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9

Ja, sagte Mr. Bankes und sah ihm hinterdrein. Es sei jammerschade. (Lily hatte etwas davon gesagt, daß er ihr Angst mache – er verfalle so plötzlich aus einer Stimmung in die andere.) Ja, sagte Mr. Bankes, es sei jammerschade, daß Ramsay sich nicht ein bißchen mehr so benehmen könne wie andere Leute. (Denn er mochte Lily Briscoe gern; er konnte mit ihr ganz offen über Ramsay sprechen.) Das sei ja der Grund, sagte er, weshalb die jungen Leute Carlyle nicht läsen. Ein mürrischer alter Brummbär, der aus dem Häuschen geriet, wenn die Hafergrütze kalt war – was kann uns der schon zu predigen haben? sagten die jungen Leute heutzutage, meinte Mr. Bankes. Und das sei jammerschade, wenn man, wie er, Carlyle für einen der großen Menschheitslehrer halte. Lily schämte sich, zu gestehen, daß sie Carlyle seit ihrer Schulzeit nicht mehr gelesen hatte. Gewiß, Mr. Ramsay war der Meinung, wenn ihm der kleine Finger weh tat, müßte gleich die ganze Welt untergehen; aber dadurch war er einem nur um so lieber, fand sie. Das war es nicht, was ihr mißfiel. Denn wen konnte er damit täuschen? Er forderte einen ganz offenkundig dazu auf, ihm zu schmeicheln, ihn zu bewundern; seine kleinen Kniffe täuschten niemanden. Was ihr nicht gefalle, sei seine Engherzigkeit, seine Blindheit, sagte sie und sah ihm nach.

»Ein bißchen Heuchelei?« meinte Mr. Bankes und blickte ebenfalls hinter Mr. Ramsay drein; denn dachte er nicht an seine Freundschaft und an Cams Weigerung, ihm eine Blume zu geben, und an all die Jungen und Mädchen hier und an sein eigenes Haus, das so bequem und behaglich war, aber seit dem Tode seiner Frau ein bißchen allzu ruhig? Ja, gewiß, er hatte seine Arbeit … Trotzdem wäre es ihm nicht unlieb gewesen, wenn Lily ihm bestätigt hätte, daß bei Ramsay ›ein bißchen Heuchelei‹ im Spiel war.

Lily Briscoe war immer noch mit dem Wegpacken ihrer Pinsel beschäftigt; sie sah auf, sie sah zu Boden. Wenn sie aufsah, so sah sie ihn – Mr. Ramsay: er kam auf sie zu, mit schwingenden Schritten, achtlos, alles um sich her vergessend, sehr fern. Ein bißchen Heuchelei? wiederholte sie. O nein – der aufrichtigste aller Menschen war er, der ehrlichste (da war er nun), der beste; aber wenn sie zu Boden sah, dachte sie: er beschäftigt sich nur mit sich, er ist tyrannisch, er ist ungerecht; und nun hielt sie absichtlich den Blick gesenkt, denn nur so konnte sie, wenn sie bei den Ramsays war, gelassen bleiben. Sobald sie aufblickte und die Ramsays sah, mußte sie sie mit der Welle ihrer ›Verliebtheit‹, wie sie es nannte, überfluten. Dann wurden sie ein Teil jenes unwirklichen, aber alles erfassenden und tief erregenden Alls, zu dem die Welt wird, wenn man sie mit den Augen der Liebe betrachtet. Der Himmel war unlöslich mit ihnen verbunden; die Vögel sangen, weil sie da waren. Aber es gab ein Gefühl, das noch stärker erregte: Als sie sah, wie Mr. Ramsay auf sie lossegelte und wieder kehrtmachte, wie Mrs. Ramsay mit James am Fenster saß, wie die Wolke zog und der Baum sich beugte, da war das Leben plötzlich nicht mehr eine Kette kleiner Begebenheiten, die man der Reihe nach erlebte, jede für sich; es hob sich und fügte sich zur Welle, die einen mit sich emporhob und mit sich niederwarf, unverhofft, auf den Strand.

