Ernst v. Wolzogen
Der Kraft-Mayr
Ernst v. Wolzogen

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Fünftes Kapitel.

»Satan«.

Am selben Abend folgte Florian Mayr der Einladung des Herrn Raphael Silberstein zur Vorführung des Musikdramas »Satan«. Er kam etwas zu spät; aber er hätte gar nicht nötig gehabt, so vorsichtig auf den Zehenspitzen ins Zimmer hineinzuschleichen, denn der dämonische Peter Gais war eben dabei, die ganze Hölle loszulassen. Der Bechsteinsche Konzertflügel größten Formats, ein Instrument, das schon seine zwanzig Jahre auf dem Rücken haben mochte, zitterte unter den wuchtigen Tatzen seines genialen Bändigers. Grollende Tremolos, tosende Oktavengänge im tiefsten Baßregister, martellando angeschlagen, klirrendes Kettengerassel wild aneinander gereihter verminderter Septimenaccorde, chromatische Läufe, hinauf- und hinunterbrandender Gischt, spitze aufzüngelnde Flammen, rollender Donner im Bauch der Erde, dröhnende Kontrafinsternis und grelle Diskantblitze – das war das Tongemälde der Hölle, das war dekorativer Stil al fresco.

Florian Mayr blieb neben der Thür stehen und hatte zunächst keinen Blick für die versammelte Gesellschaft. Es war wahrhaftig eine Musik, bei der einem Sehen und fast auch Hören verging. Aber Kraft und Feuer des Vortrags mußten dem Musiker wie dem Laien imponieren.

Peter Gais hatte in seinem Aeußeren fünf Achtel von Beethoven, zwei Achtel von Rubinstein und ein Achtel inkongruenter Bestandteile, welche also wohl original-Gaisischen Ursprungs waren. Er war kaum mittelgroß, untersetzt; sein Kopf sehr dick; noch dicker seine Nase, ein schwungloser Klumpen; die Stirn hochgewölbt, mit auffallenden musikalischen Ausbuckelungen, die gelben Augenbrauen kaum sichtbar, die wasserblauen runden Augen stark hervorquellend, der Mund groß, brutal, aber die Lippen fest, energisch; das ganze Antlitz ungesund bleich, käsfarbig, völlig bartlos; das Haar gelbgrau, glatt aus der Stirn zurückgestrichen, scheitellos, lang aber nicht üppig. Vornübergebeugt, mit festgeschlossenen Lippen starrte er in sein Manuskript und bearbeitete die Klaviatur mit Vierhändekraft. Und hinter ihm saß, vor lauter Ehrfurcht nur die äußerste Spitze seines schiefgestellten Stuhles berührend, Raphael Silberstein und blickte über die Schulter des Gewaltigen in das Manuskript, um die Seiten umzublättern. Er war reichlich zwei Kopf größer als Peter Gais, sehr schlank und hager, hatte kurzgehaltenes pechschwarzes Bürstenhaar und ein gar unscheinbares, schwarzes Bärtchen unter der unverkennbar rassenechten Riesennase. Wenn diese allzu aufdringliche Nase nicht gewesen wäre, hätte man Raphael Silberstein mit seiner runden, glatten Madonnenstirn, seinen starken, schwarzen Brauen, den tiefliegenden, großen Schwärmeraugen und der krankhaft blassen aber reinen Haut seines blassen Gesichts fast einen schönen Jüngling nennen dürfen. Er hatte in seinem Gesichtsausdruck wie in der unbeholfenen Geste seiner überlangen Gliedmaßen etwas kindlich Rührendes. welches aber durch die Nase der steten Gefahr ausgesetzt war, ins Lächerliche umzuschlagen.

Der Höllensturm flaute ab. Ein paar abgehackte, einzelne Schläge noch, dann setzte ein offenbar vom Bläserchor vorzutragendes düster imposantes Thema ein; wahrscheinlich ein »Motiv der satanischen Majestät«. Ein junges Mädchen, klein, überschlank, ein schmales, blasses Gesichtchen mit großen Märtyreraugen darin, von einem Wust weichen, dunkelbraunen Gelocks umrahmt, das in üppiger Fülle gerade bis auf die Schultern herabfiel, erhob sich geräuschlos von seinem Stuhl nahe der Thür und überreichte Florian Mayr ein autographiertes Textbuch zum »Satan«, indem es mit dem Finger auf die Stelle deutete, die jetzt darankam.

Er las: » Die Teufel und die Verdammten fliehen in die glühenden Felsenklüfte. Satan steigt aus der Tiefe herauf, lacht ihnen verächtlich nach, breitet seine mächtigen Fledermausschwingen aus und besteigt den Felsenthron vorn rechts.« Und nun folgte ein großer Monolog des Satans, der für den Herrn der Finsternis insofern allerdings höchst charakteristisch war, als es absolut dunkel blieb, was der Herr eigentlich sagen wollte. Es war ein Wust gewaltig klingender Worte, in recht schlechte Verse gefaßt. Nur so viel schien daraus hervorzugehen, daß seine höllische Majestät beabsichtigte, eine christliche Heilige zu verführen, welche augenblicklich im Kerker eines römischen Zirkus der Stunde entgegenbangte, in der sie den wilden Bestien vorgeworfen werden sollte. Wodurch gerade dieses arme Mädchen die Aufmerksamkeit Satans auf sich gelenkt hatte, war vorläufig noch nicht ersichtlich.

