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18

Wie immer, dachte Lily. Immer gab es etwas, was genau in diesem Augenblick getan werden mußte, etwas, was unverzüglich zu tun Mrs. Ramsay aus nur ihr bekannten Gründen beschloß, mochten die anderen auch wie jetzt scherzend beisammenstehen und nicht recht wissen, ob sie ins Rauchzimmer, ins Wohnzimmer oder in die Dachkammern gehen sollten. Dann sah man, wie Mrs. Ramsay, Mintas Arm in ihrem, mitten in dem Durcheinander stand, sich besann: »Ja, es ist an der Zeit dafür« und sich unverzüglich mit geheimnisvoller Miene entfernte, um etwas allein zu erledigen. Und sobald sie weg war, setzte eine Art von Auflösung ein; sie waren unschlüssig, liefen auseinander; Mr. Bankes nahm Charles Tansley am Arm und entführte ihn auf die Terrasse, um die beim Essen begonnene politische Auseinandersetzung zu beenden, das Gewicht des Abends zu verlagern und die andere Schale zu belasten, als erstiegen sie, dachte Lily, als sie sie gehen sah und einen Satz über die Politik der Labour Party auffing, die Kommandobrücke, um die Position zu bestimmen; so wenigstens wirkte auf sie der Übergang von der Dichtkunst zur Politik; Mr. Bankes und Charles Tansley also gingen hinaus, die anderen standen da und sahen Mrs. Ramsay nach, die allein die vom Lampenlicht erhellte Treppe hinaufstieg. Wohin, dachte Lily verwundert, will sie denn in solcher Eile?

Nicht daß sie gerannt oder auch nur rasch gegangen wäre; vielmehr ging sie ziemlich langsam. Sie spürte sogar Lust, stehenzubleiben, nur einen Augenblick nach all dem Geschwatze, und etwas Bestimmtes herauszugreifen: das, was wesentlich war; es herauszulösen; es zu säubern von allen Gemütsbewegungen und dem ganzen Kleinkram und es vor sich hin zu halten und zum Tribunal zu tragen, wo, zum Konklave versammelt, die Richter saßen, die sie zur Entscheidung über diese Dinge gesetzt hatte. Ist es gut, ist es schlecht, ist es recht oder unrecht? Wohin treiben wir? und so weiter. So verschaffte sie sich nach der Erschütterung des Erlebnisses ihr Recht und benutzte ganz unbewußt und vernunftwidrig die Zweige der Ulmen draußen zur Festigung ihres Standpunktes. Ihre Welt wandelte sich nun: sie aber waren beständig. Das Erlebnis hatte ihr das Gefühl der Bewegung vermittelt. Alles mußte in Ordnung sein. Sie mußte noch das fertigbringen und das, dachte sie und billigte unmerklich die würdige Ruhe der Bäume und dann wieder den herrlichen Aufwärtsschwung (so hebt sich der Schnabel eines Schiffes auf der Welle) der Ulmenzweige, als der Wind sie hob. Denn es war windig (sie stand einen Augenblick und sah hinaus). Es war windig, so daß die Blätter dann und wann einen Stern bloßfegten, und die Sterne selbst schienen sich zu schütteln, Strahlen zu schleudern und wollten zwischen den Blatträndern hervorblitzen. Ja, das war getan und vollbracht und hat, wie alles Vollbrachte, nun feierlichen Charakter. Und wenn man es nun, gereinigt von Geschwätz und Trubel, bedachte, so schien es immer dagewesen zu sein und hatte sich heute nur offen gezeigt und dadurch alles an seinen festen Platz gerückt. Sie würden, dachte sie im Weitergehen, solange sie leben, zurückwandern zu diesem Abend; diesem Mond; diesem Wind; diesem Hause; auch zu ihr. Es schmeichelte ihr, darin war sie sehr empfänglich für Schmeichelei, zu denken, daß sie nun, solange sie lebten, mit ihren Herzen unlöslich verknüpft sein würde; und das da auch und das und das, dachte sie beim Treppensteigen und lächelte dem Sofa auf dem Treppenabsatz (Mutters Sofa) und dem Schaukelstuhl (Vaters Schaukelstuhl) und der Karte der Hebriden zärtlich zu. All das würde nun in Paul und Mintas Leben immer wieder lebendig werden; ›die Rayleys‹ – sie probierte, wie der neue Name klang; und sie erlebte, die Hand auf der Türklinke des Kinderzimmers, jene Gefühlsgemeinschaft mit anderen Menschen, die aus der Gemütsbewegung erwächst, als wären alle trennenden Wände so dünn geworden, daß wirklich alles (es war Erleichterung und Glück zugleich) in einem einzigen Strom dahinfloß und Stühle, Tische, Karten ebensogut ihr wie ihnen gehörten, und Paul und Minta würden damit weiterleben, wenn sie einmal tot war.