Mr. Bankes erwartete eine Antwort von ihr. Und sie wollte gerade etwas Kritisches über Mrs. Ramsay sagen, daß auch sie auf ihre Art beunruhigend wäre, durch ihre willkürliche Art oder etwas dergleichen; aber Mr. Bankes machte die Antwort ganz überflüssig, und zwar durch seine Verzückung. Denn anders konnte man es wohl nicht nennen bei einem Manne seines Alters, über die Sechzig hinaus, seiner Makellosigkeit und seiner Unaufdringlichkeit, den man in Gedanken immer in den weißen Gelehrtenmantel gehüllt sah. Wenn er jemanden so ansah, wie er in diesem Augenblick Mrs. Ramsay ansah, so war das, dachte Lily, eine Verzückung, welche die Liebe von Dutzenden junger Männer aufwog (und vielleicht hatte Mrs. Ramsay niemals die Liebe von Dutzenden junger Männer ihr eigen genannt). Es war Liebe, dachte sie, indessen sie so tat, als wäre sie mit ihrer Leinwand beschäftigt, eine geklärte und geläuterte Liebe; eine Liebe, die niemals nach Eroberung und Besitz trachtete; die vielmehr von der Art war, wie Mathematiker sie für ihre Sinnbilder und Dichter für ihre Wendungen hegen, und gleich diesen dazu bestimmt, sich über die Welt auszubreiten und ein Teil menschlichen Besitzes zu werden. Ja, so war es. Die Welt hätte ganz gewiß zu ihrem Vorteil daran teilgenommen, wenn Mr. Bankes mit Worten hätte ausdrücken können, weshalb diese Frau solches Wohlgefallen in ihm weckte; weshalb ihr Anblick, wie sie ihrem Jungen ein Märchen vorlas, genau die gleiche Wirkung auf ihn hatte wie die Lösung einer wissenschaftlichen Frage; so daß er in Betrachtung davor verweilte und dasselbe empfand, wie wenn er eine Entdeckung über das Verdauungssystem der Pflanzen unanfechtbar bewiesen hatte: nämlich daß die Barbarei unters Joch gezwungen und die Herrschaft des Chaos niedergerungen war.

Angesichts solcher Verzückung – denn wie sonst hätte man es nennen sollen? – vergaß Lily Briscoe gänzlich, was sie eben hatte sagen wollen. Es war nichts von Belang; irgend etwas über Mrs. Ramsay. Es verblaßte neben dieser ›Verzückung‹, diesem stummen, unverwandten Blick, für den sie ihm unendlich dankbar war; denn nichts war für sie so tröstlich, machte ihr die Wirrnis des Lebens so licht und seine Lasten so leicht wie diese erhabene Kraft, diese himmlische Gabe, die man, solange sie wirkte, nicht stören mochte, ebensowenig wie man den Sonnenstrahl zertreten mochte, der quer auf dem Boden lag.

Der Gedanke, daß Menschen so lieben konnten, daß Mr. Bankes so für Mrs. Ramsay empfand (sie betrachtete ihn sinnend), war Stärkung und Aufrichtung. Sie wischte ihre Pinsel an einem Zeugfetzen ab, einen nach dem andern, sorgsam, bedächtig. Auch sie barg sich unter dem Schutz dieser Verehrung, der alle Frauen umfaßte; auch sie fühlte sich erhoben. Mochte er schauen; sie wollte inzwischen einen verstohlenen Blick auf ihr Bild werfen.

