Ernst v. Wolzogen
Der Kraft-Mayr
Ernst v. Wolzogen

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Zehntes Kapitel.

Der Sündenfall.

Das war ein reicher, gesegneter Frühling für unsern Florian. Jeder Tag, den er hier in der kleinen Musenstadt, in die Machtsphäre des Genius gebannt, verleben durfte, bot ihm so viel Nahrung für Herz und Geist, so viel Förderung für sein künstlerisches Streben, wie sonst Monate und Jahre nicht. Die Morgenstunden, die er meist ganz allein bei Liszt zubrachte, waren ihm die allerliebsten. Mit staunender Bewunderung lernte er die außerordentliche Arbeitskraft, die unermüdliche Pflichttreue und wunderbare Geistesfrische des greisen Meisters kennen. Wenn Florian um acht Uhr bei ihm antrat, so war Liszt schon mindestens drei Stunden lang aufgewesen; manchmal erhob er sich gar schon um Vier. Dann ging er in die Frühmesse, las in seinem Brevier und versenkte sich im tiefen Frieden des Frühlingsmorgens in den Gedankenkreis der Arbeit, die ihn gerade beschäftigte. Nach dem Frühstück ging er die Morgenpost durch, und wenn dann Florian kam, so hatte er diese reichliche Postbescherung meist schon gesichtet. Der Sekretär bekam eine Anzahl Briefe zu erledigen, die mehr intimen behielt er zur eigenen Beantwortung zurück, und Florians Aufgabe war es hauptsächlich, die musikalischen Manuskripte oder auch gedruckten Notensendungen, die fast täglich in Fülle anlangten, prüfen zu helfen und alsdann den Absendern darüber zu schreiben. Liszt hielt es für eine Pflicht, die ihm seine Stellung als erster Klaviervirtuose der Gegenwart und besonders als Vorkämpfer der neuen Richtung in der Musik auferlegte, alle Einsendungen gewissenhaft zu prüfen, und er widmete der Erfüllung dieser wahrlich nicht leichten Pflicht tagtäglich mehrere Stunden. Mit oberflächlicher Tagesware, die nur Erzeugnis handwerksmäßiger Fertigkeit war, hielt er sich natürlich nicht lange auf. Dergleichen wurde mit einem Scherz abgethan und in die passende Rubrik verwiesen. Sobald aber der Meister beim ersten flüchtigen Blättern in einem Manuskript auch nur eine Spur von Eigenart, von ernstem Suchen nach neuen Ausdrucksformen oder ein sicheres Beherrschen überkommener fester Kunstformen bemerkte, da verweilte er und prüfte bedächtig. Er setzte sich selbst an den Flügel und spielte die oft schwer lesbaren und verzwicktesten Partituren so glatt herunter wie irgend einen sauber gedruckten Klaviersatz. Oft forderte er Florian auf, eine solche Partitur vierhändig mit ihm zu spielen. Das machte ihm anfangs große Schwierigkeiten, und er war froh, wenn er nur den Baß richtig brachte und die hervortretenden Stimmen herausfand. Aber durch die Unterweisung des Meisters lernte er viel und schnell. Wenn Florian entlassen war, arbeitete der Meister einige Stunden allein, bis um die elfte oder zwölfte Stunde. Dann machte oder empfing er Besuche und dann speiste er; meist bei einer seiner alten Freundinnen oder auch bei Hofe, seltener allein. Zu diesen Mahlzeiten daheim wurde meist auch der eine oder andre der bevorzugten Schüler aufgefordert, ebenso zum Spaziergang, den Liszt gegen Abend zu machen pflegte, wenn sich der »Schwarm« verlaufen hatte. Die Abendgesellschaften, die der Meister auch ziemlich häufig gab, hatten mehr den Charakter von Konzerten. Es wurden dazu viele Laien eingeladen, besonders Herrschaften aus der Hofgesellschaft. Der Großherzog selbst war fast ein ständiger Gast bei diesen Veranstaltungen, ebenso wie auch seine Töchter, die Prinzessin Reuß und die damals noch unvermählte Prinzessin Elisabeth. Ging der Meister abends nicht in Gesellschaft oder sah er nicht selbst Gäste bei sich, so benützte er den Abend zu schöpferischer Thätigkeit oder zur Lektüre. Um elf Uhr, manchmal auch noch später, ging er zur Ruhe.

