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16

Schön, sagte sich Mrs. Ramsay, Nancy war offenbar mitgegangen, und sie fragte sich, als sie eine Bürste weglegte, einen Kamm nahm und auf ein Klopfen an der Tür »Herein!« rief (Jasper und Rose traten ein), ob die Tatsache, daß Nancy mitgegangen war, die Wahrscheinlichkeit eines Unglücks erhöhte oder verminderte. Sie verminderte sie, war ihr Schluß; ein sehr vernunftwidriger Schluß, es sei denn, daß ein Massentod solchen Ausmaßes schließlich nicht wahrscheinlich war. Sie konnten nicht alle ertrunken sein. Und wieder sah sie sich einsam ihrem alten Widerpart, dem Leben, gegenüber.

Jasper und Rose meldeten, Mildred wolle wissen, ob sie mit dem Dinner noch warten solle.

»Nein, nicht einmal der Königin von England wegen!« sagte Mrs. Ramsay mit Nachdruck.

»Nicht einmal der Kaiserin von Mexiko wegen«, fügte sie hinzu und lachte Jasper an; denn er teilte das Laster seiner Mutter: auch er übertrieb.

Während Jasper die Botschaft ausrichte, sagte sie, könne Rose, wenn es ihr Spaß mache, den Schmuck aussuchen, den sie tragen solle. Wenn man fünfzehn Leute zum Dinner hat, kann man schließlich nicht unbegrenzt warten. Allmählich wurde sie ärgerlich, weil sie sich so verspäteten; es war rücksichtslos von ihnen, und ihre Besorgnis um sie vermehrte den Ärger, daß sie sich gerade den heutigen Abend aussuchen mußten, so spät zu kommen, wo doch das Dinner besonders nett sein sollte, weil William Bankes sich endlich hatte überreden lassen, mit ihnen zu essen. Obendrein gab es Mildreds Meisterstück: Bœuf en Daube. Alles hing davon ab, daß die Dinge genau im richtigen Augenblick aufgetragen wurden. Das Fleisch, das Lorbeerblatt, der Wein – alles zur rechten Zeit. Damit warten kam nicht in Frage. Aber sie mußten natürlich gerade heute weg sein, und ausgerechnet heute mußten sie sich verspäten, und dann mußte man das Essen hinausschicken und warm halten; das Bœuf en Daube würde nicht genießbar sein.

Jasper schlug eine Halskette aus Opalen vor; Rose eine goldene. Was paßte am besten zu ihrem schwarzen Kleid? Ja – was? fragte sich Mrs. Ramsay geistesabwesend und betrachtete im Spiegel Hals und Schultern (das Gesicht vermied sie). Dann, während die Kinder in ihren Sachen kramten, betrachtete sie durch das Fenster ein Bild, das ihr stets Vergnügen machte – die Krähen versuchten sich darüber schlüssig zu werden, auf welchen Baum sie sich setzen sollten. Ständig änderten sie offenbar im letzten Augenblick ihre Meinung und hoben sich wieder in die Luft; das hatte, dachte Mrs. Ramsay, seinen Grund darin, daß die alte Krähe, der Krähenvater, sie nannte ihn den alten Joseph, ein Vogel von höchst kritteliger und schwieriger Sinnesart war. Er war ein unansehnlicher Vogelgreis; die Hälfte seiner Schwingenfedern fehlte. Sie hatte einmal einen abgerissenen alten Herrn mit Zylinder gesehen, der vor einer Kneipe Horn blies: so sah der alte Joseph aus.

»Seht doch«, sagte sie lachend. Sie rauften wahrhaftig. Joseph und Mary rauften sich. Jedenfalls flog der ganze Schwarm wieder auf, die schwarzen Schwingen verdrängten die Luft und schnitten mit vollendet geformten Krummsäbeln hinein. Die Bewegung der Schwingen, Schlag! Schlag! Schlag! – nie fand sie einen Ausdruck, mit dem sie zufrieden gewesen wäre – gehörte zum Schönsten, was sie kannte. »Sieh doch«, sagte sie zu Rose und hoffte, daß Rose es deutlicher sehen könnte als sie. Denn Kinder gaben den eigenen Wahrnehmungen oft einen kleinen Stoß vorwärts.

Aber was sollte sie tragen? Die Kinder hatten alle Fächer ihres Schmuckkastens geöffnet. Die goldene Halskette, italienische Arbeit, oder lieber die aus Opalen, die Onkel James ihr aus Indien mitgebracht hatte? Oder sollte sie ihre Amethyste nehmen?

»Wählt nur, meine Lieben, wählt nur!« sagte sie und hoffte, daß sie sich beeilen würden.

