Ernst v. Wolzogen
Der Kraft-Mayr
Ernst v. Wolzogen

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Siebzehntes Kapitel.

Der schwerste Schlag.

Florian war bei seinen alten Eltern in Bayreuth eingekehrt, um in dem stillen, friedlichen Heim und der bewundernden Liebe der einfachen alten Leutchen das Gleichgewicht seiner Seele wiederzufinden. Er hatte ihnen gesagt, daß seine Nerven durch Ueberarbeitung angegriffen seien und daß er einer kurzen geistigen Ausspannung bedürfe. Daß Liszt ihn im Unmut über seine moralische Verworfenheit habe gehen heißen, das hätte er gerade seinen Eltern am allerletzten eingestehen mögen. Seiner Mutter fiel alsbald sein verschlossenes, gedrücktes Wesen auf, und sie ahnte, daß ein Kummer, der auf seinem Gemüte laste, ihm schlimmer zusetze als das angebliche Nervenleiden. Den Vater dagegen beunruhigte am meisten der Umstand, daß Florian in den zwei Monaten, die er in Weimar zugebracht, schon fast ganz mit seinen Berliner Ersparnissen fertig geworden war und gar keine bestimmten Aussichten für die nächste Zukunft hatte. Immer wieder drang er in den Sohn, sich doch ohne Zeitverlust nach einer einträglichen Stellung umzusehen, und schalt ihn einen leichtsinnigen Thoren, weil er sich aus seinen fast glänzend zu nennenden Berliner Verhältnissen habe herauslocken lassen, ohne auch nur den Schimmer einer sicheren Hoffnung dafür einzutauschen. Bald genug wurde Florian der ewigen Klagen seines alten Herrn überdrüssig und dehnte seine Spaziergänge immer weiter aus, um eine Entschuldigung zu haben, wenn er sich nach seiner Heimkehr auf seinem Zimmer einschloß und, auf seinem Bett ermüdet ausgestreckt, stundenlang sann und träumte. Im übrigen füllte er seine Zeit damit aus, daß er sich im Hause mit allerlei nötigen und unnötigen Arbeiten zu thun machte, die in das Fach der Schreinerei, Schlosserei und Zimmermalerei fielen. Er hatte eine wahre Leidenschaft für alle Handwerkerei, und wenn die Eltern sich nicht gar so sehr über das ewige Gepoche, den Leim- und Firnisgeruch und die überflüssigen Ausgaben beschwert hätten, so würde Florian die ganze Wohnung neu tapeziert und ausgemalt und alle Möbel neu lackiert und poliert haben.

Da kam er eines schönen Tages mit freudestrahlendem Gesicht zum Essen herein. Bei seiner Heimkehr von einem Spaziergange hatte er ein Schreiben Franz Liszts vorgefunden, in welchem ihn der Meister um Entschuldigung dafür bat, daß er sich durch jene anonymen Anschuldigungen und Florians eigenes seltsames Verhalten zu einer vorschnellen Verurteilung habe hinreißen lassen. Durch Ilonka Badacs habe er den wahren Sachverhalt erfahren und glaube nun auch die Motive seines Schweigens zu verstehen. Er hieß ihn ferner guten Mutes sein und seine Schuld nicht tragisch nehmen; in ein paar Jahren werde er wahrscheinlich schon herzlich darüber lachen können. Trotz alledem wäre es aber doch gut, wenn er nicht sogleich nach Weimar zurückkehrte, sondern dem Klatsch Zeit ließe, vergessen zu werden. Andernfalls würde die Erregung unter dem »Schwarm« sich schwerlich so leicht besänftigen lassen, und es würde heißen, der Papa Liszt sei alt und schwach, er lasse sich von jedem »Kraft-Mayr« tyrannisieren – von dem sei nichts mehr zu erwarten. Wenn Florian im Winter nach Rom oder im nächsten Frühjahr nach Weimar kommen wolle, so sollte er im Kreise der Getreuen hochwillkommen sein. – Dem Schreiben lag eine in den wärmsten, schmeichelhaftesten Ausdrücken abgefaßte Empfehlung bei, die ihm als Konzertvirtuosen die Wege öffnen sollte.

