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»Mrs. Ramsay!« rief Lily, »Mrs. Ramsay!« Aber nichts geschah. Der Schmerz wuchs. Daß die Qual einem doch alle Vernunft rauben konnte, dachte sie. Immerhin – der alte Mann hatte nichts gehört. Er blieb gütig, gelassen und (wenn man ihn so sehen wollte) erhaben. Dem Himmel sei Dank, dachte sie, niemand hatte gehört, wie sie zu ihrer Schande geschrien hatte: Halt ein, Schmerz, halt ein! Sie war offenbar nicht von Sinnen. Niemand hatte gesehen, wie sie auf einer schmalen Planke fehltrat und in die Gewässer der Vernichtung stürzte. Sie blieb eine dürftige alte Jungfer, die auf dem Rasen stand und einen Pinsel in der Hand hielt.

Und nun wich allmählich der Schmerz des Verlangens von ihr, der bittere Zorn (daß es sie in dem Augenblick traf, als sie dachte, sie würde nie mehr um Mrs. Ramsay trauern. Hatte sie sie etwa inmitten der Kaffeetassen am Frühstückstisch vermißt? nicht im mindesten) ließ nach; und von der Qual blieb, als Gegengift, ein Gefühl der Erlösung zurück, das wie Balsam wirkte; zugleich aber blieb, nur geheimnisvoller, das Gefühl, daß jemand da war, daß Mrs. Ramsay da war, einen Augenblick lang der Last ledig, die ihr die Welt auferlegt hatte; sie stand neben Lily, ganz leicht; dann hob sie (denn es war Mrs. Ramsay, war es in all ihrer Schönheit) ein Gewinde weißer Blumen zur Stirn und ging. Lily drückte wieder auf ihre Farbtuben. Jetzt rückte sie der Frage der Hecke zu Leibe. Es war doch seltsam, wie deutlich sie Mrs. Ramsay vor sich sah: Sie ging mit ihrem gewohnten raschen Schritt über Felder, zwischen deren Bodenwellen, purpurnen und sanften Wellen, zwischen deren Blüten, Hyazinthen oder Lilien, sie verschwand. Das war eine Illusion des Malerauges. Denn tagelang nach der Nachricht von ihrem Tod hatte Lily sie so gesehen: wie sie das Blumengewinde zur Stirn hob und, ohne eine Frage zu stellen, mit ihrem Begleiter, einem Schatten, über die Felder schritt. Der Anblick, die Redewendung hatten tröstende Kraft. Wo immer sie war, ob sie malte, hier auf dem Lande oder in London, immer wieder kam ihr die Vision, und ihre halb geschlossenen Augen suchten nach etwas, worauf sich diese Vision gründen ließe. Sie sah sich im Eisenbahnwagen um oder im Omnibus; sie faßte die Linie einer Schulter oder einer Wange; blickte auf die Fenster gegenüber; auf Piccadilly mit seinen Lampenreihen am Abend. All dies war ein Teil des Totengefildes gewesen. Immer aber drängte sich etwas dazwischen – ein Gesicht, eine Stimme, ein Zeitungsjunge, der den ›Standard‹ oder die ›News‹ ausschrie –, schreckte sie auf, weckte sie, verlangte und erlangte schließlich auch ihre Aufmerksamkeit, so daß die Vision ständig wiederholt werden mußte. Abermals blickte Lily, getrieben von einem unwillkürlichen Verlangen nach Ferne und Bläue, auf die Bucht unten, und die blauen Streifen der Wogen wurden ihr zu Hügeln und die ins Purpurne dunkelnden Strecken zu steinigen Feldern. Und wieder wurde sie, wie gewöhnlich, von etwas gestört, das nicht dahin gehörte. Mitten in der Bucht war ein brauner Fleck. Es war ein Boot. Ja, das erkannte sie nach einer Sekunde. Aber wessen Boot? Mr. Ramsays Boot, gab sie sich selbst zur Antwort. Mr. Ramsay – der Mann, der an ihr vorübergegangen war mit erhobener Hand, sehr fern, an der Spitze einer Prozession, in seinen schönen Stiefeln, der Mitgefühl von ihr verlangte, das sie ihm verweigert hatte. Das Boot hatte die Bucht nun zur Hälfte überquert.

Bis auf einen Windstoß ab und zu war der Morgen so schön, als wären See und Himmel aus demselben Stoff gewoben, als wären Segel hoch droben am Himmel aufgezogen oder die Wolken ins Meer gefallen. Ein Dampfer weit draußen auf See hatte einen großen Rauchschnörkel in die Luft gemalt, der in zierlichen Windungen und Krümmungen stehenblieb, als wäre die Luft ein feiner Flor, der die Dinge hielt und sie sanft in seinem Gewebe verwahrte, sie nur leicht hin und her schaukelte. Und wie es zuweilen geschieht, wenn das Wetter schön ist: Die Klippen sahen aus, als wüßten sie von den Schiffen, und die Schiffe sahen aus, als wüßten sie von den Klippen, als schickten sie einander durch Zeichen eine geheime Botschaft zu, die sie allein betraf. Der Leuchtturm aber, der zuweilen dem Ufer ganz nahe schien, wirkte im Frühnebel dieses Tages wie in unendliche Ferne gerückt.

»Wo sind sie nun?« dachte Lily und blickte aufs Meer. Wo war er, der sehr alte Mann, der stumm an ihr vorbeigegangen war, ein braunes Paket unterm Arm? Das Boot war inmitten der Bucht.


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