Am liebsten hätte sie geweint. Es war schlecht, es war schlecht, es war namenlos schlecht! Natürlich hätte sie es anders malen können; die Farben hätten dünner und blasser sein können, die Formen mehr verschwimmend; das war die Art, wie Paunceforte es gesehen hätte. Aber sie sah es nun einmal nicht so. Sie sah die Farben auf einem stählernen Baugerüst brennen; sie sah den Glanz eines Schmetterlingsflügels auf den Bögen einer Kathedrale leuchten. Aber von all dem blieben nur ein paar wirr auf die Leinwand gekleckste Spuren übrig. Nie würde ein Mensch das Bild sehen; nie würde es auch nur aufgehängt werden; und da war es auch schon, als flüsterte Mr. Tansley ihr ins Ohr: ›Frauen können nicht malen, Frauen können nicht schreiben …‹

Jetzt fiel ihr auch wieder ein, was sie über Mrs. Ramsay hatte sagen wollen. Sie wußte nicht, wie sie es ausgedrückt haben würde; aber es wäre eine kritische Bemerkung gewesen. Sie hatte sich kürzlich, abends war es gewesen, über eine hochfahrende Behandlung geärgert. Während ihre Augen Mr. Bankes' Blick folgten, dachte sie: Keine Frau kann solche Verehrung für eine andere Frau empfinden, wie er sie empfindet; sie können nur Geborgenheit in dem Schatten suchen, den er über beide breitet. Indem sie zu seinem Blick ihren so ganz anderen gesellte, dachte sie, daß Mrs. Ramsay (über ihr Buch gebeugt) fraglos der schönste Mensch war; vielleicht auch der beste Mensch; und doch auch wiederum anders als die vollendet schöne Hülle, die man dort erblickte. Aber warum anders und inwiefern anders? fragte sie sich, indessen sie von ihrer Palette all die Häufchen von Blau und Grün kratzte, die ihr jetzt wie tote Klumpen vorkamen; morgen aber, das gelobte sie sich, wollte sie ihnen Leben einhauchen, wollte sie sie zwingen, ihrem Willen zu gehorchen, lebendig zu werden, zu blühen. Inwiefern war sie anders? Was war ihr eigentliches Wesen, das Besondere, das sich allem aufprägte, so daß man ihren Handschuh, den man in der Sofaecke fand, am verdrehten Finger unzweifelhaft als ihr gehörig erkannte? Sie war schnell wie ein Vogel; sie traf ohne Umweg wie ein Pfeil. Sie war eigenwillig; sie war herrisch (aber da denke ich natürlich, hielt Lily sich entgegen, an ihr Verhältnis zu Frauen, und ich bin viel jünger, ein belangloses Geschöpf, ich hause in einer Seitenstraße der Brompton Road). Sie riß in den Schlafzimmern die Fenster auf. Sie machte die Türen zu. (So versuchte sie Mrs. Ramsays Wesen auf eine Melodie zu bringen.) Sie kam spät abends zu einem ins Schlafzimmer, nach flüchtigem Anklopfen, in einen alten Pelzmantel gehüllt (denn das war immer der Rahmen für ihre Schönheit: eilig, aber angemessen), um vorzumachen, was ihr gerade in den Sinn kam: Charles Tansley, wie er seinen Regenschirm verloren hatte; Mr. Carmichael, wie er schnaufte und schnüffelte; Mr. Bankes, wie er sagte: ›Die pflanzlichen Salze gehen verlorene.‹ All das ahmte sie geschickt nach; karikierte es wohl auch boshaft; trat dann ans Fenster, mit der Bemerkung, sie müßte nun gehen (es dämmerte, und sie sah schon das erste Rot am Himmel); wandte sich halb zur Seite und sagte, immer noch lachend, aber in vertrauterem Ton: Lily müßte heiraten, Minta auch, sie müßten überhaupt alle heiraten; denn was für Lorbeeren ihr vielleicht auch zuteil würden (Mrs. Ramsay hielt nichts von ihrer Malerei), was für Siege ihr auch beschieden sein würden (Mrs. Ramsay hatte wahrscheinlich genug davon erfochten), und hier wurde sie traurig, verdunkelte sich gleichsam, kehrte zu ihrem Stuhl zurück, eines könne niemand leugnen: eine Frau, die nicht heirate (hier nahm sie flüchtig Lilys Hand), eine Frau, die nicht heirate, habe das Beste im Leben versäumt. Das Haus schien ganz erfüllt vom Schlaf der Kinder und von Mrs. Ramsays Lauschen; von abgeblendetem Licht und regelmäßigen Atemzügen.

