Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

12

Sie legte sich den grünen Schal um die Schultern. Sie nahm seinen Arm. Er sei ein so schöner Mensch, sagte sie sogleich und meinte Kennedy, den Gärtner; er sei so über alle Maßen hübsch, daß sie ihn nicht entlassen könne. Am Gewächshaus lehnte eine Leiter, und hier und da klebten Klümpchen Glaserkitt, denn die Ausbesserungsarbeiten hatten begonnen. Gut und schön – aber während sie mit ihrem Mann durch den Garten wanderte, wurde ihr klar, daß diese besondere Ursache des Kummers damit zur unwiderruflichen Wirklichkeit geworden war. Es lag ihr auf der Zunge, beim Schlendern zu sagen: »Es wird fünfzig Pfund kosten«, statt dessen, denn ihr fehlte der Mut, über Geld zu reden, sprach sie von Jasper und seiner Vogeljagd; und er antwortete, sie sogleich beruhigend, das sei bei einem Jungen nur natürlich, und seiner Überzeugung nach werde Jasper bald auf bessere Arten der Belustigung verfallen. Er war so vernünftig, ihr Mann, so gerecht. So sagte sie denn: »Ja, alle Kinder machen eben solche Zeiten durch«, worauf sie die Dahlien in dem großen Beet betrachtete; was für Blumen sie wohl im nächsten Jahr haben würden, meinte sie, und ob er den Spitznamen schon gehört habe, den die Kinder Charles Tansley gegeben hätten? Den Atheisten nennten sie ihn, den kleinen Atheisten. »Er ist ein ziemlich ungesittetes Exemplar«, sagte Mr. Ramsay. »Das kann man wohl behaupten«, sagte Mrs. Ramsay.

Es sei wohl das beste, man lasse ihn auf seine Art selig werden, meinte Mrs. Ramsay; wobei sie im stillen erwog, ob es wohl Zweck hätte, Blumenzwiebeln herzuschicken: ob sie sie überhaupt einpflanzten? »Oh, er hat ja seine Doktorarbeit zu schreiben«, sagte Mr. Ramsay. Darüber wisse sie genug, sagte Mrs. Ramsay. Er rede von nichts anderem. Es handele sich um den Einfluß von irgendwem auf irgendwas. »Na ja, es ist eben sein ein und alles«, sagte Mr. Ramsay. »Gebe der Himmel, daß er sich nicht in Prue verliebt«, sagte Mrs. Ramsay. Wenn sie ihn nehme, enterbe er sie, sagte Mr. Ramsay. Sein Blick war nicht auf die Blumen gerichtet, die seine Frau betrachtete, sondern auf einen Punkt, der etwa in Fußhöhe über ihnen lag. Er sei harmlos, fügte er hinzu und wollte gerade sagen, unter dem ganzen jungen Nachwuchs in England wäre er schließlich der einzige Bewunderer seiner … aber das schluckte er hinunter. Er wollte sie nicht wieder mit seinen Büchern behelligen. Die Blumen seien ja anscheinend ganz annehmbar, sagte Mr. Ramsay und nahm, da er den Blick senkte, einiges in Rot und einiges in Braun wahr. Ja, die habe sie aber auch mit eigener Hand gepflanzt, sagte Mrs. Ramsay. Was aber werde, wenn sie Zwiebeln herschicke? Das sei die Frage. Ob Kennedy sie auch einsetze? Er sei ein unverbesserlicher Faulpelz, sagte sie im Weitergehen. Wenn sie den ganzen Tag mit dem Spaten in der Hand neben ihm stehe, tue er ja zuweilen einen Handschlag. So schlenderten sie weiter, auf die feuerroten Pfähle zu. »Du bringst deinen Töchtern das Aufschneiden bei«, sagte Mr. Ramsay vorwurfsvoll. In der Hinsicht sei ihre Tante Camilla viel schlimmer als sie, bemerkte Mrs. Ramsay. »Soviel ich weiß, hat noch niemand jemals deine Tante Camilla als Vorbild hingestellt«, sagte Mr. Ramsay. »Sie war die schönste Frau, die ich je gesehen habe«, sagte Mrs. Ramsay. »Das war wer anders«, sagte Mr. Ramsay. Prue werde einmal viel schöner sein als ihre Mutter, sagte Mrs. Ramsay. Davon habe er noch nichts bemerkt, sagte Mr. Ramsay. »Na, dann sieh sie dir heute abend an«, sagte Mrs. Ramsay. Eine Pause entstand. Er wünsche nur, Andrew möge einsehen, daß er fleißiger sein müsse. Er werde sonst jede Aussicht auf ein Stipendium verlieren. »Ach, Stipendium!« sagte sie. Mr. Ramsay fand es töricht, so etwas zu sagen – über eine so ernste Sache wie ein Stipendium. Er werde sehr stolz auf Andrew sein, wenn er ein Stipendium bekomme, sagte er. Und sie werde genauso stolz auf ihn sein, wenn er keins bekomme, antwortete sie. In diesem Punkte waren sie sich niemals einig, aber das war nicht weiter wichtig. Sie fand es liebenswert, daß er solchen Wert auf Stipendien legte, und er fand es liebenswert, daß sie auf Andrew immer stolz war, so oder so. Plötzlich fielen ihr die schmalen Fußpfade am Rande der Klippen ein.