Doch nun begann Peter Gais zu singen, und Florian Mayr klappte das Textbuch zu, um gleich den übrigen Herrschaften andächtig zu lauschen. Das war aber leichter beschlossen als ausgeführt, denn Peter Gais sang so entsetzlich, wie es überhaupt nur ein deutscher Komponist fertig bringt. Er hatte keine Spur von Stimme, er gaumte fürchterlich, röchelte das R ganz hinten in der Kehle und sah außerdem mit den wütend hervorquellenden Augen und dem schief geöffneten Mund so sonderbar aus, daß es für weniger respektvolle Naturen schwer war, den nötigen Ernst zu bewahren. Doch gewöhnte man sich bald genug an die Schönheitsmängel dieser Vortragsunkunst. Der Komponist brachte doch wenigstens die dramatischen Accente scharf heraus, packte die Noten fest beim Kopf, so daß man wenigstens eine Ahnung von der melodischen Gestaltung bekam, und verfiel bei allen ihm zu hoch liegenden Stellen in ein rhythmisches Recitieren. Nach einer längeren Weile ging ihm freilich die Stimme ganz aus, und da begann er zu pfeifen mit vollem, tremolierendem Ton. Das war jedenfalls angenehmer anzuhören als sein dämonischer Gesang, wenn es auch freilich das Verständnis des dramatischen Vorgangs noch mehr erschwerte als seine schlechte Textaussprache.

Nach einer halben Stunde angestrengten Zuhörens wußte Florian Mayr nicht mehr aus noch ein, obgleich er das Buch mehrmals zu Rate zog. Er wandte sich schließlich mit einer hilfeflehenden Gebärde an das dunkellockige Mädchen, und dieses merkwürdige Geschöpf wußte thatsächlich, ohne daß es selbst nachgelesen hätte, sofort die Stelle zu finden, wo sie sich gerade befanden. Sie kannte offenbar das Werk so gut wie auswendig. Florian hätte sie gern um nähere Auskunft über die unheimlichen Beziehungen Satans zu der Heiligen gebeten, aber sie wies schon seinen ersten Versuch, ihr eine Frage zuzuflüstern, mit einem so drohenden Blick zurück, daß er das kecke Unterfangen aufgab. Merkwürdig, dieser drohende Blick! Er hatte ihn getroffen, das fühlte er, und doch war er genau genommen um etwa vierzig Grad bei ihm vorbeigegangen. Das dunkle Mädchen mit den Märtyreraugen schielte! Schade um ihre zarte, blutlose Schönheit! Florian hatte sich auf einen Schemel ganz in ihrer Nähe niedergelassen und sich in die Betrachtung ihres überaus feinen Profils vertieft. An ihrer andern Seite saß ein Herr, der offenbar der gleichen Beschäftigung mit Eifer nachhing, ein großer, schlanker Mann mit dunklem Haar, rotblondem Henriquatre, zusammengewachsenen schwarzen Augenbrauen und einer Brille auf der zu kurzen Nase. Der Herr schien ganz bei dem dunklen Mädchen und wenig beim Satan zu sein. Und auch Florian Mayr fühlte, wie er immer mehr dem Banne des pfeifenden, heiser gröhlenden und das Klavier schon fast mit den Fäusten bearbeitenden Titanen entschlüpfte. Als fester Wagnerianer und begeisterter Lisztverehrer besaß er einen wohldressierten Magen, der gar gewaltige Tonmassen verdauen konnte; aber dennoch begann sich sein Nervensystem gegen die Satansmusik schon nach der ersten halben Stunde aufmerksamen Zuhörens energisch zu sträuben. Peter Gais war nämlich ein musikalischer Choleriker: Haß, Rache, Wut, Wollust, Hohn wußte er mit grellen, aber immerhin eindringlichen Farben zu malen, für alle sanfteren Gefühle fehlte ihm jedoch so ziemlich alles Ausdrucksvermögen. Die fromme Ekstase der Heiligen, welche die zweite Scene vorführte, war kläglich trivial geraten, ein Christenchor ein monotoner Liedertafelsingsang. So war es nicht zu verwundern, daß diese Musik den Zuhörer sehr rasch ermüdete, ganz besonders aber den modern gebildeten Musiker, welchen die nur mit harmonischen und dynamischen Effekten arbeitende, fast durchweg homophone Musik nichts bieten konnte, was den Geist fesselte; es war nur die brutale Wirkung auf die Nerven – und so etwas können die gutmütigsten Nerven nicht lange aushalten! Auch Florian Mayr war anfangs geblendet gewesen von dem Farbenprunk dieser wirklich hochdramatischen Musik, dann hatte er noch längere Zeit hindurch die reichquellende Erfindung bewundert, welche höchst charakteristische Motive zu gestalten wußte – nun aber hungerte und dürstete ihn nach etwas Polyphonie, nach seiner kontrapunktischer Arbeit. Dies war offenbar alles nur so hingeschleudert; titanisch freilich – denn wüst übereinander getürmte Felsblöcke, wie sie der biedere Seismos in seinem Zorn fertig kriegt, imponieren ja auch, aber die feinere Herrgottsarbeit, die um das rohe Geklump die zartesten Organismen ranken und blühen läßt, die ward bei Peter Gais schmerzlich vermißt.