Florian pries seinen guten Einfall, seiner Freundin Ilonka von Bayreuth aus geschrieben zu haben, denn sonst hätte ja der Meister nicht einmal seine Adresse erfahren. Es war auch ein wahres Glück, daß die gescheite, welterfahrene und beredte Ilonka seine Sache geführt hatte; denn er selbst steckte noch allzutief drin in dem Wirrnis widerstreitender Gefühle, um sein eigener Anwalt sein zu können. Die guten Eltern waren nicht wenig erstaunt über das Wunder, das Liszts Brief wirkte. Mit einem Schlage war die gedrückte Stimmung verschwunden, und ihr Florian war wieder der heitere, offene, gute Sohn von früher. Die Handwerkereien im Hause stellte er ein und warf sich dafür mit einem unheimlichen Eifer auf das Klavierspiel, um sich ein sicheres Repertoire für Konzerte zu schaffen. Auch wandte er sich sogleich an eine große Berliner Agentur, die ihm noch für den Sommer eine Konzerttourné durch die größten deutschen Bäder vermitteln sollte. Nach acht Tagen waren seine Finger, welche die grobe Arbeit schon ganz steif gemacht hatte, wieder so gelenkig, daß er sich einigermaßen auf sie verlassen konnte, und da wagte er es, in Villa Wahnfried, die er bisher noch nie betreten hatte, das Empfehlungsschreiben abzugeben, das ihm Liszt inzwischen auf seine Bitte für seinen Schwiegersohn insbesondere ausgestellt hatte. An einem der nächsten Abende wurde er zum Thee eingeladen und nach dem Abendessen zum Spielen aufgefordert. Wagner wählte aus den Noten, die ihm Florian vorlegte, einige Lisztsche Kompositionen, die fast nie öffentlich gespielt werden und ein ganz besonders feines Verständnis für die poetisch-musikalische Eigenart ihres Schöpfers verlangen. Da Florian diese Stücke besonders liebte und unter Liszts eigener Anleitung studiert hatte, so wußte er sie auch in wirklich vollendeter Weise vorzutragen. Wagner und seine Frau waren des Lobes voll für ihn, und einige hervorragende Bayreuther Persönlichkeiten, die gleichfalls zu den Zuhörern zählten, waren noch besonders stolz darauf, daß ein Bayreuther eine so hohe Stufe der Künstlerschaft erreicht hatte. Natürlich verbreitete sich der Ruf von Florians Erfolg alsbald in der kleinen Stadt. Alle seine Bekannten grüßten ihn fortan mit einer gewissen Ehrerbietung – über Nacht war er ein »großes Tier« geworden. – Er wurde nun auch öfters nach Wahnfried eingeladen und genoß manche Stunde voll reicher Anregung, ohne daß freilich die herzliche Aufnahme, die Meister Wagner ihm zu teil werden ließ, weitere praktische Folgen gehabt hatte, weil er zur Zeit bereits einen andern jungen Musiker bei sich beschäftigte und Florian daher keine Stellung zu bieten vermochte. Nur eine warme Empfehlung, schwarz auf weiß, trug er davon.

Inzwischen hatte ihm die Berliner Agentur eine Reihe von Engagements für Konzerte in Wiesbaden, Homburg, Ems, Kissingen und andern größeren und kleineren Badeorten verschafft, und er begab sich voll froher Hoffnungen auf seine erste Kunstreise. Mit dem Beifall und dem Lobe der Kritik, das er überall erntete, konnte er wohl zufrieden sein, aber im großen und ganzen ward er doch ein wenig enttäuscht. Sein persönliches Auftreten wirkte eben nicht so hinreißend, daß es dem unglücklichen Namen Mayr zu einer besonderen Anziehungskraft verholfen hätte. Sein Aeußeres ließ die Damen kalt, und er verstand es gar nicht, sich durch absonderliche Mätzchen in Scene zu setzen und zu seinem eigenen Ruhme das Tamtam der Reklame zu schlagen. So kam es, daß er selten vor vollen Häusern spielte und nur mäßig gute Geschäfte machte. Als er zu Anfang des Winters nach Berlin zurückkehrte, betrug der ganze Ueberschuß, den er in fast fünf Monaten erzielt hatte, nur wenig über zweitausend Mark. Florian war klug genug, sich zu sagen, daß für ihn als reisender Virtuose kaum je eine glänzende Zukunft zu erwarten sei, und daß er darauf ausgehen müsse, sich vielmehr als Lehrer und Dirigent eine feste Stellung zu sichern. – Da faßte er einen kühnen Plan: er wollte Liszts Oratorium »Christus« in Berlin zur Aufführung bringen.

Bald genug sollte er erfahren, welch eine schwere Aufgabe er sich damit gestellt hatte. Die große Agentur, welche ihm seine Konzerte vermittelt hatte, war nach deren geringen Ergebnissen durchaus nicht zu bewegen, die Sache in die Hand zu nehmen. Ebenso abgeneigt zeigten sich die großen musikalischen Körperschaften, die Akademieen, Vereine und so weiter. Ein Mäcen, der etwa die Kosten vorgeschossen hätte, war nicht aufzutreiben, und die Leiter der hervorragenden Orchester und Gesangvereine gaben ihm deutlich genug zu verstehen, daß, wenn in Berlin überhaupt die Aufführung eines großen Lisztschen Chorwerks, wofür das Publikum weder Stimmung noch Verständnis habe, zu ermöglichen sei, dies höchstens geschehen könnte unter der Aegide eines der berühmten und bewährten Dirigenten. Aber: »Christus von Liszt unter Leitung von Florian Mayr« – darauf hin käme keine Katz'! – Und dennoch ließ sich Florian nicht abschrecken. Als alle seine Bemühungen fehlgeschlagen waren, entschloß er sich, die Aufführung auf eigene Kosten zu wagen.

