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8

Er antwortete nicht. Er nahm Opium. Die Kinder sagten, damit habe er auch die gelben Flecke in den Bart gemacht. Möglich. Klar war ihr jedenfalls, daß der arme Mann unglücklich war, daß es ein Entrinnen für ihn bedeutete, wenn er alljährlich zu ihnen kam; und doch hatte sie Jahr für Jahr das gleiche Empfinden: er traute ihr nicht. Sie sagte: »Ich gehe zur Stadt. Soll ich Ihnen Briefmarken, Papier, Tabak besorgen?« – und fühlte, wie er zurückzuckte. Er traute ihr nicht. Daran war seine Frau schuld. Mrs. Ramsay entsann sich, wie sie sich in dem widerwärtigen kleinen Zimmer in St. John's Wood zu Stahl und Diamant verhärtet hatte, als sie die Gehässigkeit mitansehen mußte, mit der das abscheuliche Weib ihn aus dem Hause trieb. Er war ungekämmt; er beschmierte sich den Rock mit allem möglichen; er war so lästig, wie es nur ein alter Mann sein kann, für den es auf der Welt nichts mehr zu tun gibt; und sie setzte ihn vor die Tür. Sie sagte in ihrer abscheulichen Art: »So, und jetzt wollen Mrs. Ramsay und ich uns ein Weilchen unterhalten«, und Mrs. Ramsay sah so deutlich, als stünden sie vor ihr, die zahllosen Nöte seines Lebens vor sich. Hatte er wohl Geld genug, Tabak zu kaufen? Oder mußte er seine Frau darum bitten? um eine halbe Krone? um achtzehn Pence? Oh, es war unerträglich, über die kleinen Kränkungen nachzudenken, mit denen sie ihn quälte. Und nun stand es so, daß er sich immer (sie konnte sich nicht denken, warum, wenn eben nicht dieses Weib daran schuld war) vor ihr zurückzog. Er sprach nie ein offenes Wort zu ihr. Konnte sie aber mehr tun, als sie tat? Er bekam ein sonniges Zimmer. Die Kinder waren freundlich gegen ihn. Nie ließ sie ihn fühlen, daß er unerwünscht war. Sie war ganz besonders freundlich zu ihm. Brauchen Sie Briefmarken, brauchen Sie Tabak? Hier ist ein Buch, das Ihnen vielleicht gefällt, und so weiter. Und schließlich – schließlich (hier sammelte sie sich unmerklich physisch, als sie sich, wie es selten geschah, der eigenen Schönheit bewußt wurde) – schließlich fiel es ihr doch sonst nicht schwer, sich die Zuneigung der andern zu erwerben; George Manning zum Beispiel und Mr. Wallace; die kamen zuweilen, berühmt wie sie waren, abends zu ihr, um ruhig mit ihr am Kamin zu plaudern. Sie trug nun einmal die Fackel ihrer Schönheit, und es war nicht ihre Schuld, daß sie es wußte; sie trug sie hocherhoben in jeden Raum, den sie betrat; mochte sie Schleier darüber breiten, mochte es ihr grauen vor der Eintönigkeit der Haltung, die sie ihr aufzwang – ihre Schönheit blieb offenbar. Man hatte sie bewundert. Man hatte sie geliebt. Sie hatte Zimmer betreten, in denen Trauernde saßen. Tränen waren in ihrer Gegenwart geflossen. Männer, auch Frauen, waren zu ihr gekommen, um der Vielfalt der Dinge zu entrinnen und sich die Entspannung zu gönnen, die ihnen die Einfachheit schenkte. Es kränkte sie, daß Mr. Carmichael vor ihr zurückwich. Es schmerzte sie. Doch es war kein klarer reiner Schmerz. Daß er ihr nicht traute; daß all ihr Verlangen, zu geben, zu helfen, Eitelkeit war, das bekümmerte sie, gerade jetzt, als es ihr ihres Mannes wegen so unbehaglich zumute war: in diesem Augenblick mußte Mr. Carmichael vorbeischlurfen, in seinen gelben Pantoffeln, ein Buch unterm Arm, und ihre Frage nur mit einem Nicken beantworten. Geschah es nur zu ihrer eigenen Befriedigung, daß sie den triebhaften Wunsch spürte, zu helfen und zu geben, damit die Leute von ihr sagen sollten: ›O Mrs. Ramsay! liebe Mrs. Ramsay … ja, natürlich, Mrs. Ramsay!‹, sie brauchten und holen ließen und bewunderten? War es nicht insgeheim das, wonach es sie verlangte, und fühlte sie sich deshalb in diesem Augenblick, als Mr. Carmichael ihr auswich und sich in eine Ecke zurückzog, wo er endlose Stunden über Akrostichen saß, nicht nur in ihrem angeborenen Trieb schmerzlich verletzt, sondern auch auf einen kleinlichen Zug in ihrem Wesen, in allen menschlichen Beziehungen hingewiesen, wie brüchig, wie jämmerlich, wie eigennützig sie im Grunde genommen sind? Armselig und erschöpft und wohl keine Augenweide mehr (ihre Wangen waren hohl, ihr Haar war weiß), tat sie besser daran, ihre Gedanken auf die Geschichte vom Fischer un syner Fru zu richten und so das Nervenbündel, ihren Sohn James, zu beruhigen (kein anderes ihrer Kinder war so reizbar wie er).