Fünfviertel Stunden lang hatte Florian Mayr sein Bestes gethan – jetzt konnte er nicht mehr. Er bewunderte das dunkellockige Mädchen, welches immer noch so bleich und ernst mit vorgestrecktem Kinn vor sich hinstarrte, ein Auge auf den Komponisten, das andre links um die Ecke gerichtet, und sich nicht im geringsten beirren ließ durch den Umstand, der doch jedes normale junge Mädchen zum Erröten gebracht hätte, daß es nämlich durch die bewundernden Blicke zweier Männer von rechts und links sozusagen in die Klemme genommen wurde. Florian fand nun auch Zeit, die übrigen Gäste einiger Beachtung zu würdigen. Er entdeckte einige wenige bekannte Gesichter darunter. Die meisten Herrschaften waren ihm fremd. Auf dem Sofa thronte ängstlich steif aufgerichtet ein rundliches, älteres Dämchen mit einem jugendlich glatten, unendlich gutmütigen Hühnchengesicht. Sie errötete, so oft sie jemand ansah, und stieß von Zeit zu Zeit einen leisen, tiefen Seufzer aus. Das war die Mutter des Komponisten. Neben ihr, bequem in die Sofaecke zurückgelehnt, die Beine übereinandergeschlagen, saß eine junge Dame, welche Florian vor kurzem in der Singakademie gehört hatte, Ilonka Badacs, eine ungarische Pianistin, die sich in den Reklamen für ihr Konzert eine Lieblingsschülerin Liszts nennen ließ – was ihr übrigens Herr Mayr recht übel vermerkt hatte, denn er fand, daß sie zwar temperamentvoll, aber technisch überaus leichtfertig spielte. Ilonka Badacs hatte lasterhaft weite Augen, porzellanweiß und beinschwarz, einen großen sinnlichen Mund, herrliche Zähne, echt magyarischen Gesichtsschnitt und entsetzlich viel Puder auf dem nicht sehr reinlichen Teint. In einem Fauteuil neben ihr saß eine dicke Sängerin mit einer Mopsnase und blickte vergnügt und verständnislos darein. Eine andre jüngere Dame, groß, derbknochig, schlank und sehr intelligent ausschauend, saß ihr gegenüber auf der andern Seite des runden Tisches. Sie war eine junge Sängerin, die sich erst seit kurzer Zeit in Konzerten durch ihre prachtvolle Altstimme bemerkbar gemacht hatte. Die Herren waren in der Ueberzahl: außer dem schon erwähnten Profilbewunderer mit dem rotblonden Henriquatre noch fünf sehr junge Leute und ein mittelalterlicher Herr in einer Samtjacke, Typus eines schönen Mannes mit wallendem Haar, dunklem Schnurrbart und hoher Stirn. Da er für einen Tenoristen denn doch zu intelligent dreinschaute, mochte er wohl ein Violinvirtuos sein. Und schließlich war als einziger älterer Herr und zweifelloser Ehrengast auch noch ein Kapellmeister der Hofoper anwesend, ein dicker, untersetzter Herr mit Glatze, graumeliertem Vollbart, Brille und roter Nase.

»Satan«, das Vorspiel der Tetralogie »Der Mensch«, hatte nur einen Akt – aber was für einen! Als nach anderthalbstündiger harter Arbeit der Komponist sich erschöpft vom Klaviersessel erhob und um eine kleine Pause bat, war nach der Auskunft, die das dunkellockige Mädchen stirnrunzelnd erteilte, erst die gute Hälfte überstanden. Alles erhob sich, man reckte sich und streckte sich – und niemand wußte, was er sagen sollte. Raphael Silberstein stand krumm neben seinem genialen Freunde, ihn dennoch um zwei Haupteslängen überragend und drückte ihm stumm die Hand. Er war ohne Zweifel der Ansicht, daß die allgemeine Sprachlosigkeit als tiefste Ergriffenheit zu deuten sei. Dann schwebte er auf den Zehenspitzen, aber mit knarrenden Stiefeln auf den Ehrengast zu und flüsterte strahlend: »Nun, was sagen Sie, Herr Hofkapellmeister?«

Der dicke Hofmusikbeamte raffte sich als der letzte nun gleichfalls von seinem bequemen Sitz empor, hielt sich die Hand vor den Mund und flüsterte so zu dem langen Silberstein hinauf; »Ja, ja, dees war scho was. Aber wissen S', an Durst kriegt mer bei dem musikalischen Höllenzauber – a Glas Bier wenn i hätt, uijekerl, dees thät mi freuen!« Der Herr Hofkapellmeister war nämlich ein geborner Münchener und ließ es sich angelegen sein, in der Reichshauptstadt den Urbajuvaren in Sprache und Manieren möglichst dick aufzutragen.

Raphael Silberstein raunte zurück, daß für einen leichten Imbiß und etwas Trinkbares gesorgt sei, und fragte dann bescheidentlich bei dem Komponisten an, ob er eine kleine leibliche Stärkung der Anwesenden gestatte. Darauf öffnete er die Flügelthüren zum Nebenzimmer und lud mit verlegenem Lächeln und leiser Stimme zu belegten Brötchen, Bier und Bowle ein.

