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11

So sehr also, dachte Lily Briscoe und blickte aufs Meer, das fast fleckenlos glänzte, das so sanft erglänzte, daß es aussah, als wären Segel und Wolken eingelassen in diese Bläue – so sehr also sind wir abhängig von der Entfernung; so sehr kommt es darauf an, ob die Menschen uns nahe sind oder fern; denn ihre Empfindung für Mr. Ramsay wandelte sich in dem Maße, wie er weiter und weiter über die Bucht segelte. Sie schien sich auszudehnen, zu strecken; er schien ferner und ferner zu rücken. Er mitsamt seinen Kindern schien aufgesogen von dieser Ferne, dieser Bläue; hier aber auf dem Rasen, dicht neben ihr, grunzte Mr. Carmichael plötzlich. Sie lachte. Er klaubte sein Buch aus dem Gras. Er setzte sich in seinem Stuhl wieder zurecht, prustend und schnaubend wie ein Meerungeheuer. Das war nun freilich etwas ganz anderes, weil er so nahe war. Dann herrschte wieder Stille. Eigentlich müßten die anderen jetzt aufgestanden sein, dachte sie und sah zum Haus hinüber; aber da regte sich nichts. Sie waren allerdings, erinnerte sie sich, immer gleich nach einer Mahlzeit verschwunden, jeder mit eigenen Dingen beschäftigt. Alles stand im Einklang mit diesem Schweigen, dieser Leere, der Unwirklichkeit der frühen Morgenstunde. Das hatten die Dinge manchmal an sich, dachte sie, einen Augenblick verweilend, um die hohen glitzernden Fenster und die Feder aus blauem Rauch zu betrachten: sie wurden unwirklich. Wenn man von einer Reise heimkehrte oder krank gewesen war und die Gewohnheiten nicht schon alles wieder übersponnen hatten, da fühlte man dieselbe Unwirklichkeit, die so erregend war; man fühlte etwas aufsteigen. Dann war das Dasein am lebendigsten. Man durfte sich wohl fühlen. Man brauchte Gott sei Dank nicht über den Rasen zu gehen, um die alte Mrs. Beckwith recht lebhaft zu begrüßen, die aus dem Haus kam und sich ein Eckchen zum Sitzen suchte: »Oh, guten Morgen, Mrs. Beckwith! Was für ein herrlicher Tag! Wollen Sie's heute wagen, sich in die Sonne zu setzen? Jasper hat die Stühle versteckt. Lassen Sie mich einen für Sie holen!«, und was man sonst so daherredete. Man brauchte überhaupt nicht zu reden. Man glitt dahin, man schüttelte seine Segel (in der Bucht herrschte jetzt allerlei Betrieb, Boote liefen aus), zwischen den Dingen, über den Dingen. Nein, das war keine Leere, das war Fülle bis zum Rand. Ihr war, als stünde sie bis zu den Lippen in irgendeiner Daseinsform, als bewegte sie sich, als schwämme sie, als versänke sie darin, ja; denn diese Wasser waren unauslotbar tief. So viele Leben hatten sich darein ergossen. Die der Ramsays, der Kinder und noch tausenderlei von diesem und jenem. Eine Waschfrau mit ihrem Korb; eine Krähe; ein glühroter Pfahl; die purpurnen und graugrünen Farben der Blumen: ein gemeinsames Gefühl, das alles zusammenhielt.

Ein solches Gefühl der Ganzheit hatte ihr vielleicht, als sie vor zehn Jahren fast an der gleichen Stelle gestanden hatte, die Worte eingegeben, daß sie in die Stätte verliebt sein müßte. Liebe hatte tausenderlei Gestalt. Es mochte Liebende geben, die es verstanden, das Wesentliche der Dinge herauszugreifen und, indem sie es zusammenfügten und ihm eine Ganzheit verliehen, die ihm im Grunde nicht eigen war, aus einem Vorgang, einem Zusammentreffen von Menschen (alle jetzt dahin und verstreut) etwas Vollkommenes, Dauerndes schufen, bei dem der Gedanke verweilt und das Herz frohlockt.

