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III
Der Leuchtturm

1

Was bedeutet es also, was kann das alles bedeuten? fragte sich Lily Briscoe und überlegte, da sie allein gelassen worden war, ob es sich schickte, daß sie in die Küche ging und sich noch eine Tasse Kaffee holte, oder ob sie hier warten sollte. Was bedeutet es? – ein Schlagwort war das, hängengeblieben aus irgendeinem Buche, es paßte nur schlecht in ihre Gedanken; denn sie konnte an diesem ersten Morgen mit den Ramsays ihre Gefühle nicht zusammennehmen, konnte nur eine Phrase widerhallen lassen, um ihre Ratlosigkeit zu verdecken, bis die leere Einbildung vergangen war. Denn was fühlte sie wirklich, nach all den Jahren wieder hier und Mrs. Ramsay tot? Nichts, nichts – nichts, was sie überhaupt hätte ausdrücken können.

Sie war gestern abend spät gekommen, als alles geheimnisvoll und dunkel war. Nun war sie wach und saß an ihrem alten Platz am Frühstückstisch – aber allein. Es war auch noch sehr früh, noch vor acht. Ja, also der Ausflug – sie wollten zum Leuchtturm, Mr. Ramsay, Cam und James. Eigentlich sollten sie schon weg sein – sie mußten die Flut abpassen oder dergleichen. Und Cam war nicht fertig, und James war nicht fertig, und Nancy hatte vergessen, für die Sandwiches zu sorgen, und Mr. Ramsay war wütend geworden und hatte die Tür hinter sich zugeknallt.

»Was hat's für einen Zweck, jetzt noch zu fahren?« hatte er getobt.

Nancy war verschwunden. Er war draußen, marschierte wütend auf der Terrasse hin und her. Man glaubte im ganzen Hause Türenschlagen und Geschrei zu hören. Jetzt platzte Nancy herein, sah sich mit einem wunderlichen, halb verstörten, halb verzweifelten Blick im Zimmer um und fragte: »Was kann man denn zum Leuchtturm schicken?« – als zwänge sie sich, etwas zu tun, was sie nie fertigzubringen glaubte.

Ja, wirklich, was kann man zum Leuchtturm schicken? Zu jeder anderen Zeit hätte sie vernünftige Vorschläge gewußt: Tee, Tabak, Zeitungen. Aber an diesem Morgen war alles so ganz anders als sonst, daß eine solche Frage – Was kann man zum Leuchtturm schicken? – Türen im Innern aufriß, die auf- und zuklappten und hin- und herschwangen, so daß man nur mit bestürztem Staunen wiederholen konnte: Was kann man schicken? Was kann man tun? Warum sitzt man eigentlich überhaupt hier?

Sie saß wieder allein (Nancy war hinausgegangen) vor dem langen Tisch mit den sauberen Tassen, sie fühlte sich abgeschnitten von anderen Menschen und nur dazu imstande, zu beobachten, zu fragen, zu grübeln, immer weiter. Das Haus, die Räumlichkeit, der Morgen, alles schien ihr fremd. Sie hatte hier nichts, mit dem sie verknüpft war, dem sie sich verbunden fühlte; alles mögliche konnte geschehen, und was auch laut wurde, ein Schritt draußen oder eine Stimme, die rief (»Es ist nicht im Schrank, es ist auf dem Treppenabsatz«, rief jemand), es war eine Frage: als wäre das Kettenglied, das sonst die Dinge miteinander verbindet, gerissen, und sie trieben dahin, auf, ab, weg, irgendwohin. Wie zwecklos das war, wie chaotisch, wie unwirklich, dachte sie und sah in ihre leere Kaffeetasse. Mrs. Ramsay tot; Andrew gefallen; auch Prue tot – sie mochte es noch so oft wiederholen, es weckte keinerlei Gefühl in ihr. Und wir alle kommen zusammen in einem solchen Haus, an einem solchen Morgen, sagte sie und blickte aus dem Fenster – es war ein schöner, stiller Tag.