»Dem Mann wöör syn Hart so swoor«, las sie laut, »un wull nich; he säd by sik sülwen: ›Dat is nich recht‹, he güng awerst doch hen. As he an de See köhm, wöör dat Water ganß vigelett un dunkelblau un grau un dick un goor nich meer so gröön un geel, doch wöört noch still. Do güng he staan un säd …«

Es wäre Mrs. Ramsay lieber gewesen, wenn ihr Mann sich nicht gerade diesen Augenblick ausgesucht hätte, um bei ihnen stehenzubleiben.

Warum war er nicht, wie angekündigt, gegangen, um den Kindern beim Kricketspiel zuzusehen? Aber er sagte nichts; er sah sie nur an; er nickte; er war einverstanden; er ging weiter. Als er wieder die Hecke vor sich sah, die so oft schon ein wägendes Innehalten zum Erfolg gerundet, einen Schluß mit Sinn erfüllt hatte, als er seine Frau und sein Kind sah, als er die Steinvasen mit den hängenden roten Geranien erblickte, die sich so oft schmückend um Gedankengänge gerankt hatten und sie nun inmitten ihrer Blätter aufgezeichnet trugen, als wären es Papierschnitzel, auf die man in der Hast des Lesens Notizen kritzelt – als er all dies vor sich sah, glitt er sacht in eine Betrachtung hinüber, zu der ihn ein Aufsatz in der ›Times‹ über die Zahl der Amerikaner, die alljährlich Shakespeares Haus besuchen, angeregt hatte. Wenn, so fragte er sich, Shakespeare niemals gelebt hätte, würde die Welt dann heute viel anders aussehen? Hängt der Fortschritt der Zivilisation von den großen Männern ab? Ist das Los des Menschen, allgemein gesehen, heutzutage besser als zur Zeit der Pharaonen? Und übrigens: Ist das Los des Durchschnittsmenschen, so fragte er sich, überhaupt der Maßstab, an dem wir den Stand der Zivilisation messen? Möglicherweise nein. Möglicherweise fordert die höchste Entwicklung das Vorhandensein einer Sklavenklasse. Der Fahrstuhlführer in der Untergrundbahn ist eine ewige Notwendigkeit. Der Gedanke war ihm widerwärtig. Er warf den Kopf zurück. Um ihm zu entrinnen, wollte er einen Weg finden, das Übergewicht der Künste zu mindern. Er wollte beweisen, daß die Welt für den Durchschnittsmenschen da ist; daß die Künste nur ein äußerer Zierat des menschlichen Lebens sind; daß sie aber kein Ausdruck dieses Lebens sind. Und daß Shakespeare nicht notwendig ist. Weshalb er eigentlich darauf aus war, Shakespeare herabzusetzen und sich auf den Helfer des Mannes hinauszuspielen, der ewig in der Tür des Fahrstuhls steht, wußte er selbst nicht genau, und er riß mit scharfem Ruck ein Blatt von der Hecke. All dies würde er im nächsten Monat den jungen Herren in Cardiff auftischen müssen, dachte er; hier, auf seiner Terrasse, unternahm er nur Streifzüge und verlustierte sich (er warf das Blatt weg, das er so verdrießlich abgerissen hatte) wie einer, der beim Reiten vom Gaul herunter nach einem Rosenbusch langt oder sich die Taschen mit Nüssen vollstopft, indessen er nach Herzenslust durch die Heckenwege und über die Felder einer Gegend streift, die ihm seit der Knabenzeit vertraut ist. Alles war ihm vertraut; hier die Wendung der Straße, da der Zauntritt, dort der Richtweg quer über die Felder. Stunden konnte er an manchen Spätnachmittagen damit verbringen, daß er, seine Pfeife rauchend, hin und her und ein und aus in den alten Heckenwegen und auf den Gemeindewiesen schweifte, die hier mit der Geschichte dieser Schlacht, dort mit dem Leben jenes Staatsmannes behaftet waren, mit Gedichten und Anekdoten und Gestalten: hier ein Denker, dort ein Kriegsmann; all das sehr lebendig und klar; schließlich aber führte ihn der Weg durch Heckenwege, über Felder und Gemeindewiesen, vorüber am früchteschweren Nußbaum und der blühenden Hecke zu jener ferneren Wendung der Straße, wo er jedesmal abstieg, sein Pferd an einen Baum band und zu Fuß weiterging, allein. Er kam zum Rand des Rasens und blickte auf die Bucht hinab.