Während des allgemeinen Aufbruchs ins Speisezimmer ergriff Raphael Silberstein Florian Mayr beim Arm und führte ihn dem Komponisten zu, der noch immer, sich den Schweiß von der Stirne trocknend, am Flügel stand. Er stellte die Herren einander vor.

»Ich habe schon einmal die Ehre gehabt,« sagte Florian. »Ich weiß nicht, ob Sie sich noch erinnern –?«

Peter Gais nickte, lächelte zerstreut und reichte Florian die Hand zum Gruße.

Nun mußte der doch durchaus etwas sagen; wie aber in der Geschwindigkeit ein Urteil formulieren? Er schaute hinab auf seine Stiefel und hinauf zum Plafond und dann dem Komponisten ins Gesicht – und da platzte er schließlich heraus; »Jesses, ha'm Sie g'schwitzt!«

Peter Gais lächelte ironisch und sagte scharf: »Darin haben Sie recht, Herr . . .«

»Ich heiße Mayr,« ergänzte Florian etwas kleinlaut. »Sie haben einem ja aber auch die Hölle so heiß gemacht – musikalisch mein' ich – ein Wunder wär's nit, wenn wir alle schwitzen thäten. Das ist eine Musik, haha! Die gibt eine Hitz aus – haha, großartig! Kommen wir jetzt vielleicht in den Himmel?«

Der Komponist zuckte ungeduldig die Achseln und wandte sich stirnrunzelnd an seinen getreuen Raphael. »Lieber Freund, du scheinst mir doch die Herrschaften mangelhaft vorbereitet zu haben. Der Herr hat ja keine Ahnung – bitte, wenden Sie sich doch an den Dichter.«

Herr Silberstein eilte davon, um den Dichter aus dem Gewimmel am Buffett herauszuholen. Der Dichter kam. Er trug ein Glas Bowle in der Hand und hatte eine Brotschnitte mit Wurst soeben auf einmal in seinem außerordentlich großen Munde verschwinden lassen. Eine zweite Wurstschnitte hielt er in der Hand. Sein Haupt hatte die Form eines mäßig spitz zulaufenden Kürbisses und bestand zum weitaus größeren Teile aus Stirn. Auf der höchsten Höhe dieser Stirn standen die weißblonden Haare bürstenähnlich in die Höhe, und auf jeder Hälfte der Oberlippe schlängelten sich fünf bis sieben ebenso weißblonde Haare entlang.

»Darf ich die Herren miteinander bekannt machen: Herr Pianist Florian Mayr – Herr Emanuel Schrempf aus Königsberg, der Dichter des Dramas.«

Damit eilte der Gastgeber hinweg, um ein andres Opfer zur Urteilsabgabe heranzuschleifen.

Florian behauptete, daß ihm durch die Bekanntschaft mit dem Dichter des »Satan« ein außerordentliches Vergnügen bereitet worden sei. Herr Schrempf vermochte diese Höflichkeit vorläufig nicht zu erwidern, da er zunächst die Wurstbrotobstruktion in seiner Kehle zu beseitigen hatte. Er kaute mit erhöhter Geschwindigkeit, dann neigte er sein Glas gegen Florian und bemühte sich »Prost« zu sagen. Die Bekanntschaft war somit in aller Form eingeleitet. Um dem liebenswürdigen Dichter nachkommen zu können, mußte Florian sich zunächst auch einmal Getränk verschaffen. Er geriet dabei just in die Nähe des dunkellockigen Mädchens und erbot sich, ihr ein Glas Bowle einzuschenken.

»Meinetwegen!« sagte die Schöne kurz. Und dann wandte sie sich wieder an den Herrn mit dem rotblonden Zwickelbart, mit dem sie im Gespräch begriffen war. »Es ist auch überhaupt die höchste Zeit, daß Wagner überwunden wird,« hörte Florian sie sagen.

Der andre Herr lächelte ironisch und erwiderte: »Wollen wir nicht lieber erst abwarten, was Wagner mit sich selber noch vor hat? Sie wissen, wir haben noch den ›Parsifal‹ in Bayreuth zu gewärtigen.«

»Ach was, Parsifal!« versetzte das Mädchen naserümpfend. »Christliche Mystik, Askese, greisenhafte Impotenz.«

»Donnerwetter!« sagte der Herr. »Sie sind aber scharf wie Gift, mein Fräulein.«

Florian bot ihr jetzt das gefüllte Glas dar und sagte lachend: »Also, da dürften wir wohl nach Ihnen alle großen Künstler zwischen fünfzig und sechzig Jahren totschlagen? Sie sind gleich radikal, Kreuzteufel! Aber wissen S', Fräulein, ich möcht' behaupten: es gibt auch eine Grenze für die Jugend.«

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte das düstere Mädchen. Es hatte eine süße, einschmeichelnde Stimme, ganz leicht verschleiert.

»Ich glaube, der Herr versteht mich,« versetzte Florian, auf den rotblonden Zwickelbart deutend. Und nun stellten die Herren einander vor. Der rotblonde Zwickelbart nannte sich Baron von Ried. Er war ein junger Schriftsteller, der erst vor kurzem seinen Namen allgemeiner bekannt gemacht hatte durch eine Humoreske, in welcher es sich um eine alte Hose handelte. Seine näheren Freunde wußten jedoch, daß er selbst geneigt war, sich als Komponist höher zu schätzen, denn als Poet. Er dilettierte überhaupt in fast sämtlichen Künsten, spielte sieben Instrumente, sprach sieben Sprachen und bekannte sich zu sieben verschiedenen Landsmannschaften.