Für Geld ist alles feil, auch das Beste in der Kunst. Aber das Beste ist teuer – das merkte Florian Mayr gleich bei seinen allerersten Versuchen, einige Sänger von Ruf für sein Unternehmen zu gewinnen. Sie forderten so viel, daß ihm für Chor und Orchester kaum noch etwas übrig geblieben wäre. Nun versuchte er sein Glück bei den vielversprechenden Talenten, die noch keinen Namen hatten. Einige von denen, die sich hart ums tägliche Brot plagen mußten, sagten mit Freuden zu und stellten auch bescheidene Forderungen – diejenigen aber, die zu leben hatten, waren durch die Aussicht auf den kleinen Verdienst nicht zu verlocken, ihre Kunst in den Dienst einer Sache zu stellen, bei welcher ihr Ehrgeiz schwerlich seine Rechnung fand. Einige von diesen Herrschaften waren ehrlich genug, dies Florian klarzumachen: Irgend ein Herr Mayr wollte ein entsetzlich langes und schwieriges Werk von Liszt aufführen! Was war dabei für Ruhm zu gewinnen? Liszt hatte in dem großen Berlin überhaupt nur eine sehr kleine Gemeinde, und seine Kirchenmusik war als erzkatholisch noch weit weniger dem Berliner Geschmack entsprechend als etwa seine symphonischen Dichtungen, die auch schon fast nie auf den Programmen der vornehmen Konzerte erschienen. Die Lisztverehrung war nur in dem Kreise der jüngstdeutschen Musiker und bei einem kleinen Teil der hohen Aristokratie vorhanden. Wenn er wenigstens diese Clique hinter sich gehabt, wenn er hätte sagen können: Fürst A nimmt fünfzig, die Prinzessin B zwanzig, der Herzog von C ein Dutzend Karten zu meinem Konzerte und so weiter. Ob er denn gar nicht daran gedacht habe, sich wenigstens der Gräfin Tockenburg zu versichern, die als Freundin Wagners und begeisterte Vorkämpferin der neudeutschen Musik die natürliche Patronin seines Unternehmens wäre? Die Gräfin Tockenburg nahm als Gattin eines Botschafters eine hervorragende Stellung bei Hofe ein und hätte gewiß einige königliche Hoheiten veranlassen können, sein Konzert zu besuchen. In solchem Falle hätten sich ihm eine ganze Reihe tüchtiger Sänger gern und sogar gratis zur Verfügung gestellt; denn dann konnte sein Konzert ihnen Einladungen zu den musikalischen Veranstaltungen jener vornehmen Häuser eintragen, welche als Prägestätte neuer Namen für Anfänger von großer Bedeutung waren. Aber ohne solchen starken Rückhalt war er nur ein von Liszt und Wagner warm empfohlener Pianist – und das wollte gar wenig bedeuten; denn die hervorragenden Pianisten zählten heutzutage nach Dutzenden, und die Gutmütigkeit Liszts in Ausstellung von Zeugnissen sei schon nahezu berüchtigt. Selbst des Altmeisters Anwesenheit würde der Aufführung schwerlich eine besondere Anziehungskraft verleihen, denn Liszt sei bei der heutigen Generation, die ihn als Klavierspieler nicht mehr gehört habe, kaum noch populär. Ja, wenn der Meister selbst sich ans Klavier setzen und ein paar Virtuosenstücke zum besten geben wollte, dann könnten die höchsten Eintrittspreise gefordert und trotzdem auf ein volles Haus gerechnet werden.

Florian würgte diese Wahrheiten ingrimmig hinunter. Die Leute, die ihm das zu bedenken gaben, kannten die Berliner Verhältnisse jedenfalls besser als er. Aber auch seine eigenen geringen Erfahrungen genügten vollkommen, ihn einsehen zu lassen, daß sie recht hatten. – Die Gräfin Tockenburg! Ob er die nicht doch vielleicht als Patronin gewinnen konnte, wenn er jetzt, mit den Empfehlungen der beiden Großmeister ausgerüstet, bei ihr anklopfte? Aber sie hatte ihn mit Schimpf und Schande aus ihrer Gesellschaft davongejagt, ja sogar durch einen Offizier aus dem Saal geleiten lassen! Also ein Hinauswurf vollkommenster Art. Er hätte doch keinen Funken von Stolz haben müssen, wenn er nach einer solchen Demütigung der Gräfin wieder als Bittsteller unter die Augen getreten wäre. Und dennoch entschloß er sich nach langem qualvollen Ringen mit sich selbst, der guten Sache das Opfer zu bringen. An einem abscheulichen Regentage gegen Ende Oktober spendierte er sich eine Droschke erster Klasse, um seinen Anzug zu schonen und einen guten Eindruck zu machen, und fuhr bei dem Palais unter den Linden vor. Er schickte eine Karte hinauf, die er vorsorglicherweise mit dem Vermerk: »empfohlen von Liszt und Wagner« versehen hatte. Nach geraumer Weile erst kehrte der Diener zurück mit dem Bescheide, daß die Frau Gräfin bedauere, zu beschäftigt zu sein, um ihn empfangen zu können; aber eine Zeit anzugeben, wann er etwa wiederkommen sollte, unterließ sie. Es war also ganz klar, daß sie sich des peinlichen Vorfalls vom vergangenen Jahre erinnerte und nichts von ihm wissen wollte.

Dieser elende Prczewalsky hatte ohne sonderliche Mühe seine jämmerlichen Machwerke in der Singakademie zur Aufführung bringen können, weil er seine vornehmen Bekanntschaften und den Burmesterschen Geldbeutel hinter sich hatte, und für das grandiose Werk eines Meisters allerersten Ranges sollten in der Millionenstadt weder Publikum noch Künstler zu finden sein? Das konnte, das durfte nicht sein! Florians ganzer Trotz, sein ganzer kraftvoller jugendlicher Idealismus bäumte sich dagegen auf. Er wollte die Vorhersagung der Kleingläubigen zu Schanden machen, er wollte diesen Laulingen beweisen, was der starke Wille einer Persönlichkeit vermag. Er wandte sich an einen Agenten geringeren Ranges, der ihm gegen hohe Prozente die nötigen Solisten und einen großen Teil des Chors verschaffte. Das Geld dafür mußte er dem Manne bar auf den Tisch legen. Einen einzigen gemischten Chorverein gelang es ihm durch persönliche Beziehung zur unentgeltlichen Mitwirkung zu gewinnen. Da das erste Orchester Berlins zu teuer war, nahm er mit einem zweiten Ranges vorlieb, welches freilich durch die vielen Proben, die er sich ausbedingen mußte, auch noch teuer genug zu stehen kam. Schießlich gelang es ihm auch, nachdem er an vielen Thüren vergeblich angeklopft, eine Kirche im Südwesten der Stadt zu finden, deren Vorstand es wagte, das protestantische Gotteshaus dem katholischen Meister zur Verfügung zu stellen.