Sei es nicht schon spät? fragte sie. Sie seien noch immer nicht zu Hause. Er ließ achtlos den Deckel seiner Uhr aufspringen. Es war erst kurz nach sieben. Er hielt die Uhr einen Augenblick offen in der Hand und beschloß, ihr mitzuteilen, was ihm auf der Terrasse durch den Kopf gegangen war. Zunächst einmal sei es unvernünftig, sich derart zu beunruhigen. Andrew werde schon von selbst ins rechte Gleis kommen. Sodann wollte er ihr sagen, als er über die Terrasse gegangen sei, habe er gedacht … hier aber spürte er ein Unbehagen, als bräche er gewaltsam in ihre Einsamkeit ein, in ihr Fernsein, ihr Abgerücktsein … Aber sie drängte ihn zum Weitersprechen. Was habe er ihr denn sagen wollen, fragte sie und meinte, es handle sich um die Fahrt zum Leuchtturm, und es tue ihm leid, daß er gesagt hatte: ›Hol dich der Teufel!‹ Aber nein. Es gefalle ihm nicht, wenn sie so traurig aussehe, sagte er. Ach, das sei nur Zerstreutheit, wehrte sie ab und errötete leicht. Sie fühlten sich beide befangen, als wüßten sie nicht recht, ob sie sich weiterwagen oder zurückweichen sollten. Sie habe James Märchen vorgelesen, sagte sie. Nein: sie konnten es einander nicht mitteilen; sie konnten es einander nicht sagen.