Oh, sagte Lily dann wohl, aber da sei doch ihr Vater; ihr Heim; wenn sie es gewagt hätte, würde sie hinzugefügt haben: auch meine Malerei. Aber all das schien so klein, so kleinmädchenhaft, wenn man es an Mrs. Ramsay maß. Und doch, wenn die Nacht vorschritt und weißer Glanz die Vorhänge teilte, ja sogar dann und wann im Garten schon ein Vogel zirpte, raffte sie verzweifelt ihren Mut zusammen und verlangte, vom allgemeinen Gesetz ausgenommen zu werden; sie fand Gründe dafür; sie wolle lieber allein sein; sie liebe ihre Selbständigkeit; sie sei nicht für die Ehe geschaffen; worauf sie einem ernsten, unverwandten Blick aus Augen von unvergleichbarer Tiefe standzuhalten und sich mit Mrs. Ramsays schlichter Gewißheit abzufinden hatte, daß ihre liebe Lily (und nun kam sie sich ganz kinderklein vor), daß ihr ›Brisklein‹ ein Närrchen sei. Sie hatte dann, erinnerte sie sich, den Kopf auf Mrs. Ramsays Schoß gelegt und gelacht, gelacht, gelacht, beinahe krampfig gelacht bei dem Gedanken, wie Mrs. Ramsay mit unerschütterlicher Ruhe den Vorsitz über Schicksale führte, die sie ganz und gar mißverstand. Da saß sie, einfach, ernsthaft. Lily vermochte nun wieder klar zu denken – das war wohl der verdrehte Handschuhfinger? Aber in welches Heiligtum war sie da eingedrungen? Schließlich hatte sie aufgeblickt, und da saß Mrs. Ramsay, sie hatte keine Ahnung von den Ursachen des Gelächters; sie war noch immer die Lenkerin der Schicksale, aber von herrischer Härte war nichts mehr zu spüren; statt dessen war eine Klarheit um sie, wie der Raum, den die Wolken endlich enthüllen – das kleine Stück Himmelsraum, das neben dem Mond schlummert.

War es Weisheit? War es Erkenntnis? War es, wieder einmal, die Tragkraft der Schönheit, der wir es verdanken, daß all unsere Beobachtungen auf halbem Wege zur Wahrheit sich in ein goldenes Netz verstricken? Oder verschloß sie in ihrer Brust ein Geheimnis, wie es, so glaubte Lily fest, die Menschen haben müssen, damit die Welt überhaupt weitergehen kann? Es können doch, dachte sie, nicht alle so wirrköpfig und geistig armselig sein wie ich. Wer aber ein Wissen besitzt, kann er anderen sagen, was er weiß? Während sie am Boden saß, die Arme um Mrs. Ramsays Knie geschlungen, angeschmiegt, so nahe sie nur konnte, lächelnd bei dem Gedanken, daß Mrs. Ramsay nie die Ursache dieser Umarmung erfahren würde, stellte sie sich vor, wie in den Hirn- und Herzkammern der Frau, die sie hier körperlich berührte, gleich Weihgaben in Königsgräbern, Tafeln mit heiligen Inschriften aufgestellt waren, die, wüßte man sie zu entziffern, einen alles lehren könnten, aber sie würden nie offen dargeboten, nie allen kundgetan werden. Welche List konnte Liebe oder Klugheit ersinnen, um den Zugang in diese geheimen Kammern zu erzwingen? Durch welches Zauberwort könnte man, wie Wasser, das in einen Krug gefüllt wird, ganz und untrennbar eins werden mit dem Gegenstand seiner Anbetung? War es dem Körper möglich oder dem Verstand, der klug in die verwickelten Gänge des Gehirns eindringt? oder dem Herzen? Konnte Liebe, was die Menschen so nannten, sie und Mrs. Ramsay in eins verschmelzen? – denn nicht Wissen, sondern Einung war es, was sie ersehnte, nicht Inschriften auf Tafeln, überhaupt nichts, was in irgendeiner menschlichen Sprache niedergeschrieben werden konnte, sondern jenes enge Verbundensein, das zugleich Wissen ist. So hatte sie gedacht, als sie den Kopf an Mrs. Ramsays Knie lehnte.