»Wollen wir's ihr sagen?« neckte der bunte und komplizierte Baron, indem er Florian Mayr zublinzelte und mit dem Daumen leicht auf das kleine Fräulein deutete.

»Ach Gott, wenn ihr euch über mich lustig machen wollt, dann gehe ich lieber,« sagte die Dunkellockige patzig. »Es ist überhaupt ein Jammer, daß ein Genie wie Gais seine Perlen vor euresgleichen streut.«

»Nanu!« entfuhr es dem Baron, und Florian lachte gemütlich: »Also is recht, sagen mer du zu einander.«

Die Dunkellockige wollte sich entrüstet entfernen, aber der Baron hielt sie bei der Hand fest und sagte mit gemütlicher Entschiedenheit: »Halt! Dageblieben, das gilt nicht. Jetzt beantworten Sie uns gefälligst eine Frage, süße kleine Kratzbürste: Wie kann man ein so reizendes Mädchen sein, mit einem so blassen, schwülen Medusenköpfchen, mit solchen rätselvollen Augen . . . . O Gott, o Gott! Wissen Sie, was Ihre Bestimmung ist?«

»Fade Schmeicheleien anzuhören?«

»Fad oder nicht – auch das. Aber Ihre eigentliche Bestimmung ist, in einem schwarzen Samtkleid mit bloßen Armen und womöglich auch bloßen Füßen mit ganz kleinen Pantöffelchen auf einem weißen Eisbärenfell zu liegen und mit einem kleinen schwarzen Pantherkätzchen zu spielen. Darf ich Ihnen vielleicht das Eisbärenfell schenken, wenn ich mal wieder ein größeres Honorar einnehme?«

Ohne eine Miene zu verziehen, erwiderte die Dunkellockige: »Mit solchem Unsinn wollen Sie mich wohl berauschen, Herr Baron? Da kommen Sie viel zu spät bei mir. Der Mann hat keine Macht mehr über mich.«

»Sapperment nochmal! Wie alt sind Sie denn, wenn man fragen darf?«

»Achtzehn Jahr – alt genug, um mit euch Männern fertig zu sein; oder wollen Sie vielleicht leugnen, daß ihr alle nur Tiere seid uns Frauen gegenüber, wenn wir jung und hübsch sind? Wie kann man sich ernsthaft beschäftigen mit einer Menschengattung, die so sehr in der Entwickelung zurückgeblieben ist?«

»Armes Kind, was müssen Sie für Männer kennen gelernt haben!« sagte der Baron, plötzlich ernst werdend, mit warmem Ton.

»Männer?« fuhr die Kleine auf. »Nur zwei. – Die übrigen sind Affen. Aber ich kenne den schöpferischen Genius und ich kenne das nachempfindende große Herz, das genügt mir.« Mit diesem bedeutenden Wort schlüpfte sie zwischen den beiden Herren hindurch und trat zu einer Gruppe in der andern Ecke des Zimmers.

»Mit dem schaffenden Genius meint sie natürlich den Peter Gais,« flüsterte der Baron Florian Mayr zu, »und mit dem nachempfindenden großen Herzen ihren Herrn Papa.«

»Wer ist denn ihr Herr Papa?«

»St, leise! – da steht er, der schöne Mann da mit der Samtjacke. Kannten Sie das Mädel denn nicht? Libussa Tomatschek heißt sie. Ihr Vater ist der berühmte Geiger Toby Tomatschek. Zwar geigt er schon lange nicht mehr, aber daß der Joachim und der Sarasate e tutti quanti gegen ihn die reinen Lausbuben sind, das wird er Ihnen gern bestätigen, wenn Sie ihn drum fragen. Jetzt schreibt der Mann Musikkritiken – etwas blümerant, aber sonst nicht übel.«

»Und das Mädel?« fragte Florian.

»Nun, das sehen Sie doch. Das hat er verrückt gemacht. Die Kröte ist einfach unausstehlich – und könnte doch so reizend sein, wenn ihr nicht durch den Genialitätsschwindel, in dem sie aufgewachsen ist, Jugend, Charme, Vernunft und alles ausgetrieben worden wäre. Und das schaffende Genie wird ihr jetzt wohl vollends den Rest geben. Denken Sie nur, das große nachfühlende Herz hat sie dem Titanen Gais als Wochenpflegerin für seine Frau und Mädchen für alles zur Verfügung gestellt – dies Kind von achtzehn Jahren! Haben Sie ihre erfrorenen Hände beobachtet? Sie hat keine Nachtruhe mehr – und verhungert sieht sie auch aus. Der Titan soll sie wie einen Hund behandeln, und sie betet ihn an dafür. Die Frau ist natürlich eifersüchtig. – Und sehen Sie, dort sitzt Mama Gais, das arme Hühnchen. Das seufzt sich so durchs Leben und ist so verliebt in seinen großen Sohn. Dafür wird's natürlich malträtiert zum Gotterbarmen. Es scheint mir ein sauberer Beruf, Titanenmutter zu sein.«

