihn trug, wußte sie erst, wenn sie das Zimmer betrat; dann aber merkte sie es sofort an den Blicken, mit denen manche Männer sie betrachteten. Ja, heute abend war er da, hell strahlend; sie merkte es an dem Ton, mit dem Mr. Ramsay sie eine Närrin schalt. Lächelnd saß sie neben ihm.

Es ist also soweit, dachte Mrs. Ramsay; sie haben sich verlobt. Und einen Herzschlag lang empfand sie, was sie nie im Leben mehr zu fühlen erwartet hatte – Eifersucht. Denn ihr Mann spürte ihn ja auch – den leuchtenden Glanz, der von Minta ausging; er liebte Mädchen ihrer Art, diese rötlich-goldenen Geschöpfe, die etwas Flüchtiges hatten, etwas Wildes und Leichtsinniges, die sich nicht ›die Haare abschoren‹ und nicht (wie er von der armen Lily Briscoe sagte) ›dürftig‹ waren. In ihnen fand er etwas, was sie selbst nicht besaß, einen Glanz, eine Fülle, die ihn anzogen, ihm Freude bereiteten und die ihn Mädchen wie Minta vorziehen ließen. Sie durften ihm das Haar schneiden, ihm Uhrketten flechten oder ihn mit der Aufforderung bei der Arbeit stören (oft hörte sie das): ›Kommen Sie, Mr. Ramsay, jetzt wollen wir's ihnen zeigen‹, und gleich kam er heraus zum Tennis.

Aber sie war ja gar nicht eifersüchtig, nur dann und wann spürte sie leisen Groll, wenn sie sich zu einem Blick in den Spiegel zwang und sah, wie alt sie geworden war, vielleicht durch eigene Schuld (die Rechnung für das Gewächshaus und all das andere). Sie war diesen Mädchen dankbar dafür, daß sie ihren Mann anlachten (›Wie viele Pfeifen haben Sie heute schon geraucht, Mr. Ramsay?‹ und dergleichen), bis er aussah wie ein junger Mann: einer, der die Frauen anzog, ein Mann ohne Bürde, nicht niedergedrückt von der Last seiner Mühen und den Kümmernissen der Welt, von seinem Ruhm oder seinem Mißerfolg, sondern wieder so, wie sie ihn zuerst gekannt hatte: hager, aber stattlich; etwa wenn er ihr beim Aussteigen aus dem Boot half, dachte sie; mit angenehmem Wesen, wie eben jetzt (sie blickte zu ihm hinüber, und er sah erstaunlich jung aus, wie er Minta neckte). Sie selbst – »Stellen Sie es hierher«, sagte sie und half der Schweizerin, die gewaltige braune Schüssel mit dem Bœuf en Daube vorsichtig hinzustellen –, sie selbst hatte ja ihre Schüchterlinge. Deshalb mußte Paul neben ihr sitzen. Sie hatte ihm den Platz frei gehalten. Wirklich, manchmal glaubte sie, die Schüchterlinge wären ihr am liebsten. Von ihnen wurde man nicht mit Dissertationen behelligt. Was entbehrten sie doch im Grunde, diese furchtbar klugen Männer! Sie vertrockneten richtig mit den Jahren. Paul dagegen hat, so dachte sie, als er sich hinsetzte, etwas ganz Reizendes an sich. Sie fand seine Art bezaubernd, nicht minder seine scharf geschnittene Nase und seine lichtblauen Augen. Er war so rücksichtsvoll. Ob er ihr – da sich doch alle wieder unterhielten – erzählen würde, was geschehen war?