Nichts geschah. Nichts! Nichts, als sie den Kopf an Mrs. Ramsays Knie lehnte. Und doch wußte sie, daß Weisheit und Erkenntnis im Herzen Mrs. Ramsays gesammelt waren. Wie aber, so fragte sie sich, konnte man irgend etwas über andere wissen, wenn sie so versiegelt waren? Nur wie eine Biene, angezogen von einem süßen oder strengen Hauch, den man weder fühlen noch fassen konnte, war man zu Gast in dem kuppelförmigen Bienenstock, durchstreifte allein die leere, luftige Weite über den Ländern der Welt und kehrte dann ein bei den Bienenstöcken, wo es summte und wimmelte, bei den Bienenstöcken, die die Menschen waren. Mrs. Ramsay stand auf. Lily stand auf. Mrs. Ramsay ging hinaus. Noch tagelang aber empfand Lily an ihr jene zarte Verwandlung, die wir an einem Menschen wahrnehmen, von dem wir geträumt haben; deutlicher als alles, was sie sagte, war ein Summen um sie her, und als sie nun in dem Korblehnstuhl am Fenster saß, trug sie für Lilys Augen eine erhabene Gestalt: die Gestalt einer Kuppel.

Lilys Blick traf gleichzeitig mit Mr. Bankes' Blick auf Mrs. Ramsay, wie sie am Fenster saß, James auf dem Schoß. Während aber Lily noch hinsah, hatte Mr. Bankes seine Betrachtung beendet. Er hatte die Brille aufgesetzt. Er war zurückgetreten. Er hatte die Hand gehoben. Er hatte seine klaren blauen Augen ein wenig zusammengekniffen, und als Lily, sich zusammenraffend, das Ziel seines Blickes erkannte, zuckte sie zusammen wie ein Hund, der eine zum Schlag erhobene Hand sieht. Am liebsten hätte sie ihr Bild von der Staffelei gerissen, aber sie sagte sich: du mußt. Sie riß sich zusammen, um die furchtbare Prüfung zu bestehen, die es für sie bedeutete, wenn jemand ihr Bild betrachtete. Du mußt, sagte sie sich, du mußt. Und wenn es schon einmal sein mußte, dann war Mr. Bankes weniger bedrohlich als ein anderer. Aber es war eine Marter, daß überhaupt fremde Augen sehen sollten, was am Boden ihrer dreiunddreißig Jahre lag, den Niederschlag ihres täglichen Erlebens, dazu jenes andere, Geheimere, von dem sie in all diesen Tagen nichts hatte verlauten noch spüren lassen. Zugleich war es unsagbar erregend.

Übrigens konnte nichts kühler und ruhiger vor sich gehen. Mr. Bankes holte ein Taschenmesser hervor und tippte mit dem beinernen Griff auf die Leinwand. Was sie mit dem dreieckigen purpurnen Schatten ausdrücken wollte – »gerade an der Stelle«? fragte er.

Das sei Mrs. Ramsay, wie sie James vorlese, sagte sie. Sein Einwand überrasche sie nicht – daß niemand das für eine menschliche Gestalt halten könne. Aber sie habe sich auch gar nicht um Ähnlichkeit bemüht. Weshalb sie die beiden dann überhaupt aufs Bild gebracht habe? wollte er wissen. Ja, warum eigentlich? – vielleicht deswegen, weil es in der einen Ecke hell sei und sie deshalb das Empfinden habe, es müsse in der anderen dunkel sein. Das klang simpel, einleuchtend, platt, trotzdem war Mr. Bankes betroffen. Es sei also denkbar, daß Mutter und Kind – Sinnbilder, die man überall verehre, wobei obendrein in diesem Falle die Mutter eine berühmte Schönheit sei – zur Rolle eines purpurnen Schattens herabgedrückt würden, ohne daß es eine Herabwürdigung bedeute?