Ihre Augen ruhten auf dem braunen Fleck von Mr. Ramsays Segelboot. Um die Frühstückszeit würden sie am Leuchtturm sein, dachte sie. Aber der Wind hatte aufgefrischt, der Himmel hatte sich ein wenig verwandelt, das Meer hatte sich ein wenig verwandelt, die Boote hatten ihre Position geändert, so daß die Sicht, die vor einem Augenblick noch wunderbar klar gewesen war, nun recht undeutlich schien. Der Wind hatte die Rauchspur verweht, und die Plazierung der Boote war irgendwie unbefriedigend.

Das zerstörte Ebenmaß dort schien eine Harmonie in ihrem Inneren ins Wanken zu bringen. Sie spürte ein unnennbares Unbehagen. Es verstärkte sich, als sie sich ihrem Bild zuwandte. Sie hatte ihren Morgen vertan. Warum, wußte sie nicht; aber es gelang ihr nicht, das haarscharfe Gleichgewicht zwischen zwei entgegengesetzten Kräften zustande zu bringen: zwischen Mr. Ramsay und dem Bild; und gerade das war nötig. Vielleicht war schon im Aufriß ein Fehler? Vielleicht mußte, überlegte sie, die Linie der Hauswand gebrochen werden, vielleicht war die Masse der Bäume zu schwer? Sie lächelte spöttisch, denn hatte sie, als sie anfing, nicht geglaubt, sie hätte ihr Problem gelöst?

Worin lag nun das Problem? Sie mußte etwas zu fassen versuchen, was ihr entschlüpfte. Es entschlüpfte ihr, wenn sie an Mrs. Ramsay dachte; es entschlüpfte ihr jetzt, wenn sie an ihr Bild dachte. Redensarten tauchten auf. Visionen tauchten auf. Schöne Bilder. Schöne Redensarten. Aber was sie zu fassen wünschte, war ja die Erschütterung der Nerven, das Ding selbst, bevor etwas daraus gemacht worden ist. Das fassen und neu anfangen; das fassen und neu anfangen, sagte sie verzweifelt und stellte sich entschlossen wieder vor die Staffelei. Eine elende Maschine, eine unbrauchbare Maschine zum Malen oder Fühlen war der menschliche Apparat, dachte sie; im kritischen Augenblick versagte sie; mit Heldenkraft mußte man sie wieder in Gang bringen. Sie stand mit starrem Blick und gerunzelter Stirn. Da war die Hecke; gut und schön. Aber man kam den Dingen nicht mit drängenden Forderungen bei. Der Blick wurde nur starr, wenn man immer die Linie der Wand ansah oder nachdachte – sie trug einen grauen Hut. Sie war atemversetzend schön. Laß es kommen, dachte sie, wenn es kommen will. Denn es gibt Augenblicke, wo man weder denken noch fühlen kann. Und wenn man weder denken noch fühlen kann, dachte sie, wo ist man dann?