»Wir sind umgekehrt, um Mintas Agraffe zu suchen«, sagte er beim Platznehmen. ›Wir‹ – das war genug. An der Anstrengung, am Heben der Stimme, was über das schwierige Wort hinweghelfen sollte, merkte sie, daß er dieses ›wir‹ zum ersten Male aussprach. ›Wir‹ taten dies, ›wir‹ taten das. Das werden sie nun ihr Leben lang sagen, dachte sie, und ein köstlicher Duft von Oliven und Öl und Bratensaft stieg aus der großen braunen Schüssel auf, als Marthe mit einem kleinen Schwung den Deckel abnahm. Die Köchin hatte drei Arbeitstage an diese Schüssel gewandt. Sie müßte sehr darauf achten, ein besonders zartes Stück für William Bankes zu wählen, dachte Mrs. Ramsay, als sie die Gabel in das weiche Fleisch senkte. Und sie spähte in die Schüssel mit ihren blanken Wänden und dem Gemisch aus duftendem braunem und goldgelbem Fleisch, Lorbeerblättern und Wein. Das ist die rechte Art, das Ereignis zu feiern, dachte sie, und ein wunderlich festliches Gefühl regte sich in ihr, das zugleich närrisch und zärtlich war: so, als wären zwei Empfindungen in ihr wachgerufen, eine tiefe – denn was konnte ernster sein als die Liebe des Mannes zur Frau, was gebieterischer, was eindrucksvoller, als was den Keim des Todes in sich trug; andererseits mußten diese Liebenden, diese Menschen, die mit glänzenden Augen ins Land der Illusion traten, mit Spott umtanzt und mit Blumengewinden geschmückt werden.

»Ein Triumph der Kochkunst«, sagte Mr. Bankes und legte für einen Augenblick das Messer aus der Hand. Er hatte mit Aufmerksamkeit gegessen. Es war erlesen; es war zart. Es war vollendet zubereitet. Wie bringe sie es nur fertig, dergleichen in der tiefsten Provinz zu beschaffen, wollte er wissen. Sie war eine wundervolle Frau. All seine Liebe, all seine Verehrung war wieder erwacht; und sie wußte es.

»Es ist ein französisches Rezept von meiner Großmutter«, sagte Mrs. Ramsay, und der Klang ihrer Stimme verriet, wie glücklich sie war. Selbstverständlich stamme es aus Frankreich. Was man in England Kochkunst nenne, sei ein Greuel (darin waren sie sich einig). Da werde Kohl in Wasser getan. Da werde Fleisch gebraten, bis es wie Leder sei. Da werde die köstliche Außenseite der Gemüse entfernt. »In denen doch«, sagte Mr. Bankes, »der ganze Nährwert vom Gemüse steckt.« Und die Verschwendung, sagte Mrs. Ramsay. Von dem, was eine englische Köchin wegwerfe, könne in Frankreich eine ganze Familie leben. Beflügelt von dem Gefühl, daß sie Williams Zuneigung wiedergewonnen hatte, daß nun alles wieder im rechten Gleise war, daß der tote Punkt hinter ihr lag, daß sie nun ihren Sieg feiern, ja spotten durfte, lachte sie und redete mit lebhaften Handbewegungen, bis Lily dachte, wie kindlich, wie lächerlich sie doch wäre, wie sie da säße in aller neu erblühten Schönheit und über Gemüseschalen redete. Sie hatte etwas Beängstigendes. Unwiderstehlich war sie. Immer bekam sie schließlich ihren Willen. Nun hatte sie das wieder fertiggebracht – Paul und Minta hatten sich ja offenbar verlobt. Mr. Bankes war zum Essen geblieben. Sie behext sie alle miteinander durch die einfache, direkte Art ihrer Wünsche, und Lily verglich diese Fülle mit ihrer eigenen Armseligkeit und vermutete, es müßte zum Teil der Glaube (denn ihr ganzes Gesicht glänzte – sie sah nicht jung aus, aber sie strahlte) an diese seltsame, unheimliche Kraft sein, der Paul Rayley, den Mittelpunkt von alledem, geradezu zittern, aber dennoch entrückt, abwesend, schweigsam bleiben ließ. Mrs. Ramsay empfand Achtung und Rührung dafür, während sie über Gemüseschalen redete, dachte Lily; sie hielt die Hände darüber, um es zu wärmen und zu schützen, lachte aber doch darüber, da sie wieder einmal ihren Willen bekommen hatte, und schleppte ihre Opfer, so fühlte Lily, zum Altar. Auch sie wurde jetzt davon ergriffen – von der Erregung, dem Beben der Liebe. Wie unscheinbar kam sie sich neben Paul vor! Er glühend und brennend; sie abseits und spöttisch; er war für Abenteuer bereit, sie lag am Ufer fest; er hatte sich sorglos hineingestürzt, sie war einsam und ausgeschlossen; aber sie sagte schüchtern, entschlossen, einen Teil von seinem Mißgeschick, sofern es ein Mißgeschick war, zu erflehen: »Wann hat denn Minta ihre Agraffe verloren?«

Er lächelte ein ganz ausgesuchtes Lächeln, überschleiert von Erinnerung, verklärt von Träumen. Er schüttelte den Kopf. »Am Strand«, sagte er.