Nun glaubte er alle Hindernisse glücklich überwunden. Zwar überschritt der Kostenanschlag seinen Etat um ein Bedeutendes, aber er war sicher, daß die Eintrittsgelder das Defizit reichlich decken würden. Er vertraute den liebenswürdigen Redensarten der Zeitungsredakteure, welche seinem Unternehmen ihre Unterstützung zusagten, und war überglücklich, als er seine erste Reklamenotiz in einer großen Anzahl von Blättern abgedruckt fand, allerdings mit Auslassung vieler Ueberschwänglichkeiten, die zum Preise des großen Werkes seiner Feder entflossen waren. Nun ging er mit Feuereifer an die Arbeit. In seinem großen Zimmer am Luisenplatz bei der Witwe Stoltenhagen, das er glücklicherweise bei seiner Rückkehr nach Berlin gerade unbesetzt gefunden hatte, hielt er jeden Vormittag Soloproben ab. Aber schon bei dieser Gelegenheit mußte er neue traurige Erfahrungen machen. Einzelne von den Sängern erwiesen sich als so unmusikalisch, daß ihnen die schwierigen Partieen nicht beizubringen waren, und mußten durch andre ersetzt werden. Einige, die sich schon große Künstler dünkten, wurden ungeduldig und murrten über die vielen Proben und über die Strenge, mit der Florian dabei verfuhr. Der Aerger über diese anmaßenden Menschen, die so ohne jede Begeisterung an ihre Aufgaben herantraten und obendrein wie die rohen Eier behandelt sein wollten, brachte Florian schier zur Verzweiflung. Nur zwei von den Sängerinnen waren ihm dankbar für die unendliche Mühe, die er sich mit ihnen gab, und richteten durch ihren hingebungsvollen Eifer seinen Mut wieder auf. Auch an dem Chor erlebte er bescheidene Freuden. Es wurde in den Abendstunden in der Aula einer Schule geprobt. Da gab's viel Seufzen und Stöhnen über die Schwierigkeit des Werks und über die unendliche Dauer der Uebungsabende, auch blieben immer mehr Mitglieder mit oder ohne triftige Entschuldigungen aus. Aber im allgemeinen war doch ein guter Wille zu spüren, und das gewaltige Werk gewann von Abend zu Abend immer festere Gestalt. Mit starkem Herzklopfen betrat Florian das Dirigentenpult bei der ersten Orchesterprobe. Er war mit der Partitur aufs innigste vertraut und hatte daheim, den Taktstock in der Hand, das Werk so oft durchdirigiert, daß er jeden schwierigen Einsatz auswendig wußte; aber er hatte noch nie einen großen Instrumentalkörper geleitet und wußte wohl, mit wie boshafter Schadenfreude alte Orchestermusiker jede Unsicherheit eines jungen Dirigenten sofort bemerken und durch Unaufmerksamkeit oder gar absichtliches Falschspielen ihren Mutwillen an einem solchen auslassen. Doch die erste Probe war auch ein erster Sieg Florians. Die Musiker, die anfangs untereinander geschwatzt und gelacht und allerlei Unfug mit überflüssigen Fragen getrieben hatten, merkten bald, daß sie es mit einem Manne zu thun hatten, der seine Sache gründlich verstand und mit künstlerischem Ernste anpackte. Am Schlusse der Probe brach das ganze Orchester in Beifall aus, und ein alter Fagottist, der schon im Jahre achtundvierzig unter Wagner in Dresden geblasen hatte, drückte ihm die Hand und gratulierte ihm mit einfachen, warmen Worten, die Florian nach all den ausgestandenen Enttäuschungen und Widerwärtigkeiten mit herzlicher Freude und neuer Zuversicht erfüllten.

Es fiel Florian auf, daß der größte Teil der Zeitungen seine letzte Reklamenotiz nicht gebracht hatte. Das war Prczewalskys Werk gewesen, der alsbald nach dem ersten Bekanntwerden der beabsichtigten Christusaufführung an fast sämtliche Redaktionen direkt oder durch Mittelspersonen die Nachricht gelangen ließ, daß dieser Florian Mayr ein Schwindler schlimmster Sorte sei, der wegen arger Schandthaten von Liszt aus seinem Kreise entfernt worden sei, überdies noch nie ein Orchester geleitet habe und so jedenfalls der denkbar ungeeignetste Vorkämpfer des Lisztschen Genius für die Reichshauptstadt sei. Daraufhin hatten die meisten Redakteure, ohne weitere Erkundigungen einzuziehen, Florians nächsten Waschzettel einfach in den Papierkorb geworfen.