Florian Mayr hörte aufmerksam zu. Dann sagte er bedächtig: »Wenn ich so Sachen hör', da zuckt's mir allemal in der rechten Hand: ich mein', die Menschheit leidet heutzutag daran, daß s' nimmer g'nug Prügel kriegt. Uebrigens, haben Sie denn net neulich erst einen Artikel geschrieben über den Titanen? Mir ist doch so, als hätt' ich Ihren Namen drunter g'lesen.«

»Allerdings,« versetzte der Baron, »ich kann's nicht leugnen, ich bin etwas voreilig gewesen. Ich kannte den Satan noch nicht, als ich über den Titanen schrieb.«

»Und was halten Sie von ihm? In dem Artikel haben S' ihn ja kolossal herausgestrichen.«

»Ja, ich halte ihn auch wirklich für einen genial veranlagten Menschen; aber sein Unglück ist, daß er mit seinen Werken niemals so recht vor die Oeffentlichkeit gelangen konnte. Jetzt hat er alle Selbstkritik verloren und die paar unbedingten Anbeter, die er immer um sich hat, unreife junge Männer und verdrehte Frauenzimmer, die haben einen Größenwahn in ihm gezüchtet, der seine Schaffenskraft wohl bald genug vernichtet haben wird. Glauben Sie vielleicht, daß mein Artikel ihm auch nur im mindesten genügt hätte? Seine arme Mutter kam zu mir, um mir mit Freudenthränen dafür zu danken, aber der große Peter hält mich offenbar seitdem erst recht für einen Kretin, und Raphael Silberstein hat mich unter dem Pseudonym Germanicus auch schon journalistisch deswegen angeulkt. Es gibt nämlich ein Blatt, in welchem Germanicus dem Peter Gais schrankenlos opfern darf. Na, und unser Freund Raphael Silberstein – kennen Sie ihn näher?«

»Nein, ich weiß nur, daß er sehr gut, aber sehr kalt Klavier spielt.«

»Ja, sehen Sie, das ist auch so eine merkwürdige Figur. Der junge Mann ist fabelhaft fleißig. Sein ganzes Leben lang hat er gearbeitet und gerungen – gegen seine Eltern, gegen sein Talent, gegen sein Judentum – sein Leben war ein ewiger aufreibender Kampf, trotzdem er's als wohlhabender. unabhängiger Mensch so bequem hätte haben können. Er ist ein Idealist und ein Selbstmordkandidat, wenn ich ihn recht erkenne. Weil er die große technische Begabung fürs Klavier hatte, hielt er sich für zum Musiker geboren, aber die Eltern wollten nichts davon wissen. So ist er denn Gelehrter geworden, Aegyptologe. Mit zweiundzwanzig Jahren hat er seinen Doktor gemacht, jetzt will er sich hier als Dozent habilitieren. Aber nun sind ihm inzwischen beide Eltern weggestorben. Da hat er denn seiner musikalischen Passion wieder nachgegeben; daß er kein schaffender Künstler ist, hat er wohl eingesehen, und nun hofft er im Schlepptau eines Genius in die Musikgeschichte hineinzukommen. Der Gais kann ihn nicht ausstehen, er macht sich fortwährend über ihn lustig, aber seine Unterstützungen nimmt er an. Die Weihrauchwolken, die der arme Junge vor ihm verqualmt, schnüffelt er gnädigst ein. Der gute Raphael versteht übrigens viel zu viel von Musik, als daß er nicht eines Tages dahinter kommen sollte, daß er sein Idol überschätzte. Das Erwachen wird schrecklich für ihn sein. Ich fürchte, er hängt sich auf, wenn er nicht in ein Kloster geht; denn Sie müssen wissen: die Gaisische Musik hat ihn zum Christentum bekehrt!«

Hier wurde das Gespräch dadurch unterbrochen, daß das Fräulein Ilonka Badacs, die ungarische Pianistin, zu den beiden trat und zu wissen begehrte, wer »Madel verrucktes wäre mit ein große Auge gradaus und ein große Auge daneben.«

Der Baron gab ihr kurzen Bescheid über Libussa Tomatschek, worauf ihn Fräulein Ilonka gemütlich bei einem Westenknopf erfaßte und sagte: »Wissen S', liebär Härr von Ried, wie Madel verrucktes kuriert werden muß?«

»O ja, ich wüßte schon ein Mittel,« lachte der Baron.

»Ah bravo! Sie haben mich verstanden. Gehen S' – bandeln S' an damit.«

»Muß es gleich sein, Gnädigste?«

»Aber ja doch. Es barmt mich so, armes Katzel. Wenn Sie 's recht bald gäsund machen, zaig' ich Ihnen wos Schenes.«

»Ach – wohl Fußerl Ihriges?« sagte der Baron, verständnisvoll den Finger an die Nase legend.