»Ich werde sie finden«, sagte er, »ich stehe ganz früh auf.« Da er dies vor Minta geheimhalten wollte, so dämpfte er die Stimme und sah zu ihr hinüber, die lachend neben Mr. Ramsay saß.

Lily wünschte, ihre Hilfsbereitschaft leidenschaftlich und heftig zu beteuern, sie sah es vor sich, wie gerade sie in der Morgendämmerung am Strand die Agraffe, halb verborgen unter einem Stein, finden und damit unter die Seefahrer und Abenteurer aufgenommen werden würde. Aber was antwortete er auf ihr Anerbieten? Sie sagte nämlich wahrhaftig mit einer Leidenschaft, die sie sonst selten zeigte: »Nehmen Sie mich mit!« – und er lachte. Das konnte ja oder nein heißen, vielleicht beides. Aber nicht dieser Zweifel – sein leises Lachen war es, das so klang, als ob er sagen wollte: Von mir aus kannst du von der Klippe springen, wenn's dir Spaß macht, mir ist es gleich. Dies Lachen sengte ihre Wange mit der Glut der Liebe, ihren Schrecken, ihrer Grausamkeit, ihrer Bedenkenlosigkeit. Es verbrannte sie, und als Lily zu Minta hinübersah, die Mr. Ramsay mit ihrer Anmut bezauberte, erschauerte sie für sie, daß sie nun diesen Raubvogelfängen preisgegeben war, und empfand Dankbarkeit. Sie jedenfalls brauchte nicht zu heiraten – Gott sei Dank! dachte sie, und ihr Blick fiel auf das Salzfaß auf dem Tischtuchmuster: sie mußte diese Erniedrigung nicht hinnehmen. Sie konnte dieser Schwäche entgehen. Sie würde den Baum ein bißchen mehr in die Mitte rücken.

So verwickelt waren nun die Dinge. Denn was ihr widerfuhr, besonders wenn sie bei den Ramsays weilte, war, daß in ihr zwei Empfindungen geweckt wurden, die in heftigem Widerstreit lagen: die eine ist, was ihr anderen fühlt; die andere ist, was ich fühle; und dann stritten beide miteinander in ihrer Brust wie jetzt. Sie ist so schön, so erregend, diese Liebe, daß ich davor erzittere und mich, ganz gegen meine Gewohnheit, erbiete, eine Agraffe am Strand zu suchen; und doch ist sie die dümmste, die rohste der menschlichen Leidenschaften und macht aus einem liebenswürdigen jungen Manne mit dem Profil einer Gemme (Paul hatte in der Tat ein edles Profil) einen Stemmeisenritter (er war großsprecherisch, er war unverschämt) aus der Mile End Road. Und doch, sagte sie sich, hat man von Urbeginn der Zeit Hochgesänge auf die Liebe angestimmt; mit Kränzen hat man sie überschüttet und mit Rosen; befragt man zehn Menschen, so werden neun davon antworten, daß sie sich nichts anderes wünschen als dies; wogegen die Frauen, nach ihrer eigenen Erfahrung zu urteilen, die ganze Zeit das Gefühl haben würden: Nicht dies ist es, was wir ersehnen; nichts Beschwerlicheres, Kindischeres, Unmenschlicheres gibt es als die Liebe; und doch ist sie schön und notwendig. Nun also? fragte sie, nun also? – als erwartete sie, daß die anderen die Auseinandersetzung weiterführen würden; als wäre der kleine Bolzen, den man in einer solchen Auseinandersetzung zu verschießen hat, offenbar zu kurz gefallen, und es bliebe den anderen überlassen, ihn ans Ziel zu befördern. So lauschte sie denn wieder dem Gespräch, in der Hoffnung, daß ein Licht auf die Frage der Liebe fallen würde.