Das war acht Tage vor der Aufführung, und Florian befand sich vor Aufregung und Ueberanstrengung bereits in einem so fieberhaften Zustande, daß er nicht mehr fähig war, der Ursache jener plötzlichen Feindseligkeit der Presse nachzuforschen. Seine nächste Notiz sollte lauten: »Abbé Dr. Franz Liszt ist in Berlin eingetroffen, um der Aufführung seines Oratoriums ›Christus‹, die unter der Leitung seines Schülers Florian Mayr am Sonnabend abend sieben Uhr in der X-Kirche stattfindet, persönlich beizuwohnen.« Das mußten sie aufnehmen, und damit war alles gut und nach Florians Meinung auch eine glänzende Einnahme gesichert. Bis jetzt war allerdings noch kein einziges Billet verkauft worden, und das einzige Publikum, auf das sicher gezählt werden durfte, das waren die Angehörigen der Mitwirkenden, von denen jeder und jede sich mindestens zwei Freikarten ausgebeten hatte. Florians Barmittel waren fast gänzlich erschöpft, denn was er nicht selbst an Honoraren vorausgezahlt hatte, das hatte er als Garantiesumme an den Agenten abführen müssen. Er hatte nicht so viel übrigbehalten, um während der anstrengenden Wochen der Vorbereitung sich kräftig ernähren zu können. Er aß zu Mittag in elenden Kutscherkneipen oder in der Volksküche und begnügte sich des Abends zumeist mit Brot und Käse. Aber bei all diesen Entbehrungen und der Ueberanstrengung seiner Nerven hielt ihn doch immer noch die Begeisterung für sein kühnes Werk aufrecht. Seine Siegeszuversicht wuchs, je näher der Tag der Ausführung heranrückte, und der freudige Dank seines angebeteten Meisters für die großartige Ueberraschung, die er ihm zugedacht hatte, sollte sein schönster Lohn sein.

Erst am Abend nach der ersten Gesamtprobe teilte er Liszt das bevorstehende große Ereignis mit und lud ihn ein, der Aufführung beizuwohnen. Er wußte, daß der Meister heuer bis Ende Oktober in Weimar zu bleiben gedachte, und war fest überzeugt, daß er freudig zusagen und seine Romreise um einige Tage verschieben würde. Aber erst fünf Tage nach Abgang seines Schreibens traf die Antwort ein. Das Couvert trug eine italienische Freimarke. Mit zitternden Fingern riß es Florian auf. Seine Augen flogen über die Zeilen hin. Da plötzlich schrie er auf – es war ein unterdrückter Fluch, wie man ihn bei einem heftigen Schmerz auszustoßen pflegt – noch einmal stierte er in das Schreiben hinein, dann griff er, nach einer Stütze suchend, mit beiden ausgespreizten Händen in die Luft – und brach ohnmächtig zusammen.

Die Witwe Stoltenhagen, die just im Nebenzimmer beschäftigt war, hörte ein Gepolter, wie wenn ein Stuhl heftig zu Boden geschleudert würde, und darauf einen dumpfen Fall. Erschrocken lief sie nach dem Zimmer ihres Mietsherrn hinüber und trat, ohne anzupochen, hinein. Ihr erster Gedanke war, daß ihr rabiater Herr Mayr vermutlich einem der Sänger oder einer der Sängerinnen, die bei ihm studierten, einen Stuhl an den Kopf geworfen habe – und das wollte sie sich denn doch verbitten, daß man mit ihren Möbeln so umginge! Als sie aber den Herrn Mayr selbst lang ausgestreckt wie leblos am Boden liegen fand, einen zerknitterten Brief noch zwischen den Fingern der Linken haltend, da schlug sie die Hände zusammen und schrie auf: »Herrjeses, der Schlach hat ihn jerührt!«

Bevor sie jedoch Hilfe herbeiholte, löste sie vorsichtig das Schreiben aus den Fingern des Ohnmächtigen, trat damit ans Fenster und versuchte es voll fieberhafter Neugierde zu lesen.

Es lautete also:

»Rom, Hotel Alibert, via Babuino,
den 3. November 1880.

       

»Mein lieber junger Freund!

›Nein‹ zu sagen, fällt meinem Munde schwer. Ich kann unmöglich zugeben, daß mein Seiner Heiligkeit dem Papste gewidmeter ›Christus‹ seine erste deutsche Aufführung gerade in Berlin, dem Hauptquartier des ›Kulturkampfes‹ gegen unsre Kirche, und noch dazu in einem protestantischen Gotteshause, erlebe. Du hast es gut mit mir gemeint, mein lieber Sankt Florian, und ich weiß, daß ich Dir einen großen Schmerz zufüge – aber ich kann nicht anders. Mag Dir selbst mein ›konfessionelles Bedenken‹ nichtig erscheinen, es blieben noch genug Gründe übrig, um mir eine ›Christus‹-Aufführung in Berlin unsympathisch zu machen. Wie sollte es anders sein, den kritischen Negationen gegenüber, und warum sollte ich es nicht vorziehen, friedsam allein auszuharren? Heutzutage macht der Künstler seine Rechnung ohne den Wirt, wenn er dem Publikum ehrlich vertraut. Man hört und urteilt nur durch Zeitungslesen. Davon will ich profitieren, insofern mich Wien, Pest, Leipzig, Berlin, Paris, London &c. und deren angesehenste und befolgte Blätter, die meine Kompositionen als nichtig und zuwider erklären, jedweder Wahl entheben. Wozu Aufführungen für Leute, die nur Zeitungen lesen wollen? – Warum hast Du mir auch nicht früher über Deinen Plan geschrieben? Nach Berlin hätte ich übrigens beim besten Willen nicht kommen können. Ich bin heuer schon ungewöhnlich lange in Weimar geblieben und konnte die Abreise nach Rom unmöglich länger hinausschieben.