Am glücklichsten war Florian, wenn er in den herrlichen Morgenstunden die Rede auf des Meisters eigene Werke bringen konnte und dieser sich dazu herbeiließ, sie am Klavier mit ihm durchzugehen. Die großen Chor- und Orchesterwerke Franz Liszts waren damals noch weit mehr als heute mit scheuem Mißtrauen betrachtete Fremdlinge in der musikalischen Welt. Die packende Gestaltungskraft, die dramatische Wucht Richard Wagners hatte längst schon das Zetergeschrei der musikalischen Zopfträger zum Schweigen gebracht und den allergrößten Teil des Publikums mit sich fortgerissen. Das »Kunstwerk der Zukunft« war tatsächlich bereits das Ideal der Gegenwart geworden, und dennoch hatte Liszt mit seinen symphonischen Dichtungen und großen Chorwerken, die doch aus demselben Geiste heraus wie Wagners Tondramen geboren waren, im Jahre 1880 noch immer gegen die Aengstlichkeit der Konzertdirigenten, die Böswilligkeit der zünftlerischen Kritik und die Verständnislosigkeit des Publikums zu kämpfen, wie Wagner bis in die siebziger Jahre hinein zu kämpfen gehabt hatte. Es war vielleicht der einzige Schmerz, der den heiteren Lebensabend des glücklichsten Künstlers unsres Jahrhunderts trübte, die einzige bittere Erfahrung, die dies überaus gütige und verzeihende Herz selbst zuweilen mit schmerzlichem Groll erfüllen konnte. Selbstlos war er beiseite getreten, als das rücksichtslos männlich geartete Genie Wagners freie Bahn für sein Schaffen erheischte. Er hatte mit Einsetzung seiner ganzen Persönlichkeit dem von ihm selbst als der Größere Anerkannten die Wege ebnen helfen, er hatte durch Wort und Schrift aufklärend gewirkt, durch Geldopfer und unablässige persönliche Bemühung den mit der Not kämpfenden Verbannten über Wasser gehalten – nun war jener glorreicher Sieger geblieben, während er selbst, der auch mit seinem Schaffen Vorläufer und Vorkämpfer des Gewaltigen gewesen war, sich von der Allgemeinheit immer noch nur als der genialste Klavierspieler des Jahrhunderts, nicht aber auch als ein Tondichter von einzigartiger Bedeutung, als kraftvoller Neutöner und Pfadfinder anerkannt war. Sobald er daher bemerkte, daß dieser unscheinbare Florian Mayr mit seiner rührenden Verehrung nicht nur vor dem Klavierheros, sondern weit mehr noch vor dem Komponisten kniete, wuchs die Teilnahme, die er diesem bescheidenen jungen Manne entgegenbrachte, zu einer ernsten väterlichen Zuneigung heran, die ihre Nahrung aus der Hoffnung sog, in ihm sich einen verständnisvollen Dolmetsch seiner großen unverstandenen Werke, einen treuen Bewahrer seines geistigen Erbes heranziehen zu können. So entwickelte sich denn in diesen fruchtbaren Morgenstunden aus dem Bayreuther Organistensohn ein echter Lisztdirigent.

Und noch eine andre höchst wertvolle Eigenschaft entdeckte der Meister bald genug an seinem Schüler: seinen zornmütigen Eifer gegen die zudringlichen Schmarotzer, den bloß neugierigen Pöbel, der sich überall an den berühmten Mann heranzudrängen suchte. Als Abschreckungsmittel, als unerbittlich strenger Thürhüter und, wenn's sein mußte, gar als hinauswerfender Hausknecht war niemand besser zu gebrauchen als Florian Mayr. Liszt war bei seiner übergroßen Gutmütigkeit einigermaßen energischen Angriffen gegenüber vollständig wehrlos. Er ließ sich sogar die Freundschaft und Duzbrüderschaft von ein paar im Grunde herzlich unbedeutenden Menschen aufdrängen, die ihm irgendwann einmal gute Dienste geleistet hatten und nun aus seiner Dankbarkeit Kapital schlugen. Da erwies sich denn Florian als ein wahres Juwel. Er kannte keine Rücksicht, weder auf das schönere Geschlecht, noch auf Namen und Rang, und er führte mit einer wahren Wonne die unangenehmsten Aufträge aus und ließ sich weder durch Schmeicheleien, noch durch böse Blicke und scharfe Worte zur Nachsicht bewegen gegen Leute, von denen der Meister verschont zu bleiben wünschte. Es konnte natürlich nicht ausbleiben, daß er als neuester Günstling bald in ganz Weimar bekannt war und daß er infolgedessen fast ebenso viele Neider als Kollegen hatte. Trotzdem hütete man sich, es mit ihm zu verderben, denn wenn er rachsüchtig war, konnte er einem vielleicht übel schaden. So zog man es denn vor, ihm ins Gesicht zu schmeicheln und sich hinter seinem Rücken über ihn lustig zu machen, und wer ein Anliegen an den Meister hatte, unterließ es selten, Herrn Mayr um gütige Befürwortung anzugehen. Aber er wies alle solche Zumutungen, selbst wenn sie harmloser Natur waren, schroff von sich und ließ sich nicht einmal durch die verführerischen Blicke schöner Damen bestechen.