»Und dann«, sagte Mr. Bankes, »die Flüssigkeit, die die Engländer Kaffee nennen.«

»Ach Kaffee!« sagte Mrs. Ramsay. Aber es sei, sagte sie, viel eher eine Frage ordentlicher Butter und reiner Milch (sie war, das konnte Lily sehen, richtig erregt und sprach mit großem Nachdruck). Warm und beredt schilderte sie die schlechten Verhältnisse in der englischen Milchwirtschaft und den Zustand, in dem die Milch an die Haustüren geliefert wurde, und war eben dabei, ihre Anklage zu belegen, denn sie hatte sich gründlich mit der Sache beschäftigt – als plötzlich rings um den Tisch, bei Andrew in der Mitte fing es an, wie Feuer, das von Ginsterbusch zu Ginsterbusch springt, unter den Kindern ein Gelächter aufsprang; Mr. Ramsay lachte mit; sie wurde regelrecht ausgelacht, umzingelt vom Feuer, gezwungen, ihren Helm abzunehmen, ihre Batterien abzubauen, und konnte nur Vergeltung üben, indem sie Mr. Bankes den Hohn und Spott der Tafelrunde als ein Beispiel hinstellte, was man zu leiden hatte, wenn man den Vorurteilen des britischen Publikums zu Leibe rückte.

Lily indessen, die ihr ja über die Sache mit Mr. Tansley hinweggeholfen hatte, nahm sie aus; denn es war ihr nicht entgangen, daß sie abseits stand. Sie sagte: »Lily ist jedenfalls meiner Meinung.« Und zog sie, die ein bißchen zitterte und aus der Fassung geriet, ins Gespräch. (Denn sie dachte ja über die Liebe nach.) Sie waren beide abseits, hatte Mrs. Ramsay gedacht, Lily und auch Charles Tansley. Beide leiden unter dem Anblick dieses brennenden Glücks. Er, das war klar, fror förmlich in seiner Einsamkeit; wenn Paul Rayley im Zimmer war, hatte keine Frau einen Blick für ihn. Der arme Kerl! Aber er hatte schließlich seine Doktorarbeit, über den Einfluß von irgendwem auf irgendwas: er konnte sich schon allein helfen. Mit Lily stand es anders. Sie verblaßte neben Mintas Glanz; sie sah unscheinbarer aus denn je in ihrem grauen Kleidchen, mit ihrem faltigen schmalen Gesicht und ihren kleinen Schlitzaugen. Alles an ihr war so winzig. Und doch, dachte Mrs. Ramsay, als sie ihren Beistand anrief (denn Lily sollte ihr bestätigen, daß sie nicht mehr über ihr Milchthema redete als ihr Mann über seine Stiefel – stundenlang konnte er über seine Stiefel reden), wenn ich die beiden vergleiche, so wird Lily mit vierzig besser daran sein als Minta. In Lilys Wesen war ein besonderer Faden, etwas flackerte in ihr; etwas Eigenes, was Mrs. Ramsay sehr anzog, einen Mann allerdings kaum, fürchtete sie. Nein, gewiß nicht, wenn er nicht viel älter wäre, so wie William Bankes. Vielleicht machte er sich etwas aus ihr, ja, seit dem Tode seiner Frau, dachte Mrs. Ramsay zuweilen, machte er sich etwas aus ihr. Natürlich war er nicht ›verliebt‹; es war eine jener unbestimmten Zuneigungen, die man so oft findet. Ach Unsinn, dachte sie; William muß Lily heiraten. Sie haben so vieles gemeinsam. Lily mag Blumen so gern. Sie sind beide kühl und fern und ziemlich selbstgenügsam. Sie mußte es einrichten, daß sie einen langen Spaziergang miteinander machten.