Hab' innigen Dank für Deine gute Absicht – ich bin überzeugt, Du hättest etwas Tüchtiges zu stande gebracht, mein tapferer Sankt Florian – und versuche nicht zu zürnen

Deinem

aufrichtigen Freunde                            

Franz Liszt.«

Der Frau Stoltenhagen gelang es freilich nicht, die dünnen, flüchtigen, ziemlich großen Züge dieser Handschrift so geschwind zu entziffern, aber sie hatte schon aus den ersten Zeilen ersehen, daß aus der Ausführung, für die der Herr Mayr nun schon so lange arbeitete, nichts werden sollte – und das genügte vorläufig ihrer Neugierde. Sie rief nun ihre Nichte aus Pommern herbei – die immer noch bei ihr wohnte, nachdem auch mit dem Sommerherrn die Sache sich nicht gemacht hatte – und schleppte mit deren Hilfe den Ohnmächtigen auf sein Bett. Dann erleichterte sie ihn so viel als möglich, indem sie ihm die Stiefel und die Oberkleider auszog und den gesteiften Kragen abknöpfte. Alsdann machte sie sich selbst auf, um einen Arzt zu holen, während sie dem Mädchen einschärfte, dem Kranken kalte Umschläge um den Kopf zu machen und sich nicht von seinem Lager zu rühren; denn man könnte gar nicht wissen, wozu es gut sei, wenn er beim Erwachen ihrer zuerst als seines guten Engels ansichtig würde. Es sei schon häufig vorgekommen, daß feine Herren ihre Pflegerinnen geheiratet hätten. –

Florian erwachte aus seiner Ohnmacht, bevor noch der Arzt kam. Er blickte wild um sich und erkannte alsbald die pommerische Nichte, die just damit beschäftigt war, auch ihrerseits das verhängnisvolle Schreiben zu studieren.

»Obst' den Brief hergibst, Gans, dumme!« waren seine ersten Worte, und geflötet klangen sie auch nicht eben.

Das Mädchen quietschte erschrocken auf und näherte sich ängstlich mit dem Papier in der ausgestreckten Rechten dem Bette. Er riß es ihr aus der Hand, starrte hinein – aber die Schriftzüge schwammen undeutlich vor seinen Augen, und stöhnend sank er in die Kissen zurück.

Das Mädchen wartete eine ganze Weile, bevor es sich leise zu fragen getraute, ob er nicht einen neuen Umschlag wünsche.

»Umschlag – was soll das heißen?« lallte Florian mit schwerer Zunge. Dann raffte er sich plötzlich wieder zu halbsitzender Stellung auf und schleuderte das nasse Handtuch, das ihm vom Kopfe geglitten war, wütend in die Stube hinein. »Da habt's euern Umschlag!« schrie er heiser. »Wenn ich euch nur net umschlag', G'sellschaft, miserable! Herrgott, grad z'sammaschlagen möcht' i alles – alles! – Was stehen S' denn a so da, Mädel, und schauen? Da, nehmen S' nur meine Uhr, meinen Rock, meine Hosen, mein Hemd meinetswegen und tragen Sie's ins Leihhaus – sonst kriegen S' von mir keinen Pfennig Geld mehr zu sehen!«

»Ach, Herr Mayr, so schlimm wird dat ja all' nich werden!« versuchte die brave Nichte zu trösten. »Wenn Sie man erst wieder gesund sind!«

»Was, bin ich denn vielleicht krank?« tobte Florian. »Ich kann net krank sein, hab' gar kein' Zeit dazu – Unsinn! Schädel halt aus! Hahaha!« Er schlug eine höhnische Lache auf und bearbeitete mit beiden Fäusten seine Stirn. Dann sank er ermattet wieder zurück. Aber nur wenige Minuten ruhte er schweratmend aus, dann warf er plötzlich die Decke zurück und sprang mit beiden Füßen zugleich aus dem Bette. Das Mädchen wollte erschrocken davonlaufen, aber er bannte sie mit einem lauten »Halt!« auf der Schwelle. Er machte ein paar Schritte ins Zimmer hinein und ward dabei gewahr, daß er sich kaum auf den Beinen zu halten vermochte. Er winkte die Nichte herbei und stützte sich auf ihre Schulter, um zu seinem Schreibtisch zu gelangen.

»O Gott, o Gott, Herr Mayr, möchten Sie nicht wenigstens Ihre Beinkleider anziehen?« sagte das Mädchen in herzlichem Tone, wie es ihn so schlaff in sich zusammengesunken auf dem Stuhle vor dem Cylinderbureau sitzen sah.

»Magst mir in meine Hosen hineinhelfen, Mädel?« versetzte Florian, mit mattem Lächeln seinen Kopf aufrichtend. »Aber merk' dir fein, du kriegst nix dafür! Mit mir is aus – morgen kann ich betteln gehen!«

»I wo, wer wird so reden!« lachte die Nichte gutherzig und legte ihm ihre zerarbeitete frostrote Patsche tröstend auf die Schulter. »So 'n Künstler wie Sie kommt nicht gleich um!«

»Hm, die Krot hat Gemüt!« sagte Florian mit trübseligem Lächeln. »Ich werd' Ihnen was vermachen, Fräulein Frieda, in meinem Testament – ich besitze noch einen anständigen Regenschirm; oder mögen S' lieber Goethes Gedichte haben? Herrgott, mit mir is aus – mit mir is aus!« Er schlug die Hände vor das Gesicht und ließ sein Haupt schwer auf die Platte des Schreibbureaus sinken.

Eine ganze Weile saß er so da, nur von Zeit zu Zeit dumpf aufstöhnend. Dann raffte er sich auf, hieß das Mädchen hinausgehen und zog seine Kleider wieder an. Als der Arzt kam, fand er den Patienten nicht mehr vor. Die inständigen Bitten der Nichte hatten nicht vermocht, ihn zurückzuhalten. Er hatte in der nächsten Destille zwei Schnäpse getrunken, um seine Lebensgeister anzuregen, und dann den schweren Gang zu seinem Agenten angetreten, um ihm die Mitteilung zu machen, daß die Aufführung nicht stattfinden könne.