Hier im Gras, auf der Erde, dachte sie, setzte sich und stocherte mit ihrem Pinselstiel in einem kleinen Büschel Wegerich herum. Denn der Rasen war sehr ungepflegt. Hier saß man auf der Welt, dachte sie; denn sie wurde die Vorstellung nicht los, daß alles sich an diesem Morgen zum ersten Male begab – und vielleicht zum letzten Male; so ergeht es dem Reisenden, der aus dem Abteilfenster blickt: Er weiß, auch in halbem Schlummer, daß er jetzt hinschauen muß, denn nie wieder wird er das Städtchen da erblicken oder den Maultierkarren oder die Frau bei der Feldarbeit. Der Rasen war die Welt; sie waren hier zusammen, an dieser erhöhten Stelle, dachte sie und sah zu dem alten Mr. Carmichael hin, der (obwohl sie die ganze Zeit kein Wort gesprochen hatten) ihre Gedanken zu teilen schien. Und vielleicht würde sie ihn nie wiedersehen. Er wurde alt. Andererseits, erinnerte sie sich und lächelte über den Pantoffel, der an seinem Fuß baumelte, wurde er berühmt. Die Leute sagten, seine Gedichte wären ›so schön‹. Sie machten sich daran und druckten, was er vor vierzig Jahren geschrieben hatte. Da gab es nun also einen berühmten Mann namens Carmichael; sie lächelte, als sie bedachte, wie viele Gestalten ein Mensch haben mochte, wie anders er in den Zeitungen war, hier aber der blieb, der er immer gewesen war. Er sah noch genauso aus; grauer freilich. Ja, er sah noch genauso aus, aber jemand hatte ihr erzählt, erinnerte sie sich, daß er seit der Nachricht vom Tode Andrew Ramsays (er wurde auf der Stelle von einer Granate getötet; er wäre ein großer Mathematiker geworden, hieß es) ›alles Interesse am Leben verloren‹ hätte. Was sollte damit gesagt sein? War er mit einem dicken Knüppel in der Hand über den Trafalgar Square marschiert? Hatte er, einsam in seinem Zimmer in St. John's Wood, Seite auf Seite umgeblättert, ohne zu lesen, was darauf stand? Sie wußte nicht, was er getan hatte, als er vom Tode Andrews erfuhr, aber sie fühlte, was in ihm vorging. Sie murmelten einander auf der Treppe etwas zu; sie blickten zum Himmel und äußerten sich darüber, ob es gutes oder schlechtes Wetter gäbe. Das war eine Art, die Menschen zu kennen: die Außenseite zu kennen, nicht die Einzelheiten, im Garten zu sitzen und die Berghänge zu betrachten, die sich purpurn in der fernen Heide verlieren. Auf diese Art kannte sie ihn. Sie merkte, daß er sich irgendwie verändert hatte. Sie hatte nie eine Zeile seiner Gedichte gelesen. Und doch glaubte sie zu wissen, wie sie waren, langsam und voll Wohllaut. Sie hatten würzige und milde Reife. Sie erzählten von der Wüste und vom Kamel. Sie erzählten vom Palmbaum und vom Sonnenuntergang. Sie waren höchst unpersönlich; vom Tod war die Rede; von der Liebe war sehr wenig die Rede. Es war etwas an ihm, was Abstand hielt. Er verlangte wenig von anderen. Hatte er sich nicht immer, eine Zeitung unterm Arm, ein bißchen verlegen am Fenster des Wohnzimmers vorbeigedrückt, um Mrs. Ramsay zu entgehen, die er aus irgendeinem Grunde nicht recht leiden konnte? Gerade deshalb versuchte sie natürlich immer, ihn festzuhalten. Er verneigte sich dann vor ihr. Er blieb unwillig stehen und verneigte sich tief. Sie ärgerte sich, daß er nichts von ihr verlangte, und deshalb fragte sie ihn (Lily hörte sie), ob er nicht einen Mantel, eine Decke, eine Zeitung wünschte. Nein, er wünschte nichts. (Dabei verneigte er sich.) Sie hatte etwas an sich, was er nicht recht leiden konnte. Vielleicht war es ihre gebieterische, rechthaberische Art und eine gewisse Nüchternheit ihres Wesens. Sie war so geradezu.

(Ein Geräusch lenkte ihre Aufmerksamkeit auf das Fenster des Wohnzimmers – das Quietschen einer Angel. Die leichte Brise spielte mit dem Flügel.)

Es mußte Leute gegeben haben, die sie gar nicht mochten, dachte Lily. (Ja, die Schwelle zum Wohnzimmer war leer, das wußte sie, aber es kümmerte sie nicht. In diesem Augenblick sehnte sie sich nicht nach Mrs. Ramsay.) – Leute, die sie zu sicher und zu drastisch fanden. Auch ihre Schönheit hatte den Leuten wahrscheinlich mißfallen. Wie eintönig, hieß es wohl, alle Tage dieselbe! Ihnen war der andere Typ lieber, der dunkle, lebenslustige. Außerdem war sie ihrem Manne gegenüber schwach. Sie ließ es zu, daß er solche Szenen machte. Ferner war sie zurückhaltend. Niemand wußte genau, was sie erlebt hatte. Schließlich (um zu Mr. Carmichael und seiner Abneigung zurückzukehren) konnte man sich Mrs. Ramsay nicht vorstellen, wie sie einen ganzen Vormittag auf dem Rasen stand und malte oder lag und las. Das war undenkbar. Ohne ein Wort zu sagen, als einziges Zeichen ihrer Absicht einen Korb am Arm, ging sie ins Städtchen, zu den Armen, und setzte sich in ein muffiges kleines Schlafzimmer. Wie oft hatte Lily sie mitten aus einem Spiel, einer Unterhaltung weggehen sehen, ihren Korb am Arm, stumm und sehr aufrecht. Sie hatte auch ihre Rückkehr vermerkt. Und sie hatte gedacht, halb lächelnd (sie nahm es so genau mit den Teetassen), halb erschüttert (ihre Schönheit verschlug einem den Atem): Augen, die sich in Qualen schließen, haben dich angeblickt. Du bist dort gewesen, bei ihnen.