Dumm, daß sie die beiden einander gegenübergesetzt hatte. Das ließ sich morgen wieder gutmachen. Wenn das Wetter schön war, konnten sie ein Picknick machen. Alles schien ihr möglich. Alles schien ihr recht. Gerade jetzt (aber dies kann nicht von Dauer sein, dachte sie und löste sich von dem Augenblick, während alle über Stiefel redeten), gerade jetzt hatte sie Sicherheit gewonnen; wie ein Falke schwebte sie hoch oben; wie eine Fahne wehte sie in einem Element aus Freude, die jeden Nerv ihres Körpers voll und süß erfüllte, nicht laut, eher feierlich, denn sie kam, dachte sie mit einem Blick auf alle am Tisch, vom Mann, von den Kindern und Freunden; all dies stieg auf in dieser vollkommenen Stille (sie wollte William Bankes mit noch einem kleinen Stückchen versorgen und spähte in die Tiefen der irdenen Schüssel) und verweilte anscheinend aus unbekanntem Grunde wie ein Rauch, wie wallender Dampf, der sie schützend umgab. Es brauchte keiner Worte; es gab keine Worte. Es war da, umgab sie. Es hatte, so dachte sie und legte Mr. Bankes sorgsam ein besonders zartes Stück auf, einen Hauch von Ewigkeit an sich; und das hatte sie heute nachmittag schon einmal empfunden, bei einem anderen Anlaß; es gibt einen Zusammenhang der Dinge, eine Stetigkeit; etwas, meinte sie, das unberührt bleibt vom Wandel und (sie blickte zum Fenster mit seinem Gekräusel widergespiegelter Lichter) dem Flutenden, dem Flüchtigen, dem Gespenstischen trotzig entgegenleuchtet wie ein Rubin; so daß sie heute abend abermals das Gefühl hatte, das ihr heute schon einmal zuteil wurde, das Gefühl der Ruhe und des Friedens. Aus solchen Augenblicken, dachte sie, ist das gefügt, was unvergänglich ist. Dies würde bleiben.

»Ja«, versicherte sie William Bankes, »es ist genug für alle da.«

»Andrew«, sagte sie, »halt deinen Teller tiefer, sonst geht's daneben.« (Das Bœuf en Daube war ein Sieg auf der ganzen Linie.) Hier, so dachte sie und legte den Löffel hin, ist der stille Raum, der das Herz der Dinge umgibt, wo man sich rühren oder rasten kann; wo man nun (alle waren versorgt) warten und lauschen kann; wo man wie ein Falke jählings aus der Höhe niederstößt, leicht hinabschweben, sich auf dem Gelächter niederlassen und mit ganzem Gewicht auf dem ruhen kann, was drüben am anderen Tischende ihr Mann über die Quadratwurzel aus eintausendzweihundertdreiundfünfzig sagte, die zufällig die Nummer seiner Eisenbahnfahrkarte wäre.

Was war mit alledem gemeint? Bis heute hatte sie keine Ahnung davon. Eine Quadratwurzel? Was war das? Ihre Söhne wußten es. Sie verließ sich auf sie; von Kubikzahlen und Quadratwurzeln sprachen sie jetzt; von Voltaire und Madame de Staël; vom Charakter Napoleons; vom Aufbau des französischen Agrarwesens; von Lord Rosebery; den Lebenserinnerungen Creeveys; es richtete sie auf, es stärkte sie, dies wunderbare Gewebe männlichen Geistes, das auf und ab lief, hierhin und dorthin, kreuz und quer, eisernen Trägern gleich, die das schwankende Gewebe spannen und die Welt tragen, so daß sie sich ganz darauf verlassen, sogar die Augen schließen oder doch einen Augenblick die Lider senken konnte, wie ein Kind, das von seinem Kissen aufstarrt und vor den vieltausendfachen Blattschichten eines Baumes blinzelt. Dann erwachte sie. Es wurde immer noch gesponnen. William Bankes hielt eine Lobrede auf die Waverley-Romane.

Alle sechs Monate lese er einen davon, sagte er. Warum mußte das Charles Tansley so erbosen? Er fuhr dazwischen (alles nur, weil Prue nicht nett zu ihm sein will, dachte Mrs. Ramsay) und ließ kein gutes Haar an den Waverley-Romanen, von denen er keine Ahnung hatte, aber auch gar keine Ahnung, dachte Mrs. Ramsay, die ihn mehr beobachtete, als auf seine Worte hörte. Man sah ihm ja ganz deutlich an, was er wollte – er wollte sich zur Geltung bringen, und so würde es immer mit ihm gehen, bis er seine Professur hätte oder verheiratet wäre und nicht immerzu mehr ›ich – ich – ich‹ sagen müßte. Denn darauf lief ja seine Kritik an dem armen Sir Walter hinaus, oder war es Jane Austen? ›Ich – ich – ich.‹ Er dachte an sich selbst und an den Eindruck, den er machte, das merkte sie am Ton seiner Stimme, an der Emphase und seiner Verlegenheit. Erfolg müßte er haben, der würde ihm guttun. Jedenfalls waren sie wieder im besten Gange. Da brauchte sie nicht zuzuhören. Es war nicht von Dauer, wußte sie, aber in diesem Augenblick sahen ihre Augen so klar, daß sie beim Wandern rings um den Tisch jeden dieser Menschen, seine Gedanken und Gefühle mühelos zu entschleiern schienen, wie ein Licht, das sich unter Wasser stiehlt und die Wellenspuren, die Binsen, die Elritzen, die dort standen, und die jäh schnellende, stumme Forelle, all das schwebende, zitternde Leben dem Blick preisgibt. So sah, so hörte sie die anderen; das, was sie sagten, war auch so beschaffen, als wäre das Gesagte wie die Bewegung einer Forelle, wobei man gleichzeitig die Wasserbewegung und den Sandgrund, einiges zur Rechten, einiges zur Linken sieht und das Ganze eins ist; im tätigen Leben dagegen hätte sie die Dinge klargestellt und voneinander getrennt gehalten; sie hätte gesagt, sie möge die Waverley-Romane – oder: hätte sie nicht gelesen; sie würde sich nachdrücklich behaupten; jetzt sagte sie nichts. Sie hing für diesen Augenblick in der Schwebe.