Und Fräulein Ilonka ergriff den verdutzten Florian Mayr am Arm und sagte stolz und strahlend: »Schaun Sie, liebär Härr, so bäriehmt is main schenes Fußerl. Der Härr Baron hat schon davon gähört. Wie haißen denn Sie, mein liebär Härr?«

»Florian Mayr, wenn Sie gestatten.«

»Florian Mayr –? O Sie sind auch sähr bäriehmt. Ich hab' schon von Ihnen gähört. In mein Konzert haben Sie gäsagt zu einem Härrn, doß ich spiel wie ein Schwainderl, ober Faier hob' wie ain Daifel. Der Härr hot mir wiedererzählt, – wor ain liebär Fraind von mir.«

Florian lachte gerade hinaus. »O weh, da bin ich aber schön eingegangen! Sind S' mir sehr bös?«

»Obär nain, unter Kollägen . . .! Man hot mir gäsogt, Sie spielen sähr bädaitend . . . große Stil . . . is wohr?«

Florian zuckte die Achseln. »Urteilen Sie doch selbst. Vielleicht findet sich mal eine Gelegenheit. Ich spiel' Ihnen schon gern was vor.«

»Is recht . . . wird mich sähr fraien. Wo wohnen Sie, Herr Mayr?«

Er nannte seine Adresse und fügte hinzu: »Wollen Sie mir vielleicht schreiben, wann und wo ich Sie einmal treffen kann?«

»A wos! Ich komme zu Ihnen, wann ich nicht störe.«

»Da müßten S' schon vormittags vor Zehn oder abends nach Sechs kommen,« versetzte Florian ein wenig verlegen. »Unter tags hab' ich viel Stunden zu geben. Das heißt, auf Damenbesuch bin ich eigentlich nit recht eingerichtet.«

»Mocht nix – unter Kollägen!« Damit war die Sache für sie erledigt und sie sprang auf ein andres Thema über. »Sogen Sie, Herr Mayr, wos holten Sie von Pater Gais? Errlich. – Er hot auch Faier wie ain Daifel – ich bin hingärissen, versteht sich; ober wissen S', ich möcht ihm kain Bussel geben, nit um zähn Gulden!«

»Um den Preis thu' ich's auch noch nit,« lachte Florian. Und dann vertieften sie sich in ein Gespräch über die gehörte Komposition, wobei die fesche Ungarin ein recht gutes musikalisches Urteil an den Tag legte. Plötzlich warf sie die Frage dazwischen: »Sogen Sie, Härr Mayr, waren S' noch nicht beim Liszt?«

Da wurde er wieder verlegen und sagte, daß er sich das noch nicht getraut habe. Er gab seiner Verehrung für den Altmeister begeisterten Ausdruck und dann fragte er neugierig, wie sie es eigentlich angestellt habe, um zu ihm zu gelangen, und ob sie denn wirklich eine seiner Lieblingsschülerinnen sei.

»Ober liebär Härr Mayr,« versetzte sie, »is doch sähr ainfach! Ich bin hingäraist und hob' dem Maister vorgäspielt.«

»Na, und da hat er gleich . . .«

»Da hot der Maister gelocht sähr fraindlich . . . o er is so lieb und hot mich gäpatscht auf die Bocken und iberoll hin und hot gesogt: ›Brava – brava! Pußta! – Frech! Gefollt mir sähr – Eljen!‹ Hob' ich auch gälocht – hot er gesehen, daß ich sähr schene Zähn hob' – hob' ich sähr lieb zum bitten angäfangen, daß ich dableiben darf – hob' ich nicht verstanden, was er hot gesagt, ober bin ich dageblieben. Hob' ich fleißig studiert und viel gälernt. Drei Jahre bin ich mitgäzogen – Rom – Pest – Weimar. Bißl Geld hob' ich gähobt, und wie is aus gäwesen bißl Geld, hot liebär Maister olles bäzahlt. O, der Maister is so sähr gut! Hot er mir immer gegeben Empfehlung für Konzert und hot gesogt, daß ich bin sain bête noire, une jolie bête à pattes méchantes. Konn ich doch sogen, doß ich bin Lieblingsschielerin!«

So weit waren sie gekommen, als Raphael Silberstein das fröhliche Schmausen, Plaudern und Pokulieren unterbrach mit der Aufforderung, sich nunmehr zum zweiten Teil des »Satan« wieder ins Musikzimmer zurückzubegeben. Florian Mayr hatte ein schlechtes Gewissen dem Komponisten gegenüber, weil er die Pause nicht benutzt hatte, um sich über das Drama gehörig zu informieren. Beim Hinausgehen erwischte er den Dichter und bat ihn um eine komprimierte Erläuterung, die ihm denn auch notdürftig zu teil wurde.

Zum Schluß sagte Herr Schrempf: »Ich bitte Sie übrigens, Herr Mayr, beurteilen Sie mich nicht nach diesem Text, er ist unter so eigentümlichen Umständen entstanden – Herr Gais hat mir gar keine Freiheit gelassen. Alles hat er mir umgeworfen. Und dann hat er sich ans Klavier gesetzt und gespielt und dazu geschrieen und gepfiffen und gerast – so wollt' er's haben, das sollt' ich dichten. Es sind eigentlich nur untergelegte Worte zu fertigen Noten.«

»Ja, warum haben Sie sich denn das gefallen lassen?«

»Ach wissen Sie, was soll man machen? Herr Gais hat doch nun einmal den Dämon – man kann nicht gegen an.«

»Ach so.«

Man setzte sich, neue Gruppen bildeten sich, und im Vorbeigehen hörte Florian, wie der Hofkapellmeister zu dem Komponisten sagte: »Jojojo, recht haben S' scho – dees is a Viechsarbeit, de Partitur, – oalle Achtung! Dees wenn der Herr Generalintendant sicht, der fallt glei vom Stengel, wissen S'. Der Wagner war' heit no net aufg'führt im Opernhaus, wann's nach dem alleinig gangen war'.«

»Sie meinen also, es wäre keine Aussicht, mit dem ›Satan‹ ans Opernhaus zu kommen?« fragte Peter Gais mit zuckenden Nasenflügeln.