Und dann ärgerte sich Mrs. Ramsay, weil jemand zu spät kam oder die Butter nicht frisch oder die Teekanne gesprungen war. Und während sie die ganze Zeit davon sprach, daß die Butter nicht frisch war, mußte man an griechische Tempel denken und an die Schönheit, die sie umgeben hatte. Sie sprach nie davon – sie ging, pünktlich, entschlossen. Ein Instinkt ließ sie gehen, ein Instinkt, wie er die Schwalben nach Süden führt oder die Artischocken zur Sonne wendet, lenkte sie unfehlbar zu den Menschen und schuf ihr eine Wohnstatt in ihren Herzen. Und das war, wie bei allen Instinkten, ein bißchen quälend für Leute, die diesen Instinkt nicht hatten; für Mr. Carmichael vielleicht, für sie selbst gewiß. Beide waren einigermaßen von der Nutzlosigkeit des Handelns, von der Überlegenheit des Denkens durchdrungen. Wenn sie ging, so war das ein Vorwurf für sie, es gab der Welt einen anderen Lauf, was sie zum Widerspruch reizte, denn sie sahen ihre Vorurteile schwinden und klammerten sich an die schwindenden. Charles Tansley machte es ebenso: das war zum Teil der Grund, weshalb man ihn nicht mochte. Er brachte die Maßbegriffe der Welt durcheinander. Und was war aus ihm geworden? fragte sie sich und stocherte gedankenlos mit ihrem Pinsel zwischen dem Wegerich. Er hatte seine Privatdozentur bekommen. Er hatte geheiratet; er lebte in Golder's Green.

Während des Krieges war sie einmal in eine Versammlung gegangen, wo er redete. Er klagte etwas an: er verurteilte jemanden. Er predigte Bruderliebe. Und ihre einzige Empfindung war dabei gewesen: Wie konnte er seinen Nächsten lieben, er, der ein Bild nicht vom anderen zu unterscheiden wußte, der hinter ihr gestanden, Shagtabak geraucht (›fünf Pence die Unze, Miss Briscoe‹) und es sich zur Aufgabe gemacht hatte, ihr zu erklären: Frauen können nicht schreiben, Frauen können nicht malen – nicht so sehr, weil er selbst es glaubte, als weil er es aus irgendeinem seltsamen Grunde so haben wollte? Da stand er, hager und rot und heiser, und predigte von einem Podium herab Liebe (zwischen dem Wegerich krochen Ameisen herum, die sie mit ihrem Pinsel aufstörte – rote, tatkräftige Ameisen, die ein bißchen an Charles Tansley erinnerten). Sie hatte ihn spöttisch von ihrem Platz im halbleeren Saal beobachtet, wie er Liebe in den frostigen Raum pumpte, und plötzlich sah sie das alte Faß oder was es sonst gewesen war in den Wellen auf und nieder tanzen und Mrs. Ramsay zwischen den Kieselsteinen nach ihrem Brillenfutteral suchen. »Ach, du lieber Himmel! Wie ärgerlich! Bemühen Sie sich nicht, Mr. Tansley! Ich verliere jeden Sommer unzählige von den Dingern«, worauf er das Kinn an den Kragen preßte, als hätte er Bedenken, eine solche Übertreibung gutzuheißen, ließe es aber ihr, die er gern leiden mochte, durchgehen, und ganz bezaubernd lächelte. Er hatte ihr wohl auf einem der langen Ausflüge, wo sich die Gesellschaft trennte und man einzeln heimkehrte, sein Leben gebeichtet. Er sorgte für die Erziehung seiner kleinen Schwester, hatte Mrs. Ramsay ihr erzählt. Das war sehr ehrenvoll für ihn. Ihre eigene Vorstellung von ihm war grotesk, das war Lily bewußt, als sie mit dem Pinsel zwischen dem Wegerich herumstocherte. Die Hälfte aller Vorstellungen von anderen Menschen war letzten Endes grotesk. Sie dienten geheimen eigenen Zwecken. Ihr diente er als Prügelknabe. Sie erwischte sich dabei, wie sie seine mageren Flanken peitschte, wenn sie schlechter Laune war. Wenn sie ihn ernst nehmen wollte, mußte sie sich Mrs. Ramsays Worte ins Gedächtnis rufen und ihn mit deren Augen sehen.