»Schön, aber wie lange, meinen Sie, wird man das noch lesen?« fragte jemand. Es war, als gingen zitternde Fühler von ihr aus, die manche Sätze auffingen und ihrer Aufmerksamkeit aufdrängten. Dies war einer davon. Sie witterte Gefahr für ihren Mann. Eine derartige Frage mußte fast mit Sicherheit eine Antwort hervorrufen, die ihn an seinen eigenen Mißerfolg erinnerte. Wie lange würde man ihn lesen – würde er sogleich denken. William Bankes (der von solcher Eitelkeit gänzlich frei war) lachte und sagte, er messe solchen modischen Wandlungen keine Bedeutung bei. Wer wisse denn, was Bestand habe in der Literatur wie überhaupt sonst?

»Freuen wir uns an dem, was uns Freude macht«, sagte er. Mrs. Ramsay fand seine Unverletzlichkeit wahrhaft bewundernswert. Nie dachte er anscheinend auch nur einen Augenblick lang: Inwiefern berührt das mich? Wie nun aber, wenn man die andere Wesensart hat, die auf Lob angewiesen ist, die auf Ermutigung angewiesen ist, da wurde einem natürlich allmählich (und sie wußte, daß es Mr. Ramsay so erging) unbehaglich zumute; man wünschte, daß jemand sagte: Gewiß, Ihr Werk aber wird bleiben, Mr. Ramsay, oder etwas Ähnliches. Er zeigte denn auch sein Unbehagen sehr deutlich, indem er mit einiger Schärfe sagte, für ihn würde jedenfalls Scott (oder war es Shakespeare?) sein Leben lang bleiben. Es klang gereizt. Alle, Mrs. Ramsay merkte es, fühlten sich ein wenig verlegen, ohne zu wissen, warum. Dann sagte Minta Doyle, die einen ausgeprägten Instinkt hatte, dreist und albern, sie könne sich nicht vorstellen, daß jemand Shakespeare wirklich noch mit Genuß lese. Worauf Mr. Ramsay grimmig (aber er war schon wieder anderswo) antwortete, nur sehr wenige fänden soviel Vergnügen daran, wie sie zu finden behaupteten. In einigen Stücken, fügte er hinzu, stecke aber viel Wertvolles, und Mrs. Ramsay sah, daß für den Augenblick nun wieder alles in Ordnung war; er würde über Minta lachen, und sie, die seine ängstliche Sorge um sich selbst wohl bemerkte, würde sich seiner auf ihre Art annehmen und ihm irgendwie das ersehnte Lob spenden. Aber es wäre mir doch lieber, dachte Mrs. Ramsay, wenn es dessen nicht bedürfte: vielleicht war es ihre Schuld, daß es notwendig war. Immerhin konnte sie nun ungestört zuhören, was Paul Rayley von Büchern erzählen wollte, die er als Junge gelesen hatte. Die blieben einem, sagte er. In der Schulzeit habe er einiges von Tolstoi gelesen. An ein Buch erinnere er sich, aber er habe den Titel vergessen. Russische Namen seien auch unmöglich, sagte Mrs. Ramsay. »Wronsky«, sagte Paul. Es falle ihm ein, weil ihm der Name für einen Schurken immer so passend erschienen sei. »Wronsky«, sagte Mrs. Ramsay; »ach so, ›Anna Karenina‹«. Aber das half ihnen nicht viel weiter; Bücher waren nicht ihre Stärke.