Aber die beiden seien nicht Gegenstand des Bildes, sagte sie. Wenigstens nicht in seinem Sinne. Auch gebe es andere Arten, ihnen den schuldigen Tribut zu zollen. Zum Beispiel indem man hier einen Schatten und dort ein Licht aufsetze. Dies sei ihre Art, Achtungstribut zu zollen – sofern dies, wie ihr eine unbestimmte Vermutung sage, der Sinn eines Bildes sei. Mutter und Kind konnten also zur Rolle eines Schattens herabgedrückt werden, ohne daß es eine Herabwürdigung bedeutete. Ein Licht hier erforderte einen Schatten dort. Er sann der Sache nach. Er war nachdenklich. Er nahm die Frage, in allerbestem Glauben, wissenschaftlich. Die Sache sei nämlich die, daß er durch alle seine Vorurteile zu einer entgegengesetzten Meinung geführt werde, setzte er auseinander. Das größte Bild in seinem Empfangszimmer, das von Malern sehr gelobt und für teurer gehalten werde, als es gewesen sei, stelle die Kirschblüte an den Ufern des Kennet dar. Er habe seine Flitterwochen an den Ufern des Kennet verbracht, sagte er. Lily müsse einmal kommen und es sich ansehen, sagte er. Ja, aber – und hier wandte er sich wieder und hob die Augengläser zur wissenschaftlichen Betrachtung der Leinwand. Er müsse ehrlich sagen, es sei ihm nie zuvor in den Sinn gekommen, daß es bei der Komposition eines Bildes auf die Raumverteilung und das Verhältnis zwischen Licht und Schatten ankomme, aber er lasse es sich gern einmal näher erklären. Was sie nun also damit zeigen wolle? Und er wies auf die Szene vor ihnen. Sie sah hin. Aber sie konnte ihm nicht klarmachen, was sie damit zeigen wollte, konnte es nicht einmal sich selbst klarmachen, ohne einen Pinsel in der Hand. Sie verfiel wieder einmal in ihre Malerhaltung, mit verdunkelten Augen und geistesabwesendem Ausdruck, ordnete als Frau all ihre Eindrücke einem zusammenfassenden Gesichtspunkt unter, geriet wieder einmal in den Bann jener Vision, die sie einmal ganz klar vor sich gesehen hatte und nach der sie nun zwischen Hecken und Häusern und Müttern und Kindern suchen mußte: in den Bann ihres Bildes. Es sei darum gegangen, fiel ihr ein, wie sie die Massen auf der rechten Seite mit denen auf der linken verbinden solle. Das lasse sich machen, indem sie die Linie eines Zweiges quer hinüberziehe – so; oder indem sie die Leere im Vordergrund durch einen Gegenstand aufhebe (durch James etwa) – so. Aber es bestehe die Gefahr, dadurch die Einheit des Ganzen zu zerstören. Sie hielt inne; sie wollte ihn nicht langweilen; sie nahm mit einer beiläufigen Bewegung die Leinwand von der Staffelei.

Aber das Bild war betrachtet worden; es war ihr genommen worden. Der Mann da hatte mit ihr etwas geteilt, das zutiefst ihr Eigentum war. Sie wußte Mr. Ramsay Dank dafür, sie dankte Mrs. Ramsay und der Stunde und der Stätte, sie räumte ein, daß die Welt eine Macht besaß, von der sie bisher nichts gewußt hatte: man brauchte den langen Weg nicht allein zu wandern, sondern konnte ihn Arm in Arm mit einem anderen Menschen gehen – das war das wunderlichste Gefühl der Welt und machte unsagbar fröhlich. Sie knipste ihren Malkasten zu, nachdrücklicher als nötig, und es war ihr, als schlösse dieses Zuklappen alle diese Dinge für immer in einen Kreis: den Malkasten, den Rasenplatz, Mr. Bankes – und Cam, die wilde Range, die vorbeiraste.


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