Sie schichtete einen kleinen Berg auf, den die Ameisen überklettern sollten. Durch diesen Eingriff in ihre Weltschöpfung zwang sie sie zu wilder Unentschlossenheit. Die einen rannten hierhin, die anderen dorthin.

Man müßte fünfzig Augenpaare zum Sehen haben, überlegte sie. Fünfzig Augenpaare wären nicht genug gewesen, um mit dieser einen Frau fertigzuwerden, dachte sie. Eines davon hätte für ihre Schönheit stockblind sein müssen. Vor allem brauchte man einen geheimen sechsten Sinn, leicht wie Luft, der sich durch Schlüssellöcher stahl und sie umschloß, während sie strickend, redend oder schweigend am Fenster saß; der ihre Gedanken, ihre Träume, ihre Wünsche aufnahm und bewahrte, wie die Luft den Rauch des Dampfers. Was bedeutete die Hecke ihr, was bedeutete der Garten ihr, was bedeutete die Welle ihr, die am Ufer zerschellte? (Lily blickte auf, wie sie Mrs. Ramsay hatte aufblicken sehen; auch sie hörte eine Welle ans Ufer branden.) Was regte sich, was erzitterte in ihr, wenn sie die Rufe der Kinder beim Kricketspiel hörte: »Da! Da!«? Dann hielt sie einen Augenblick mit der Arbeit inne. Ihr Blick wurde aufmerksam. Aber sie ließ sich bald wieder zurücksinken, und plötzlich blieb Mr. Ramsay in seinem Auf- und Abschreiten vor ihr stehen; dann ging ein sonderbarer Ruck durch sie hin, daß sie zu schwanken schien in tiefer innerer Erregung, während er neben ihr stand und auf sie herabblickte. Deutlich sah Lily das Bild vor sich.

Er streckte die Hand aus und half ihr vom Stuhl auf. Die Bewegung sah aus, als wäre sie ihm schon vertraut; als hätte er sich schon einmal auf die gleiche Art niedergebeugt und ihr aus einem Boot geholfen, das ein paar Zollbreit von einer Insel entfernt lag, so daß die Damen sich von den Herren an Land helfen lassen mußten. Ein altmodisches Bild war das, wozu eigentlich Krinolinen und unten enger werdende Hosen gepaßt hätten. Während sie sich von ihm helfen ließ, hatte (so vermutete Lily) Mrs. Ramsay gedacht, die Zeit sei gekommen, sie würde ja sagen. Ja, sie würde ihn heiraten. Und sie betrat langsam und gelassen das Ufer. Vielleicht sprach sie nur ein einziges Wort und ließ dabei ihre Hand in seiner ruhen. Ich will dich heiraten, hatte sie vielleicht gesagt, ihre Hand in seiner; sonst nichts. Das gleiche Erzittern hatte beide dann wieder und wieder erfaßt – es mußte so gewesen sein, dachte Lily und ebnete ihren Ameisen einen Weg. Sie erfand nichts; sie versuchte nur etwas freizulegen, was ihr vor Jahren verschlossen zuteil geworden war, etwas, was sie gesehen hatte. Denn im Getümmel und der Unruhe des Alltags, inmitten all dieser Kinder und Besucher, hatte man immer das Gefühl einer Wiederholung – als falle dort etwas, wo vor ihm schon anderes gefallen sei, und lasse so ein Echo erstehen, dessen Harmonie die Luft mit zitternden Schwingungen erfüllte.