Nein, Charles Tansley konnte sie in einer einzigen Sekunde über Bücher belehren; nur war dann wieder so viel von: ›Drücke ich mich richtig aus?‹ und ›Mache ich auch einen guten Eindruck?‹ dazwischen, daß man schließlich mehr über ihn als über Tolstoi erfuhr; während Paul sich mit der Sache befaßte, nicht mit sich selbst. Wie alle einfachen Menschen hatte er dazu eine gewisse Bescheidenheit, er nahm Rücksicht auf die Gefühle der anderen, was sie, zuweilen wenigstens, anziehend fand. Jetzt zum Beispiel dachte er nicht an sich oder an Tolstoi, sondern ob ihr kalt sei, ob sie Zug spüre oder ob sie eine Birne haben wolle.

Nein, sagte sie, sie wolle keine Birne. Sie hatte nämlich, ohne es zu wissen, die Fruchtschale bewacht, eifersüchtig, in der Hoffnung, daß niemand sie berühren würde.

Ihre Blicke wanderten ein und aus zwischen den geschwungenen Linien und Schatten der Früchte, tauchten in den leuchtenden Purpur der Tieflandtrauben, glitten dann über das rauhe Rund der Schale, hielten hier Gelb gegen Purpur, dort eine geschweifte Form gegen eine runde; bei alledem wußte sie nicht, weshalb sie das tat oder weshalb ihr bei jeder Wanderung des Blicks heiterer zumute wurde – bis, welch ein Jammer, daß es geschah, eine Hand sich ausstreckte, eine Birne nahm und das ganze Bild verdarb. Voll Mitgefühl blickte sie zu Rose hinüber. Sie blickte zu Rose hinüber, die zwischen Jasper und Prue saß. Wie merkwürdig, daß das eigene Kind so etwas fertigbrachte!

Wunderlich, sie da so sitzen zu sehen, die Kinder, alle in einer Reihe: Jasper, Rose, Prue, Andrew; fast stumm, aber unter ihnen war ein Spaß im Gange, das sah man am Zucken ihrer Lippen. Es war etwas, was gar nichts mit anderem zu tun hatte, etwas, was sie sich aufsparten, um nachher oben in ihren eigenen Zimmern darüber zu lachen. Hoffentlich nicht über ihren Vater, hoffte Mrs. Ramsay. Nein, sie glaubte nicht. Aber was mochte es sein, fragte sie sich, ein wenig traurig: denn sie würden wahrscheinlich lachen, wenn sie nicht dabei war.

Das war nun alles hinter diesen etwas gezwungenen, ruhigen, maskenähnlichen Gesichtern aufgespart; denn sie fügten sich nicht leicht in den Kreis der anderen; sie waren wie Beobachter, wie Aufseher, ein bißchen erhaben oder abseits von den Erwachsenen. Wenn sie freilich Prue heute abend ansah, so merkte sie, daß das auf sie nicht ganz zutraf. Sie machte gerade den Anfang, sie tat gerade die ersten Schritte, sie stieg gerade herab. Ein ganz leiser Glanz lag auf ihrem Gesicht, als spiegelte sich von Mintas Glut so eine Erregung, eine Vorahnung von Glück in ihr wider, als höbe sich die Sonne der Liebe zwischen Mann und Weib gerade über den Rand des Tischtuchs und als beugte sie, ohne sie zu kennen, sich vor ihr, sie zu grüßen. Immer noch sah sie Minta an, scheu, aber neugierig, so daß Mrs. Ramsay von der einen zur anderen blickte und an Prue stumm die Worte richtete: Bald, sehr bald schon wirst du ebenso glücklich sein wie sie. Du wirst noch glücklicher sein, fügte sie hinzu und meinte damit: weil du meine Tochter bist; denn ihre Tochter mußte glücklicher sein als die Töchter anderer Leute. Aber das Dinner war beendet. Es war Zeit aufzustehen. Sie spielten nur noch mit dem, was auf ihrem Teller lag. Aber sie wollte noch warten, bis das Gelächter über eine Geschichte, die ihr Mann erzählte, sich gelegt hatte. Er spaßte mit Minta wegen einer Wette. Dann wollte sie die Tafel aufheben.