Es war nun einmal, er mochte wollen oder nicht, sein Schicksal, seine Besonderheit, immer wieder auf ein solches Stückchen Land zu gelangen, das die See langsam wegfrißt, und dazustehen wie ein einsamer Meervogel, ganz verlassen. Er besaß die Kraft, die Gabe, plötzlich alles Überflüssige von sich abzutun, gleichsam zu schrumpfen und sich zu mindern, so daß er kahler aussah und sich magerer vorkam, sogar körperlich, dabei aber nichts von der Spannkraft seines Geistes verlor und nun so auf seinem Streifchen Landes stand, vor sich die Finsternis menschlicher Unwissenheit, denn wir wissen nichts, und das Meer frißt den Grund weg, auf dem wir stehen, das war sein Schicksal und seine Gabe. Da er aber, wenn er so vom Pferd stieg, alle eitlen Gebärden und alle Nichtigkeiten von sich getan, die ganze Beute an Rosen und Nüssen fortgeworfen hatte, da er eingeschrumpft war, so daß er nicht nur allen Ruhm, sondern sogar seinen eigenen Namen vergaß, so bewahrte er sich selbst in dieser Verlassenheit eine wache Schärfe, die kein Trugbild schonte und in keinem Traum schwelgte; und mit dieser Verwandlung flößte er William Bankes (nicht immer) und Charles Tansley (der ihm blindlings ergeben war) und seiner Frau in diesem Augenblick, als sie ihn am Rande des Rasenplatzes stehen sah, tiefe Verehrung und Mitleid ein, auch Dankbarkeit, wie ein ins Kanalbett gerammter Pfahl, auf dem die Möwen rasten und gegen den die Wellen schlagen, in den fröhlichen Fahrgästen der Schiffe ein Gefühl der Dankbarkeit erweckt, weil er, einsam in den Fluten, die Pflicht auf sich genommen hat, das Fahrwasser zu bezeichnen.

»Aber dem Vater von acht Kindern bleibt keine Wahl …«

Er murmelte es halblaut, brach ab, wandte sich, seufzte, hob die Augen, suchte mit dem Blick die Gestalt seiner Frau, die dem kleinen James vorlas, stopfte sich die Pfeife. Er wandte sich ab vom Anblick menschlicher Unwissenheit und menschlichen Schicksals und der See, die den Grund unter unseren Füßen wegfrißt – einem Anblick, der ihn vielleicht zu etwas geführt hätte, wenn er ihn unverwandt hätte betrachten können; und fand Trost in kleinen Dingen, die im Vergleich zum Ernst des eben noch durchdachten Gegenstandes so geringfügig waren, daß er sich versucht fühlte, verächtlich über diesen Trost hinwegzugehen, als wäre es für einen ehrlichen Mann das schändlichste aller Verbrechen, sich in dieser Welt des Elends bei einem Glücksgefühl ertappen zu lassen. Es ließ sich nicht leugnen: er war zumeist glücklich; er hatte seine Frau; er hatte seine Kinder; er hatte sich verpflichtet, in sechs Wochen den jungen Herren in Cardiff ›irgendwelchen Unsinn‹ über Locke, Hume, Berkeley und die Ursachen der Französischen Revolution zu erzählen. Dies aber und die Lust, die er daran empfand, an den Sätzen, die er baute, an der feurigen Glut der Jugend, an der Schönheit seiner Frau, an den Huldigungen, die ihm aus Swansea, Cardiff, Exeter, Southampton, Kidderminster, Oxford, Cambridge gezollt wurden – all das mußte unter der verächtlichen Redensart vom ›Unsinn erzählen‹ verhehlt werden, weil er im Grunde nicht vollbracht hatte, was er hätte vollbringen können. Es war ein Vorwand; es war die Zuflucht eines Mannes, der den Besitz eigener Gefühle scheute, der nicht zu sagen wagte: Das da schätze ich – das da bin ich; und es kam William Bankes und Lily Briscoe wohl einigermaßen erbärmlich und widerwärtig vor, weil sie sich nicht vorstellen konnten, weshalb solch Versteckspielen notwendig sein sollte; weshalb er ohne Huldigungen nicht auskam; weshalb ein Mann von solcher Kühnheit im Gedanklichen so furchtsam im Leben war; und auf wie seltsame Art er zu gleicher Zeit verehrungswürdig und lächerlich war.

Lehren und Predigen geht über Menschenkraft, dachte Lily zweiflerisch. (Sie packte ihre Sachen zusammen.) Wer sich auf Höhen hebt, muß irgendwann einen schweren Sturz tun. Mrs. Ramsay gäbe ihm, was er verlangte, allzu bereitwillig. Da müßte der Gegensatz ihn doch ganz aus dem Gleichgewicht bringen, sagte Lily. Er kommt zu uns herein aus der Welt seiner Bücher und findet uns beim Spielen und Unsinnschwatzen. Man muß sich den Gegensatz zu den Dingen vorstellen, über die er nachdenkt, sagte sie.

Er segelte auf sie zu. Nun blieb er still stehen und blickte schweigend aufs Meer hinaus. Und nun hatte er sich abermals abgewandt.


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