Sie hatten die Heckenlücke zwischen den beiden grellroten Eisenpfahlreihen erreicht, und da war wieder der Leuchtturm; aber sie erlaubte sich nicht einen Blick. Hätte sie gewußt, daß er sie beobachtete, dann hätte sie sich auch, dachte sie, nicht erlaubt, so nachdenklich dazusitzen. Sie haßte alles, was sie daran erinnerte, daß sie nachdenklich dagesessen hatte. So wandte sie den Kopf und blickte zur Stadt hinüber. Die Lichter kräuselten sich und zitterten, als wären sie vom Wind getriebene silberne Wassertropfen. Und alle Armut, alles Leid, dachte Mrs. Ramsay, lag darin beschlossen. Die Lichter der Stadt und des Hafens und der Schiffe waren wie ein gespenstisches schwimmendes Netz, das eine Stelle bezeichnete, wo etwas versunken war. Nun, wenn er ihre Gedanken nicht teilen konnte, sagte sich Mr. Ramsay, so wollte er seinen eigenen nachgehen. Er hatte Lust, weiterzudenken und sich mit der Geschichte von Hume zu beschäftigen, der in einem Abtritt steckengeblieben war; er hatte Lust zum Lachen. Aber zunächst einmal: Es war Unsinn, sich Andrews wegen Sorgen zu machen. Er selbst war in Andrews Alter oft einen ganzen Tag lang über Land gelaufen, mit nichts als einem Zwieback in der Tasche, und kein Mensch hatte sich um ihn gesorgt oder befürchtet, er könnte von einer Klippe stürzen. Laut sagte er, wenn das Wetter sich halte, würde er gern eine Tageswanderung machen. Er habe einigermaßen genug von Bankes und Carmichael. Er sehne sich nach einem bißchen Alleinsein. Ja, sagte sie. Es verdroß ihn, daß sie ihm nicht widersprach. Aber sie wußte, daß er es nie tun würde. Er war jetzt zu alt, um einen ganzen Tag lang mit einem Zwieback in der Tasche herumzulaufen. Um die Jungen machte sie sich Sorgen, nicht seinetwegen. Vor Jahren, ehe er geheiratet hatte, so dachte er und blickte über die Bucht, war er oft den ganzen Tag auf den Beinen gewesen. Seine Mahlzeit hatte aus Brot und Käse bestanden, die er in irgendeiner Schenke aß. Er hatte zehn Stunden hintereinander gearbeitet, eine alte Frau hatte ab und zu mal den Kopf hereingesteckt und nach dem Feuer gesehen. Das da drüben, das war die Landschaft, die er am meisten liebte: Sandhügel, die im Dunkel verdämmerten. Da konnte man den ganzen Tag wandern, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Da gab es kaum ein Haus – und meilenweit kein einziges Dorf. Man konnte sich mit den Dingen allein auseinandersetzen. Es gab kleine Sandbuchten, deren Strand seit Urzeiten kein Mensch betreten hatte. Die Seehunde richteten sich auf und sahen einen an. Zuweilen meinte er, in einem Häuschen da draußen, allein … aber er hielt seufzend inne. Er hatte kein Recht. Ein Vater von acht Kindern … hielt er sich vor. Und er wäre ein Rohling und ein Schuft gewesen, wenn er sich sein Leben auch nur einen Deut anders gewünscht hätte. Andrew würde einmal mehr leisten als er. Und Prue würde eine Schönheit sein, sagte ihre Mutter. Sie würden sich der großen Flut ein wenig entgegenstemmen. Das war doch, recht bedacht, eine recht ordentliche Leistung – seine acht Kinder. Sie bewiesen, daß er das arme kleine Weltall doch nicht in Grund und Boden verdammte – denn an einem Abend wie heute, dachte er und blickte ins verdämmernde Land hinaus, wirkte die kleine Insel doch rührend winzig, wie schon halb vom Meer verschlungen.

»Arme kleine Insel«, murmelte er und seufzte.

Sie hörte es. Er sagte oft die trübseligsten Dinge, aber sie hatte beobachtet, daß er unmittelbar darauf immer heiterer gestimmt schien als sonst. All dies Gerede war wohl nur Spiel, dachte sie; denn hätte sie auch nur die Hälfte von dem gesagt, was er so von sich gab, sie hätte sich schon längst eine Kugel in den Kopf gejagt.

Sie ärgerte sich über dies Gerede, und deshalb sagte sie ganz nüchtern, es sei ein wirklich wundervoller Abend. Was er denn eigentlich zu stöhnen habe, fragte sie halb lachend, halb vorwurfsvoll, denn sie ahnte, was er dachte – wenn er nicht geheiratet hätte, wären seine Bücher besser ausgefallen.

Er beklage sich gar nicht, sagte er. Sie wisse doch, daß er sich nicht beklage. Sie wisse doch, daß er nichts zu beklagen habe. Und er nahm ihre Hand, hob sie an die Lippen und küßte sie mit einer Inbrunst, die ihr die Tränen in die Augen trieb, und da ließ er sie rasch wieder los.