»I bitt Ihna, ›Robert der Teufel‹ steht ja noch am Repertoire! Aber probieren S' es nur amal; vielleicht schlagt Ihna der Herr Generalintendant vor, a Ballett draus zu machen.«

Florian machte sich so seine Gedanken, während er sich einen neuen Platz zwischen Ilonka Badacs und dem Baron von Ried aussuchte. In welcher Stimmung mochte der Titan an die weitere Vorführung seines Werkes gehen! Daß er es in einem ununterbrochenen Fieber der Begeisterung geschrieben hatte, aus dem Eigenen und dem Vollen herausschöpfend, nicht nachstammelnd und mühsam zusammenkleisternd wie ein Stümper, oder ein Talent zweiter Hand, das war unbestreitbar; er hatte sein Bestes gegeben und mit Einsetzung all seiner Energie dieser Gesellschaft vorzuführen gesucht. Und was war sein Lohn gewesen? Einer hatte ihm gesagt, daß er furchtbar schwitze, und der andre die »Viechsarbeit« anerkannt! Die meisten hatten überhaupt gar nichts gesagt, sondern nur gegessen und getrunken und sich mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt. Und das waren noch die Rücksichtsvolleren gewesen, denn bei denen konnte doch noch ein Verständnis vorausgesetzt werden, solange sie das Gegenteil nicht offen bekundet hatten. Raphael Silberstein, seine Mutter und ein paar von den ganz jungen Leuten beteten ihn freilich an, aber das hatte er auch schon vorher gewußt. Ja, Florian Mayr begriff in dieser Stunde das Martyrium des schaffenden Künstlers, dem es versagt ist, sein Werk in der Form, wie es geplant war, vor die wirkliche große Oeffentlichkeit zu bringen. Und doch war jeder einzelne von diesen grausamen Leuten hier persönlich unschuldig, sicherlich standen sie alle unter dem Eindruck, daß ein wirklicher Künstler sich abmühte, ihnen für sein Werk Verständnis abzuringen – und dennoch wußten sie ihm nichts zu sagen, als Plattheiten, die ihn erbosen mußten.

Florian setzte sich nieder mit dem festen Entschluß, für seine Person wenigstens mit Ernst und Achtung dem Vortrag zu folgen; aber das war nicht so leicht ausgeführt, und der beste Wille konnte es nicht verhindern, daß er bald ebenso müde und zerstreut ward, wie die andern auch. Es war unmöglich, selbst mit der lebhaftesten Vorstellungskraft sich die fehlende Scenerie, die menschlichen Stimmen und die bunten Farben des Orchesters zu diesem betäubenden Klaviervortrag hinzuzudenken. Nach einer weiteren halben Stunde ertappte er sich bereits darauf, daß er mit Spannung den Moment abwartete, wo Fräulein Ilonkas berühmtes Fußerl wieder unter dem Saum ihres Kleides hervorschauen würde, und dann ward er gewahr, daß der Baron in dieselben interessanten Untersuchungen vertieft war. Dann schlug Fräulein Ilonka ihren großen Fächer auf und flüsterte rechts und flüsterte links; man lächelte, man kicherte; Libussa Tomatschek warf mit entrüsteten Blicken um sich, die Hühnchenmama seufzte immer bekümmerter, die dicke Sängerin gähnte, der Hofkapellmeister war am Einschlafen, der schöne Tomatschek zupfte mit geziert gespitzten Fingern seine Augendeckel in die Höhe, wobei es immer einen leise pitschenden Laut gab, von den jungen Herren drückten sich einige ins Nebenzimmer, um sich die Reste des Buffetts einzuverleiben, und Raphael Silberstein rutschte so nervös auf der äußersten Kante seines Stuhls herum, daß man allgemein mit Spannung den Moment erwartete, wo dieser unter ihm umkippen würde.

Unter einem Höllenspektakel fiel der Vorhang über dem Vorspiel der Tetralogie »Mensch«. Satan hatte ausgerungen, und wie erlöst sprang alles von seinem Sitze empor. Einige klatschten ganz banausisch in die Hände, alle drängten sich um den Komponisten, um einige superlativische Worte loszuwerden, die ihnen just einfielen oder die sie sich die ganze Stunde hindurch überlegt hatten. Alle aber hatten es sehr eilig, heimzukommen, bedankten sich bei dem Hausherrn für den großen Genuß – und zehn Minuten nach Satans Ende staute sich bereits die ganze Gesellschaft im Korridor, kroch in die Paletots, half den Damen beim Anziehen und fingerte die Fünfgroschenstücke für das Dienstmädchen aus den Börsen heraus.

Halb zwölf Uhr war's geworden; aber als Florian Mayr am Luisenplatz ankam und unter der Laterne vor seiner Hausthür auf die Uhr schaute, da war es – halb drei! Er war mit dem Baron von Ried und der Ilonka Badacs und den Tomatscheks, Vater und Tochter, sowie zweien von den jüngsten Herren noch kneipen gewesen – und als Resultat des ganzen Abends brachte er die Ueberzeugung mit heim, daß er noch nie ein so verrücktes Frauenzimmer wie die Dunkellockige und noch nie ein so amüsantes wie die Ilonka kennen gelernt habe.


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