Plötzlich hob Mr. Ramsay im Vorübergehen den Kopf und sah ihr gerade ins Gesicht, mit seinem wirren, wilden Blick, der doch so durchdringend war, als sähe er einen sekundenlang zum erstenmal, für immer; und sie tat, als tränke sie aus ihrer leeren Kaffeetasse, wie um ihm zu entrinnen – seiner Forderung an sie zu entrinnen, die gebieterische Not noch eine Weile beiseite zu schieben. Er schüttelte bei seinem Blick den Kopf und ging mit langen Schritten weiter (»Allein«, hörte sie ihn sagen, »verloren«, hörte sie ihn sagen); und die Worte wurden, wie alles andere an diesem seltsamen Morgen, zu Sinnbildern, malten sich überall auf den graugrünen Wänden. Wenn sie sie nur zusammenfügen könnte, dachte sie, sie in einem Satz ausdrücken könnte, dann dränge sie zum wahren Wesen der Dinge vor. Der alte Mr. Carmichael kam leise hereingewatschelt, goß sich Kaffee ein, nahm seine Tasse und watschelte wieder hinaus, um sich in die Sonne zu setzen. Die ungemeine Unwirklichkeit war beklemmend; aber sie war auch erregend. Die Fahrt zum Leuchtturm. Aber was kann man zum Leuchtturm schicken? Verloren. Allein. Der graugrüne Schein auf der Wand gegenüber. Die leeren Plätze. Das waren schon einige Teile; aber wie sie zusammensetzen? fragte sie sich. Und als könnte jede Störung das zerbrechliche Bild zerstören, das sie auf dem Tisch erbaute, setzte sie sich mit dem Rücken zum Fenster, damit Mr. Ramsay sie nicht sähe. Sie mußte irgendwie entkommen, irgendwo allein sein. Plötzlich erinnerte sie sich. Als sie vor zehn Jahren hier gesessen hatte, war da ein Muster im Tischtuch gewesen – kleine Zweige oder Blätter –, auf das sie in einem Augenblick der Erleuchtung geblickt hatte. Es hatte sich um den Vordergrund eines Bildes gehandelt. Rück den Baum in die Mitte, hatte sie sich gesagt. Das Bild war nie vollendet worden. Aber es war ihr in all den Jahren nicht aus dem Kopf gegangen. Sie wollte dieses Bild jetzt malen. Wo waren ihre Malgeräte? fragte sie sich. Ja, ihre Malgeräte. Sie hatte sie gestern abend in der Halle gelassen, sie wollte sofort anfangen. Sie stand rasch auf, bevor Mr. Ramsay zurückkäme.

Sie holte sich einen Stuhl. Sie stellte ihre Staffelei mit ihren pedantischen Altmädchenbewegungen am Rande des Rasens auf, nicht zu nahe bei Mr. Carmichael, aber doch nahe genug, daß er ihr Schutz gab. Ja, genau an dieser Stelle mußte sie vor zehn Jahren gestanden haben. Da war die Mauer; die Hecke; der Baum. Es hatte sich um die Verteilung der Massen gehandelt. Sie hatte all die Jahre daran gedacht. Es schien so, als hätte sich die Lösung gefunden: sie wußte jetzt, was sie tun wollte.

Wenn aber Mr. Ramsay auf sie zusteuerte, konnte sie gar nichts tun. Jedesmal, wenn er nahte – er ging auf der Terrasse auf und ab –, nahte das Verderben, nahte das Chaos. Sie konnte nicht malen. Sie bückte sich; sie drehte sich um; sie nahm einen Lappen auf; sie drückte an einer Tube. Aber alles geschah nur, um ihn einen Augenblick von sich abzuwehren. Er machte es ihr unmöglich, irgend etwas zu tun. Denn wenn sie ihm die kleinste Möglichkeit böte, wenn er sie einen Augenblick unbeschäftigt sähe, wenn sie auch nur in seine Richtung blickte, so würde er sofort bei ihr sein und sagen, wie er gestern abend gesagt hatte: »Sie werden uns sehr verändert finden.« Gestern abend war er aufgestanden, vor ihr stehengeblieben und hatte das gesagt. Wenn sie auch alle stumm und starr dagesessen hatten, die sechs Kinder, denen sie früher die Beinamen der Könige und Königinnen von England gegeben hatten – der Rote, die Schöne, die Böse, der Grausame –, sie fühlte wohl, wie es unter dieser Ruhe tobte. Die freundliche alte Mrs. Beckwith hatte irgend etwas Verständiges gesagt. Aber es war ein Haus voll auseinanderstrebender Leidenschaften – sie hatte es den ganzen Abend gespürt. Und als ob es mit diesem Chaos nicht genug wäre, war Mr. Ramsay auch noch aufgestanden, hatte ihre Hand gedrückt und gesagt: »Sie werden uns sehr verändert finden«, und keines der Kinder hatte sich gerührt oder ein Wort gesprochen; aber sie hatten dagesessen, als wären sie gezwungen, ihn reden zu lassen. Nur James (sicherlich der Mürrische) blickte finster auf die Lampe; und Cam drehte ihr Taschentuch um den Finger. Dann erinnerte er sie daran, daß sie morgen zum Leuchtturm fahren wollten. Punkt halb acht müßten sie fertig in der Halle stehen. Schließlich, mit der Hand auf der Klinke, blieb er stehen; er wandte sich nach ihnen um. Oder wollten sie etwa nicht fahren? fragte er. Hätten sie den Mut gehabt, nein zu sagen (er hatte einen Grund, es zu wünschen), so hätte er sich mit tragischer Gebärde hintenüber in die bitteren Gewässer der Verzweiflung fallenlassen. Er hatte eine Gabe für solche Gesten. Er sah aus wie ein König in der Verbannung. Mürrisch sagte James: doch. Cam stotterte noch ungeschickter. Ja, ja, gewiß, sie würden beide fertig sein, sagten sie. Und jäh empfand sie, das war erschütternd – nicht Leichentuch, Staub und Sterbehemd; nein, daß Kinder gezwungen, in ihrem Willen unterdrückt wurden. James war wohl sechzehn, Cam siebzehn. Sie hatte sich umgesehen nach jemandem, der nicht da war, nach Mrs. Ramsay vermutlich. Doch da war nur die freundliche Mrs. Beckwith, die unter der Lampe in ihren Skizzen blätterte. Aber sie war müde gewesen, ihre Gedanken hoben und senkten sich wie das Meer; Geruch und Geschmack, wie sie den Stätten nach langer Abwesenheit anhaften, machten sie benommen, die Kerzen flackerten vor ihren Augen; sie ließ sich sinken und ging unter. Es war eine wundervolle Nacht, sternenhell; die Wellen rauschten, als sie nach oben gingen; voll Überraschung sahen sie den Mond, einen riesigen, blassen Mond, als sie am Treppenfenster vorbeikamen. Sie war sofort eingeschlafen.