Sie drückte die Klinke hinunter, mit festem Ruck, damit sie nicht quietschte, und spitzte beim Eintreten etwas die Lippen, wie um sich zu erinnern, daß sie nicht laut sprechen durfte. Aber sogleich beim Eintritt merkte sie mit Verdruß, daß die Vorsicht überflüssig war. Die Kinder schliefen nicht. Es war höchst ärgerlich. Mildred mußte besser aufpassen. James war hellwach, und Cam saß kerzengerade, Mildred war mit bloßen Füßen aus dem Bett, und es war fast elf, und alle redeten. Was war los? Wieder dieser gräßliche Schädel. Sie hatte Mildred aufgetragen, ihn wegzubringen, aber Mildred hatte es natürlich vergessen, und nun war Cam hellwach und James hellwach, stritten sich und sollten doch von Rechts wegen schon seit Stunden schlafen. Was war Edward eingefallen, daß er ihnen diesen gräßlichen Schädel schickte? Dummerweise hatte sie zugelassen, daß er hier oben angenagelt wurde. Er wäre fest angenagelt, sagte Mildred, und Cam konnte nicht schlafen, solange das Ding im Zimmer war, und James brüllte, wenn sie es nur anrührte.

Cam müßte nun schlafen (er habe so große Hörner, sagte Cam), müßte nun schlafen und von schönen Palästen träumen, sagte Mrs. Ramsay und setzte sich auf den Bettrand. Sie sehe aber doch die Hörner überall im Zimmer, sagte Cam. Sie hatte recht. Wohin man das Licht auch stellte (und James konnte ohne Licht nicht schlafen), immer war irgendwo ein Schatten.

»Aber überleg doch, Cam, es ist ja nur ein altes Schwein«, sagte Mrs. Ramsay, »ein hübsches schwarzes Schwein, wie die Schweine auf dem Bauernhof.« Für Cam aber war es ein Untier, das überall im Zimmer nach ihr griff.

»Also gut«, sagte Mrs. Ramsay, »dann wollen wir's zudecken«, und alle paßten auf, wie sie zur Kommode ging, schnell eine kleine Lade nach der andern aufzog und, als sie nichts Geeignetes fand, ihren Schal nahm und um den Schädel wand, immer rundherum; dann kehrte sie zu Cam zurück und legte ihren Kopf fast flach neben Cams Kopf auf das Kissen und sagte, wie hübsch er jetzt aussehe, wie sehr er den Feen gefallen würde! es sei wie ein Vogelnest, es sei wie ein schöner Berg, wie sie ihn mal auf der Reise gesehen habe, mit Tälern und Blumen und Kuhglocken und Vögeln, die singen, und Geißlein und Antilopen … Sie sah beim Sprechen, wie der rhythmische Klang der Worte in Cam widerhallte; und Cam wiederholte sie: es sei wie ein Berg, ein Vogelnest, ein Garten, kleine Antilopen seien da; und ihre Augen öffneten und schlossen sich, und Mrs. Ramsay sprach weiter, noch eintöniger, noch rhythmischer, was ihr gerade einfiel, daß sie die Augen zumachen, schlafen und träumen müsse von Bergen und Tälern und fallenden Sternen und Papageien und Antilopen und Gärten und allem Schönen, sagte sie, hob ganz langsam den Kopf und sprach immer eintöniger, bis sie aufrecht saß und sah, daß Cam schlief.

Nun aber, flüsterte sie und ging zu seinem Bett hinüber, müsse auch James schlafen; denn er sehe doch, sagte sie, der Wildschweinkopf sei ja noch da; sie hätten ihn nicht angerührt; er habe seinen Willen bekommen; da sei er, ganz wie vorher. Er vergewisserte sich, daß der Kopf noch unter dem Schal war. Aber er wollte noch etwas anderes wissen: Würden sie morgen zum Leuchtturm fahren?