Aber es wäre falsch, dachte sie und stellte sich vor, wie die beiden miteinander davongingen, sie mit ihrem grünen Schal, er mit flatternder Krawatte, Arm in Arm, am Gewächshaus vorüber, wenn man ihr Verhältnis zueinander vereinfachen wollte. Es war keine eintönige Glückseligkeit – sie mit ihren plötzlichen Eingebungen und ihrer raschen Art, er mit seinen Anfällen von Schauder und Trübsinn. O nein! Frühmorgens fiel etwa die Schlafzimmertür dröhnend ins Schloß. Er sprang gereizt vom Tisch auf. Er schleuderte seinen Teller durchs Fenster. Dann schien es im ganzen Haus nur schlagende Türen und flatternde Vorhänge zu geben, als wehte ein Sturmwind, und die Leute liefen hastig durcheinander, um die Türen zu schließen und alles in Ordnung zu bringen. An solch einem Tage war sie Paul Rayley auf der Treppe begegnet. Sie hatten sich ausschütten wollen vor Lachen, nur weil Mr. Ramsay beim Frühstück einen Ohrwurm in seiner Milch gefunden und ihn mitsamt der Milch in hohem Bogen auf die Terrasse hinausgeschleudert hatte. »Ein Ohrwurm!« stotterte Prue erschüttert, »in seiner Milch!« Andere Leute konnten Tausendfüßler darin finden. Er aber hatte eine solche Mauer der Unantastbarkeit rings um sich aufgebaut und nahm das Gebiet mit so majestätischem Gebaren in Anspruch, daß ein Ohrwurm in seiner Milch eine Ungeheuerlichkeit war.

Für Mrs. Ramsay aber war es ermüdend, es entmutigte sie einigermaßen – das Tellerwerfen und Türenschlagen. Dann trennte die beiden zuweilen lange Zeit ein starres Schweigen; Mrs. Ramsay, in einer Gemütsverfassung, die Lily an ihr nicht leiden konnte, halb wehleidig, halb gekränkt, besaß dann offenbar nicht die Kraft, den Sturm gelassen hinzunehmen oder zu lachen, wie die anderen lachten, verbarg vielleicht auch etwas hinter ihrer bedrückten Stimmung. Sie grübelte und saß stumm. Nach einer Weile begann er dann verstohlen ihren Platz zu umkreisen; er umschlich das Fenster, wo sie schreibend oder plaudernd saß, denn sie wußte es so einzurichten, daß sie beschäftigt schien, wenn er vorbeikam, so daß sie ihm entschlüpfte und tun konnte, als sähe sie ihn nicht. Worauf er so sanft wie Seide wurde, freundlich und umgänglich, und sie auf diese Art zu gewinnen suchte. Sie aber hielt sich noch zurück, und nun nutzte sie, um sich durchzusetzen, für kurze Zeit ihre Schönheit zu einer stolzen und hoheitsvollen Haltung, die ihr sonst ganz und gar fremd war; sie wandte den Kopf ab, warf nur einen Blick über die Schulter und hatte stets jemanden bei sich, Minta, Paul oder William Bankes. Schließlich rief er, der ausgeschlossen und genau wie ein hungriger Wolfshund dastand (Lily erhob sich aus dem Gras und blickte zu den Stufen und zum Fenster hinüber, wo sie ihn gesehen hatte), ihren Namen, ein einziges Mal, und es klang wahrhaftig, als bellte ein Wolf im Schnee – sie aber hielt sich noch immer zurück; dann wiederholte er ihren Namen, und diesmal lag etwas in seinem Ton, was sie aufrüttelte, und sie ging zu ihm, ließ die anderen einfach stehen, und die beiden verschwanden zwischen den Birnbäumen, den Kohlköpfen und Himbeersträuchern. Sie trugen es miteinander aus. Wie aber benahmen sie sich dabei, was für Worte brauchten sie? In ihrem Verhältnis zueinander waltete soviel Würde, daß sie und Paul und Minta sich abwandten und ihre Neugier und ihr Unbehagen verhehlten; sie pflückten Blumen, spielten Ball, schwatzten, bis es Zeit zum Dinner war: und dann waren sie wieder da, er am einen Ende des Tisches, sie am anderen, ganz wie sonst.

»Warum befaßt sich keiner von euch mit Botanik …? So viele Arme und Beine, und keiner denkt daran …?« So redeten sie, ganz wie sonst, und lachten mit den Kindern. Es war alles ganz wie sonst, nur zuckte dann und wann etwas zwischen ihnen auf, wie eine Klinge in der Luft, als wäre der vertraute Anblick der Kinder, die ringsum vor ihren Suppentellern saßen, ihren Augen neu, nach dieser Stunde zwischen den Birnen und Kohlköpfen. Mrs. Ramsay pflegte dann, fiel Lily ein, besonders Prue anzusehen. Sie saß zwischen ihren Brüdern und Schwestern und sprach kaum je ein Wort, so eifrig schien sie immer damit beschäftigt, dafür zu sorgen, daß alles klappte. Was für Vorwürfe sich Prue wohl wegen des Ohrwurms in der Milch gemacht hat! Wie weiß wurde sie, als Mr. Ramsay den Teller aus dem Fenster warf! Wie ließ sie den Kopf hängen, wenn das lange Schweigen zwischen ihnen herrschte! Nun freilich war die Mutter offenbar bemüht, das alles wettzumachen; ihr zu versichern, daß alles gut sei; zu versprechen, daß auch ihr das gleiche Glück bald zuteil würde. Sie hatte es allerdings nur knapp ein Jahr genossen.