Sie kehrten der Aussicht den Rücken und gingen Arm in Arm den Gartenweg entlang, den grünsilberne lanzenähnliche Pflanzen säumten. Sein Arm war fast wie der eines jungen Mannes, dachte Mrs. Ramsay, mager und hart; und sie dachte mit Stolz, wie stark er noch war mit seinen mehr als sechzig Jahren, wie ungezähmt und hoffnungsfreudig, und wie merkwürdig es war, daß es seiner Überzeugung nach zwar Greuel aller Art gab, daß dies ihn aber nicht zu bedrücken, sondern heiter zu stimmen schien. War es nicht seltsam? dachte sie. Ihr kam es manchmal tatsächlich so vor, als wäre er aus anderem Stoff gemacht als andere Menschen; als wäre er von Geburt blind, taub und unempfindlich gegen die Dinge des Alltags; aber für das Außergewöhnliche hatte er das Auge des Adlers. Sein tiefdringendes Erfassen erstaunte sie zuweilen. Aber nahm er die Blumen wahr? Nein. Nahm er die Landschaft wahr? Nein. Sah er auch nur die Schönheit seiner eigenen Tochter, merkte er, ob er Pudding auf seinem Teller hatte oder Roastbeef? Er saß mit ihnen am Tisch wie einer, der träumte. Und immer mehr, fürchtete sie, verfiel er in die Gewohnheit, laut mit sich selbst zu reden oder Gedichte zu sprechen; denn zuweilen war es peinlich –

Edelste und Schönste, komm hinweg!

–, die arme Miss Giddings kriegte vor Schreck beinahe den Schlag, als er es ihr ins Gesicht brüllte. Aber schließlich, dachte Mrs. Ramsay und nahm sogleich seine Partei gegen alle in der Welt, die so albern wie Miss Giddings waren, schließlich, dachte sie und ließ ihn durch einen leichten Druck auf seinen Arm spüren, daß er ihr zu schnell hügelan ging und sie einen Augenblick stehenbleiben müßte, um zu sehen, ob das nicht etwa frische Maulwurfshaufen auf der Böschung waren, schließlich, dachte sie und beugte sich nieder, um besser sehen zu können, ein großer Geist wie der seine muß in jeder Beziehung anders sein als der unsere. All die großen Männer, denen sie bisher begegnet war, dachte sie (da mußte ein Kaninchen hereingekommen sein), waren so, und es war für junge Menschen gut (wenn auch die Luft in den Vorlesungssälen stickig war und ihr so den Atem benahm, daß sie es kaum ertragen konnte), ihn schon zu hören, ihn schon zu sehen. Wie soll man nun aber mit den Kaninchen fertigwerden, ohne sie zu schießen? fragte sie sich. Vielleicht war es ein Kaninchen; vielleicht war es ein Maulwurf. Irgendein Tier jedenfalls vernichtete ihre Nachtkerzen. Als sie aufblickte, sah sie über den dünnen Bäumen die erste Lichtschwingung des strahlenpulsenden Sterns, und sie wünschte, daß auch ihr Mann es sehen möchte; denn der Anblick weckte in ihr ein starkes Freudegefühl. Aber sie hielt die Worte zurück. Solche Dinge sah er nicht. Und wenn er sie sah, so würde er nichts weiter sagen als: Arme kleine Welt, mit einem seiner gewohnten Seufzer. In diesem Augenblick sagte er: »Sehr schön«, um ihr eine Freude zu machen, und tat, als bewunderte er die Blumen. Aber sie wußte sehr wohl, daß er sie in Wahrheit gar nicht bewunderte, ja sie nicht einmal wahrnahm. Er wollte ihr nur eine Freude machen … Oh, aber war das nicht Lily Briscoe, die da mit William Bankes herumschlenderte? Sie stellte ihre kurzsichtigen Augen auf die Rückansicht eines abziehenden Paares ein. Ja, es stimmte. Hieß das nicht, daß sie heiraten würden? Bestimmt hieß es das! Was für ein herrlicher Gedanke! Sie mußten heiraten!


 << zurück weiter >>