Dennoch ließ sie ihnen Zeit zu wählen; sie ließ vor allem Rose bald dieses, bald jenes Stück in die Hand nehmen und es an das schwarze Kleid halten; denn sie wußte, diese kleine feierliche Schmuckauswahl, die sich täglich wiederholte, war für Rose eine besondere Freude. Sie hatte ihren eigenen geheimen Grund dafür, der Wahl des Schmuckes, den ihre Mutter tragen sollte, solche Wichtigkeit beizumessen. Was mochte der Grund sein, fragte sich Mrs. Ramsay und hielt still, damit sie die Kette, die sie gewählt hatte, schließen konnte, wobei ihr aus ihrer eigenen Vergangenheit eine Ahnung auftauchte von einem tiefen, verborgenen, einem ganz und gar stummen Gefühl, das man in Roses Alter für seine Mutter hegte. Es stimmte traurig, dachte Mrs. Ramsay – wie alle Gefühle, die einem entgegengebracht werden. Denn die Gegengabe, die geboten wurde, konnte sich damit nicht messen; und was Rose empfand, stand in keinem Verhältnis zu dem, was sie gegenwärtig war. Und Rose würde heranwachsen; sie würde, das war zu vermuten, leiden müssen mit diesen tiefen Gefühlen; und jetzt sei sie fertig, sagte sie, und sie würden hinuntergehen, und Jasper, weil er der Herr sei, müsse ihr den Arm bieten, und Rose, weil sie die Dame sei, müsse ihr Taschentuch tragen (sie gab ihr das Taschentuch), und was noch? O ja, falls es kühl würde: einen Schal. Sie solle ihr einen Schal suchen, sagte sie, denn das würde eine Freude sein für Rose, die zum Leiden bestimmt war. »Da«, sagte sie und blieb auf dem Treppenabsatz am Fenster stehen, »da sind sie.« Joseph hatte sich in einem anderen Baumwipfel niedergelassen. »Glaubst du, es ist ihnen gleichgültig«, sagte sie zu Jasper, »wenn ihnen die Flügel gebrochen werden?« Warum wolle er auf den armen alten Joseph und Mary schießen? Er scharrte ein bißchen mit dem Fuß auf der Treppenstufe und kam sich gescholten vor, aber nicht ernstlich, denn sie verstand ja nicht, welchen Spaß es machte, auf Vögel zu schießen; daß die Vögel nichts fühlten; als seine Mutter lebte sie eben in einem anderen Teil der Welt; aber er hörte ihre Geschichten von Joseph und Mary doch gern. Er mußte darüber lachen. Woher wisse sie aber, daß dies Mary und Joseph seien? Glaube sie, es seien jeden Abend dieselben Vögel auf demselben Baum? fragte er. Hier aber machte sie es wie alle erwachsenen Leute: sie achtete plötzlich nicht mehr im geringsten auf ihn. Sie lauschte auf das Getrappel in der Halle.

»Sie sind da!« rief sie; und mit einem Male war ihr Ärger viel größer als ihre Erleichterung. Dann dachte sie, ob es wohl soweit wäre? Sie würde hinuntergehen, und sie würden es ihr erzählen – aber nein, sie konnten ihr nichts erzählen, wenn die anderen dabei waren. Also mußte sie hinuntergehen, zu Tisch bitten und warten. Wie eine Königin, die ihre Untertanen in der Halle versammelt findet, auf sie hinabblickt und im Herniedersteigen stumm ihre Tribute empfängt und ihre Ergebenheit und ihre demütige Verehrung hinnimmt (Paul verzog keine Miene, sondern blickte starr vor sich hin, als sie vorbeiging), so schritt sie hinunter und durch die Halle und neigte ganz leicht das Haupt, als nähme sie entgegen, was sich in Worten nicht sagen ließ: die Huldigung vor ihrer Schönheit.

Aber sie blieb stehen. Da war ein Brandgeruch. Hatten sie etwa das Bœuf en Daube anbrennen lassen? dachte sie. Das verhüte der Himmel! In diesem Augenblick verkündete das mächtige Dröhnen des Gongs in der Halle feierlich und gebieterisch, daß alle, die in Dachkammern, Schlafzimmern, irgendwo für sich saßen, lasen, schrieben, ein letztes Mal übers Haar fuhren oder ihre Kleidung richteten, all dies lassen mußten, die Kleinigkeiten auf ihren Wasch- und Toilettentischen, die Romane auf den Nachttischen und die verschwiegenen Tagebücher, um sich im Speisezimmer zum Dinner zu versammeln.


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