Sie hatte die Blumen aus ihrem Korb fallen lassen, dachte Lily, kniff die Augen zusammen und trat zurück, als wollte sie ihr Bild betrachten; aber sie rührte es nicht an, denn all ihre Kräfte waren wie in einen Zauberschlaf gebannt, oberflächlich erstarrt, darunter aber rührten sie sich mit rasender Eile.

Sie hatte die Blumen aus ihrem Korb fallen lassen; hatte sie verstreut, aufs Gras geworfen, und dann ging sie von dannen, widerwillig und zögernd, aber ohne ein Wort der Klage – denn hatte sie nicht die Gabe des Gehorchens zur Vollkommenheit entwickelt? Über Felder schritt sie, durch weiße, blumenbesternte Täler – ja, so hätte sie es gemalt. Die Hügel ragten streng; sie waren felsig und steil. Hart schlugen drunten die Wellen auf die Steine. Sie gingen miteinander, die drei, Mrs. Ramsay ziemlich rasch voran, als erwarte sie, an der nächsten Ecke jemanden zu treffen.

Plötzlich wurde das Fenster, zu dem sie hinüberblickte, von irgend etwas Hellem dahinter weiß. Da hatte also doch jemand das Wohnzimmer betreten, und jemand saß im Stuhl am Fenster. Gütiger Himmel, flehte sie, laß sie still drinnen sitzen bleiben und nicht herauskommen, um mit aller Gewalt ein Gespräch anzufangen! Wer es auch war, er blieb Gott sei Dank drinnen; und ein glücklicher Zufall hatte ihn veranlaßt, sich so hinzusetzen, daß er einen wunderlich geformten dreieckigen Schatten auf die Stufe warf. Das bedeutete eine kleine Änderung im Aufbau des Bildes. Es war reizvoll. Es war vielleicht sogar nützlich. Ihre Arbeitslust kehrte wieder. Man mußte unverwandt hinsehen, die Kraft der Empfindung durfte keinen Augenblick erlahmen; man durfte sich nicht ablenken, nicht verwirren lassen. Man mußte die Szene wie in einem Schraubstock festhalten – so – und durfte nichts eindringen und sie verderben lassen. Man wollte, dachte sie und tauchte bedachtsam den Pinsel ein, sich immer nach der alltäglichen Erfahrung richten und einfach denken, das ist ein Stuhl, das ist ein Tisch und hinwiederum gleichzeitig: Es ist ein Wunder, es ist eine Wonne. Vielleicht war das eine Frage, die sich lösen ließ. Ach, aber was geschah dort? Etwas Weißes wallte über die Fensterscheibe. Der Wind mußte einen Volant im Zimmer aufgeweht haben. Ihr Herz sprang und packte sie und würgte sie.

»Mrs. Ramsay! Mrs. Ramsay!« rief sie und fühlte die alte Qual wiederkehren: sich sehnen, sehnen und es nicht bekommen. Hatte sie noch immer solche Macht? Dann aber, ganz sacht, als lockerte sie den Griff, wurde auch das ein Teil der alltäglichen Erfahrung, gehörte zum Stuhl, zum Tisch. Mrs. Ramsay – es war ein Ausfluß der großen Güte, die sie Lily immer erwiesen hatte – saß ganz einfach da in ihrem Stuhl, ließ ihre Nadeln hin- und herblitzen, strickte an ihrem rötlichbraunen Strumpf, warf ihren Schatten auf die Stufe. Ja, da saß sie.

Und als hätte sie etwas, was sie mit jemand teilen müßte, könnte sich aber kaum von ihrer Staffelei trennen, weil sie so ganz und gar erfüllt war von dem, was sie dachte, was sie sah, ging sie an Mr. Carmichael vorbei zum Rande des Rasens, ihren Pinsel in der Hand: Wo war das Boot jetzt? Mr. Ramsay? Sie brauchte ihn.


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