Die Tage, die nun folgten, brachten Aufregungen mit sich, die zu ertragen über menschliche Kraft hinausging. Der Agent hatte Florian schmählich betrogen und die angerechneten Honorare gar nicht zur Auszahlung gebracht, sondern das Geld unterschlagen. Und Florian hatte dem Manne Vertrauen geschenkt – er besaß gar keine Quittung! Es regnete Zahlungsbefehle und Klagedrohungen. Gegen den Schuft, der ihn betrogen, war er machtlos, da er weder Urkunden noch Zeugen wider ihn aufzuweisen hatte und es auf einen Prozeß bei seiner gänzlichen Mittellosigkeit nicht ankommen lassen konnte. Einige von den Gläubigern waren zu ihm auf sein Zimmer gekommen, um ihn für einen Schwindler zu erklären, und in einigen Zeitungen war die Nachricht von dem Scheitern der »Christus«-Aufführung mit hämischen Glossen versehen worden; besonders einige musikalische Fachzeitschriften brachten Notizen voll boshafter Anspielungen über den dreisten Schwindel, der da wieder einmal von einem angeblichen »Lieblingsschüler« Liszts getrieben worden sei. Florian war nicht mehr im stande, sich zu wehren, Berichtigungen zu verfassen oder sonstwie die Ehrabschneider zur Rechenschaft zu ziehen; denn ein schweres Nervenfieber hatte ihn aufs Krankenlager geworfen.

Nun wäre es zwar für die Witwe Stoltenhagen das Nächstliegende gewesen, ihren kranken Zimmerherrn, der in den ersten Tagen andauernd ohne Bewußtsein dalag und demnach überhaupt keinen Willen zu äußern vermochte, in ein Krankenhaus schaffen zu lassen, zumal da er zur Zeit gänzlich mittellos war. Kein Mensch hätte ihr das übel deuten können; aber sie bestand merkwürdigerweise darauf, ihn bei sich zu behalten, selbst zu pflegen und sogar die Kosten für Doktor und Apotheker auszulegen. Trotzdem sie den guten Florian durch ihre entsetzliche Neugier und ihre kleinen Diebereien diese zwei Jahre hindurch weidlich geärgert und zum Dank dafür seine ausgesuchten Grobheiten und boshaften Sticheleien hatte aushalten müssen, hatte sich doch in ihrem verwitweten Herzen ein seltsames Gefühl treuer Anhänglichkeit, ja man könnte fast sagen: eine verbitterte Zärtlichkeit eingenistet, welche ihre Hauptnahrung doch wohl aus der Hoffnung zog, daß es der Nichte aus Pommern dennoch vom Schicksal bestimmt sei, Frau Florian Mayr zu werden. Und diese hartnäckige Hoffnung hatte erst jüngst eine kräftige Stärkung erfahren durch die Thatsache, daß Florian ihre Frieda eine gemütvolle Kröte genannt und ihr seinen neuen Regenschirm oder aber auch Goethes Gedichte zu vermachen versprochen hatte. Sie teilte sich mit ihrer hoffnungsvollen Nichte in die nicht leichte Aufgabe der Pflege und befolgte mit leidlicher Gewissenhaftigkeit die Anordnungen des Arztes.

Zur Zeit, als das typhöse Fieber seinen Höhepunkt erreicht hatte und Florian in wilden Phantasieen schier Tag und Nacht bewußtlos raste, sprach der Baron von Ried bei ihm vor. Er hatte die schmählichen Verdächtigungen in den Blättern gelesen und kam nun, um von dem Schwerbeschuldigten die Wahrheit zu hören und ihm, wenn es nötig war, seine Hilfe anzubieten. Mit Schrecken vernahm er die Kunde von der verhängnisvollen Wirkung, die die allzuharte Prüfung auf den armen Freund ausgeübt hatte. Er blieb an dem Bette des Kranken sitzen, bis der Arzt kam, um aus dessen Munde zu vernehmen, daß die Hoffnung auf Genesung nur eine geringe sei. Von der Frau Stoltenhagen erfuhr er dann auch, wie verzweifelt die geldliche Lage Florians sei. Er übergab, obwohl er selbst keineswegs mit Glücksgütern gesegnet war, der braven Witwe ein paar Goldstücke und versprach, bei allen Freunden und Bekannten Beiträge zur Unterstützung Florians in seiner Notlage zu sammeln und auch seinen Eltern Nachricht von dem Vorgefallenen zukommen zu lassen.

Am nächsten Tage schon kam der Baron wieder, um sich nach dem Befinden des Kranken umzusehen. Aber diesmal war er nicht allein. Er brachte eine sehr elegante Dame mit, welche trotz des heftigen Widerstrebens der Witwe Stoltenhagen sich den Eintritt ins Krankenzimmer erzwang. Es war Ilonka Badacs, die just am Abend vorher in einem Konzert gespielt hatte und von dem Baron von Ried sofort aufgesucht worden war.

Sie zeigte sich tief bewegt beim Anblick ihres todkranken Freundes und erklärte ihren festen Entschluß, nicht von seinem Lager weichen zu wollen, bis zum wenigsten die Krisis überstanden wäre. Einen kleinen Handkoffer mit dem Nötigsten hatte sie bereits mitgebracht. Der Arzt war sehr froh, gerade in den gefährlichsten Tagen eine gebildete und vernünftige Frau um den Kranken zu wissen, und trug nach seinen Kräften dazu bei, den eifersüchtigen Widerstand der Frau Stoltenhagen und ihrer Nichte zu beschwichtigen. Ausschlaggebend in dieser Beziehung war übrigens doch der Umstand, daß Fräulein Badacs für die Mietschuld und die Kosten der Krankheit Bürgschaft zu leisten sich erbot.