Sie mochte Charles Tansley, dachte sie plötzlich; sie mochte sein Lachen. Sie mochte ihn, weil er so ärgerlich war über Paul und Minta. Sie mochte ihn wegen seines linkischen Wesens. Schließlich steckte allerhand in dem jungen Mann. Und Lily, dachte sie und legte ihre Serviette neben den Teller – Lily hat immer ihren Spaß für sich. Um Lily braucht man sich nicht zu sorgen. Sie wartete. Sie schob die Serviette unter den Tellerrand. Also, waren sie nun fertig? Nein. Die Geschichte hatte ihn auf eine zweite Geschichte gebracht. Ihr Mann war heute abend sehr guter Laune und hatte sogar den alten Augustus mit einbezogen, weil er offenbar die Sache mit der Suppe wieder gutmachen wollte – sie erzählten Geschichten über jemand, den beide auf dem College gekannt hatten. Sie blickte zum Fenster, auf den nun schwarzen Scheiben standen die Flammen der Kerzen heller als zuvor; und während ihr Blick darauf ruhte, drangen die Stimmen mit einem ganz seltsamen Klang zu ihr, als kämen sie vom Gottesdienst in einer Kathedrale, denn auf die Worte achtete sie nicht. Die plötzlichen Ausbrüche von Gelächter, dann der Klang einer einzelnen Stimme (Mintas) erinnerte sie an die Männer- und Knabenstimmen, die in einer römisch-katholischen Kirche die lateinischen Sätze des Gottesdienstes singen. Sie wartete. Ihr Mann sprach. Er deklamierte etwas, und aus dem Rhythmus, aus dem zugleich erregten und schwermütigen Klang seiner Stimme entnahm sie, daß es Verse waren:

Komm und ersteig den Gartenpfad,
Luriana Lurili.
Die Chinarose blüht und blüht,
und Bienensang summt rings um sie.

Die Worte (sie blickte zum Fenster) klangen, als trieben sie da draußen wie Blumen auf den Wellen, ganz getrennt von allem hier drinnen; als hätte niemand sie gesprochen, sondern als wären sie von selbst entstanden.

Und alles Leben, das verrann,
und alles, das die Zukunft bringt,
ist baumumkränzt und blattumglänzt.

Sie wußte nicht, was die Worte bedeuteten; aber sie erlebte sie wie Musik: als hätte ihre eigene Stimme sie gesprochen, selbständig, unabhängig von ihrem Körper, als drückte sie nun ganz mühelos aus, was sie den Abend lang im Sinn getragen hatte, während sie ganz andere Dinge redete. Sie wußte, ohne in die Runde zu blicken, daß alle am Tisch der Stimme lauschten:

Und wissen möcht ich, was du denkst,
Luriana, Lurili,

mit dem gleichen Gefühl der Erlösung und Freude, das sie empfand, als wäre es schließlich ganz natürlich, die Worte zu sprechen, als sprächen sie sie mit eigener Stimme.

Aber die Stimme verstummte. Sie sah in die Runde. Sie gab sich einen Ruck und stand auf. Augustus Carmichael hatte sich erhoben, er hielt seine Serviette so, daß sie wie ein langes weißes Gewand wirkte, und sang:

Die Könige reiten übers Gras,
auf blumigen Auen reiten sie
mit Palmenblatt und Zedernzweig;
Luriana, Lurili,

und als sie an ihm vorüberkam, wandte er sich ihr ein wenig zu und wiederholte die letzten Worte:

Luriana, Lurili,

und verbeugte sich, als wollte er ihr huldigen. Ohne zu wissen, warum, fühlte sie, daß er ihr in diesem Augenblick freundlicher gesinnt war als je zuvor; und mit einem Gefühl der Erleichterung und Dankbarkeit erwiderte sie seine Verneigung und ging durch die Tür, die er für sie offenhielt.

Es war nun an der Zeit, alles ein bißchen voranzutreiben. Den Fuß auf der Schwelle, verweilte sie noch einen Augenblick auf diesem Schauplatz, der schon entschwand, während sie zurückblickte, und dann, als sie sich bewegte, Mintas Arm nahm und das Zimmer verließ, verwandelte er sich und bekam eine andere Form; er war, das wußte sie, mit einem letzten Blick über die Schulter, bereits Vergangenheit geworden.


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