Nein, sagte sie, morgen nicht; aber bald, versprach sie ihm; sobald das Wetter schön sei. Er war sehr brav. Er legte sich hin. Sie deckte ihn zu. Aber vergessen würde er es nie, dachte sie und war ärgerlich auf Charles Tansley, auf ihren Mann, auf sich selbst: denn sie hatte ihm Hoffnungen gemacht. Sie tastete nach ihrem Schal, aber ihr fiel ein, daß sie ihn ja um den Wildschweinkopf gewickelt hatte; dann stand sie auf, ließ das Fenster noch einen oder zwei Zoll herunter, lauschte auf den Wind, nahm einen Atemzug von der ganz und gar gleichmütigen Nachtkühle, sagte Mildred leise gute Nacht, ging zur Tür, ließ die Klinke ganz langsam ins Schloß schnappen und war draußen.

Hoffentlich wirft Charles Tansley oben nicht seine Bücher zu Boden, dachte sie und hielt ihn nach wie vor für eine rechte Plage. Denn keins von den Kindern hatte einen festen Schlaf; sie waren leicht erregbar, und seit er das mit dem Leuchtturm gesagt hatte, traute sie ihm auch durchaus zu, daß er, ungeschickt wie er war, einen Bücherstapel mit dem Ellbogen vom Tisch stoßen würde, gerade wenn sie am Einschlafen waren. Denn wahrscheinlich war er nach oben gegangen, um zu arbeiten. Doch er sah so betrübt aus; andererseits würde sie sich erleichtert fühlen, wenn er abreiste; ich will aber dafür sorgen, daß er morgen besser behandelt wird; ihrem Mann gegenüber benahm er sich bewundernswert; seine Manieren allerdings sollten besser sein; aber sein Lachen gefiel ihr – unter solchen Gedanken stieg sie hinab und bemerkte, daß sie nun durch das Fenster im Treppenhaus auch den Mond sehen konnte – den gelben Herbstmond; sie wandte sich um, und nun sahen die anderen sie, wie sie über ihnen auf der Treppe stand.

»Das ist meine Mutter«, dachte Prue. Ja, Minta sollte sie ansehen, Paul Rayley sollte sie ansehen. Das ist das einzig Wahre, dachte sie, als gäbe es auf der ganzen Welt nur einen einzigen solchen Menschen: ihre Mutter. Eben noch, vor einem Augenblick, als sie mit den anderen sprach, war sie ganz erwachsen gewesen; nun aber wurde sie wieder ein Kind, und was sie getrieben hatten, war Spiel, und sie fragte sich, ob ihre Mutter das Spiel gutheißen oder es verwerfen würde? Welch eine Gelegenheit, dachte sie, für Minta und Paul und Lily, sie zu sehen, und sie empfand, welch ungeheures Glück es für sie war, daß sie sie hatte, und nie wollte sie groß werden und das Elternhaus verlassen; dann sagte sie wie ein Kind: »Wir dachten daran, zum Strand hinunterzugehen und den Wellen zuzusehen.«

Sogleich, ohne irgendwelchen Anlaß, verwandelte sich Mrs. Ramsay in ein zwanzigjähriges Mädchen voll Fröhlichkeit. Ausgelassenheit überkam sie. Natürlich müßten sie gehen, rief sie lachend, natürlich müßten sie gehen. Rasch lief sie die letzten drei, vier Stufen hinab, wandte sich vom einen zum andern, lachte, zog den Umhang enger um Minta und sagte, sie würde so gern mitkommen, und ob sie auch nicht so spät zurückkehrten und ob einer von ihnen eine Uhr hätte.

»Ja, Paul hat eine«, sagte Minta. Paul zog eine schöne goldene Uhr aus einer kleinen waschledernen Hülle hervor und zeigte sie ihr. Und während er ihr die Uhr auf der Handfläche hinhielt, dachte er: ›Sie weiß alles. Ich brauche kein Wort zu sagen.‹ Als er ihr die Uhr zeigte, hieß das eigentlich: Ich hab's geschafft, Mrs. Ramsay. Alles verdanke ich Ihnen.

Mrs. Ramsay aber, als sie die goldene Uhr in seiner Hand sah, dachte: Was für ein Glück Minta doch hat! Sie bekommt einen Mann, der eine goldene Uhr in einer Waschlederhülle besitzt!

»Ach, ich wünschte, ich könnte mitkommen!« rief sie. Aber sie wurde von etwas so Gewichtigem zurückgehalten, daß sie nicht einmal auf den Gedanken kam, sich zu fragen, was es war. Natürlich war es ausgeschlossen, daß sie mitging. Aber sie hätte es gern getan, wäre nicht das andere gewesen, und sie ging, belustigt von dem lächerlichen Einfall (welch ein Glück, einen Mann zu heiraten, der eine Waschlederhülle für seine Uhr besitzt), mit einem Lächeln auf den Lippen in das andere Zimmer, wo ihr Mann saß und las.


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