Sie stellte ihre Leinwand entschlossen auf die Staffelei, als eine schwache, aber, so hoffte sie, ausreichende Schutzwehr gegen Mr. Ramsay und seine Ansprüche. Wenn er den Rücken gewandt hatte, gab sie sich redlich Mühe, auf ihr Bild zu blicken: auf die Linie hier, die Masse dort. Aber es ging nicht. Mochte er auch fünfzig Fuß entfernt sein, mochte er kein einziges Wort sagen, mochte er sogar in eine andere Richtung blicken – er durchdrang alles, er beherrschte einen, er drängte sich auf. Er veränderte alles. Sie sah die Farben nicht; sie sah die Linien nicht; selbst wenn er ihr den Rücken zuwandte, konnte sie immer bloß denken: Gleich wird er hier sein und etwas von mir verlangen – etwas, was sie ihm, das fühlte sie, nicht geben konnte. Sie verwarf einen Pinsel; sie wählte einen anderen. Wann würden nur die Kinder kommen? Wann würden sie endlich aufbrechen? dachte sie nervös. Der Mann da, dachte sie mit aufsteigendem Ärger, gab niemals; der Mann da nahm nur. Sie dagegen würde geben müssen. Mrs. Ramsay hatte gegeben. Gebend, gebend, immer nur gebend, war sie gestorben – und hatte all dies hinterlassen. Wirklich, sie ärgerte sich über Mrs. Ramsay. Sie blickte, den leicht zitternden Pinsel in der Hand, auf die Hecke, die Stufe, die Wand. Es war alles Mrs. Ramsays Schuld. Sie war tot. Hier stand Lily, vierundvierzig Jahre alt, und vertrödelte ihre Zeit, brachte nichts fertig, stand da, spielte mit der Malerei, spielte mit der einzigen Sache, mit der man nicht spielen durfte; und es war alles Mrs. Ramsays Schuld. Sie war tot. Die Stufe, auf der sie gern gesessen hatte, war leer. Sie war tot.

Aber warum das immer und immer wiederholen? Warum immer versuchen, ein Gefühl zu wecken, das sie nicht hatte? Darin lag eine Art von Blasphemie. Es war alles vertrocknet: alles welk; alles verbraucht. Sie hätten sie nicht einladen sollen; sie hätte nicht kommen sollen. Man darf mit vierundvierzig seine Zeit nicht vertrödeln, dachte sie. Sie haßte es, mit der Malerei zu spielen. Ein Pinsel, das einzig Verläßliche in einer Welt des Haders, des Verfalls, des Chaos – damit durfte man nicht spielen, womöglich noch bewußt: sie haßte es. Aber er brachte sie dazu. Du sollst deine Leinwand nicht anrühren, schien er zu sagen, als er auf sie zukam, bevor du mir nicht gegeben hast, was ich verlange. Da war er wieder, dicht bei ihr, begierig, verstört. Meinetwegen, dachte Lily verzweifelt und ließ die rechte Hand herabfallen, es würde einfacher sein, es hinter sich zu bringen. Sicherlich konnte sie aus der Erinnerung heraus den Eifer, die Überschwenglichkeit, die Selbstaufgabe nachahmen, die sie auf den Gesichtern so vieler Frauen gesehen hatte (auf Mrs. Ramsays Gesicht zum Beispiel), wenn sie bei einer Gelegenheit wie dieser in ungestümes Mitgefühl ausbrachen (sie erinnerte sich an den Ausdruck auf Mrs. Ramsays Gesicht), in Freude über den Lohn, der ihnen wurde, der ihnen, obgleich sie nicht begriff, warum, offenbar die höchste Wonne schenkte, deren die menschliche Natur fähig war. Da war er nun, stand neben ihr. Sie wollte ihm geben, was sie konnte.


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