Die folgende Nacht brachte die Krise. Die Stoltenhagen und ihre Nichte waren bereits zu Bett gegangen, als das Fieber den Kranken noch einmal mit furchtbarer Gewalt packte. Das Thermometer, das Ilonka ihm in die Achselhöhle legte, stieg in wenigen Minuten bis auf 41,3°. Florian warf sich mit weit offenen Augen ruhelos im Bett hin und her und redete unaufhörlich, meist unverständliches wüstes Zeug. Bald lachte er laut auf, bald schlug er knirschend mit Fäusten um sich, als befände er sich in wildem Kampfe mit einem Feinde. Dann waren wieder einige Namen und Sätze verständlich. Die weimarischen Erlebnisse waren offenbar in seinem Geist lebendig, denn er nannte lauter Namen von Lisztschülern und das Wort »Meister« kehrte immer wieder. Da begann er auf einmal ganz laut und deutlich zu schreien: »Ich bin gefallen – gefallen! – O jegerl, Kreuzdividomine! Ilonka, thu mir doch des net an – hörst, Ilonka, ich bin narrisch, heiraten will ich dich, oder der Deixl soll mich in einen Dudelsack einsperren! Wozu braucht man denn das englische Horn? Klatsch – da hast a Watschen! So is recht – hahahahaha! G'schwind, in zehn Minuten geht der Zug! Ach, du lieb's Schatzl – lieb's Schatzl, du einziges! – Gelogen is 's, nit wahr is 's! Ich lass' doch net aus! Oha – Finis Poloniae! Sixt, die Trauergondel kommen. Da liegt s' drin – lauter Blumen, lauter Lilien – meine Ilonka!«

Da schluchzte sie laut auf, warf sich über ihn, indem sie seine rastlos umherfuchtelnden Arme mit ihren beiden Händen festhielt, und brachte ihr Gesicht ganz dicht vor seine Augen. »Aber nain, liebär Fraind, ich bin ja da!« rief sie laut. »Deine Ilonka is ja bei dir – schau doch nur!«

Seine Augen öffneten sich noch weiter. Er starrte sie an, und es zuckte etwas wie ein Lächeln über sein glühendes Antlitz. Sie nahm den Eisbeutel von seinem Kopfe, um ihn neu zu füllen, reichte ihm aber zuvor noch einmal das Fiebermittel. Er schluckte es hinunter. Aber gleich darauf begann er wieder so laut und wirr durcheinander zu lachen, schwatzen, stöhnen, wimmern und umsichzuschlagen, daß sie sich nicht hinauszugehen getraute.

»Wos ise denn, wos will denn mein Taibchen?« flüsterte sie dicht an seinem Ohr und strich ihm mit ihren feinen Fingern das feuchte Haar aus der Stirn.

Er sah sie unverwandt an und murmelte dabei halblaute Worte. Sie glaubte etwas wie »Fuß« zu verstehen – oder war es »Kuß« gewesen?

»Wos willst du? Mein' Fuß? Willst du mein bärihmtes Fußerl hoben, du ormär liebär Kerl? Olles, wos du willst, sollst du hoben, wann du wieder gäsund werden willst!« Und während ihr die Thränen stromweis über die Backen liefen, streifte sie geschwind den schwarzen Seidenstrumpf von ihrem rechten Bein und legte ihm dann den überaus zierlichen, tadellos geformten weißen Fuß auf die Bettdecke. Hatte er's bemerkt? Seine Hände tasteten suchend umher, und als sie den Fuß gefunden hatten, hielten sie ihn fest, so fest in glühender Umklammerung; und dann zerrten sie an dem kleinen Füßchen, bis es ihnen gelang, es auf die ebenso glühende Stirn hinaufzuziehen. Das schien dem Kranken wohlzuthun. Er ließ die Hände matt auf die Bettdecke zurückfallen, wo sie ruhig liegen blieben. Dann schloß er die Augen und begann alsbald tiefer und regelmäßiger zu atmen.

Ilonka war mit ihrem Stuhl mitgerückt, als Florian so heftig an ihrem Fuße zerrte. Nun saß sie da in der unbequemsten Stellung von der Welt, ohne eine Stütze für das ausgestreckte Bein, und wagte doch nicht, den Fuß von seiner Stirn zu entfernen. Die weiche, kühle Berührung schien ihn zu hypnotisieren – nach wenigen Minuten schon schlief er fest und tief.

Kurz darauf kam die Witwe Stoltenhagen hereingeschlichen, um nach dem Rechten zu sehen, und sie konnte sich gar nicht fassen vor Erstaunen über den seltsamen Anblick, der ihr da zu teil ward.

Am andern Morgen herrschte große Freude unter den drei Pflegerinnen, als der Arzt erklärte, daß die Krisis glücklich überstanden sei und der Patient sich auf dem Wege der Besserung befinde. Und als der Doktor gegangen war, nahm Frau Stoltenhagen ihre Nichte aus Pommern beiseite und sprach zu ihr: »Du, Mächen hörst du: nimm en warmes Fußbad, Frieda, man kann nich wissen, wozu 's jut is! Sonne Künstler haben zu komische Ideen, und du derfst dich weiter nich wundern, wenn er mal statts um deine Hand, um deinen Fuß anhält! Ik sage jarnischt!«


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