Das einige weibliche Wesen, zu dessen Gunsten er gleich anfangs einmal ein gutes Wort einlegte, das war seine Hausgenossin, jene Helena Mikulska, mit der er trotz freundlichsten Entgegenkommens von seiner Seite immer noch nicht besser stand als am ersten Tage. So oft er sie auch schon angeredet, nie hatte er eine andre Antwort bekommen als immer dasselbe blitzdumme »Frau Mutter erlaubt nicht«. Ein oder zweimal war ihm auch die Frau Mutter selbst im Hausgang begegnet; aber die war noch schlimmer als die Tochter: die starrte ihn mit so einem entsetzten Ausdruck an, als ob er die Börse oder das Leben von ihr gefordert hätte, und lief alsbald in lächerlicher Hast davon. Er erfuhr von der Wirtin, daß diese sonderbare Dame fast gar kein Deutsch verstehe und außerdem eine wahrhaft kindische Angst vor Dieben, Mördern und Gespenstern habe. Uebrigens war die Frau noch sehr jung, noch Anfang der Dreißiger, aber ihre hilflose Verlassenheit und die bleiche Not grinsten ihr aus den tiefliegenden Augen und färbten die welken Wangen mit ihrer kalkigen Leibfarbe. Es half nichts, daß Florian sich immer wieder einen Narren schalt und die »damischen Weibsbilder« zum Teufel wünschte; ihr jammervolles Elend drängte sich seinem mitleidigen Herzen tagtäglich auf und ließ ihm keine Ruhe. Und darum machte er eines Tages seinen Meister auf den fabelhaften Fleiß und das bedeutende Können des Mädchens aufmerksam und erbat für sie die Erlaubnis, einmal vorzuspielen, damit sie, mit der gewichtigen Empfehlung Franz Liszts versehen, sich irgendwo ihr Brot suchen könne. Der Meister bat ihn, ihm das Mädchen doch gleich am nächsten Morgen zuzuführen, und versprach, sein Möglichstes für sie zu thun.

Voller Freude eilte Florian heim und klopfte ohne weiteres bei den Mikulskas an. Er vernahm kein Herein, wohl aber ein aufgeregtes Geflüster nach plötzlicher Unterbrechung des Klavierspiels und dann schleichende Schritte, die sich der Thüre näherten. Vermutlich wollte jemand durchs Schlüsselloch spähen. Da klopfte er noch einmal derb an und trat dann sofort ins Zimmer hinein. Richtig – die kleine Olga sprang erschrocken zur Seite, und die Mutter stand mit der Aelteren am Klavier und beide empfingen den Eindringling mit einem leisen Aufschrei.

Florian lachte ihnen gemütlich entgegen: »Grüß Gott, meine Damen! Erschrecken S' nur nit gleich, ich bin's bloß; ich bring' Ihnen eine gute Nachricht – Sie erlauben wohl, daß ich mich ein bißl niedersetze?« Ohne die förmliche Erlaubnis erst abzuwarten, setzte er sich auf den nächsten Stuhl, nickte der großen Schwester freundlich zu und rief vergnügt: »Also Sie, Fräulein Helene, jetzt passen S' amal auf: Morgen in der Früh um Acht sollen S' zum Meister Liszt kommen und ihm was vorspielen; er will was für Sie thun, damit Sie endlich einmal aus Ihrem gegenwärtigen miserablen Zustand herauskommen. Na, was sagen S' jetzt? Heißt's da auch wieder: Frau Mutter erlaubt nicht!«

Helena wurde abwechselnd rot und totenblaß, und dann redeten die beiden Mädchen mit großer Zungenfertigkeit polnisch auf die Mutter ein; das dauerte eine ganze Zeit, und Florian ließ sie ruhig schwatzen und beobachtete nur aufmerksam ihr Mienenspiel. Die kleine Olga war augenscheinlich die einzige, die sich der guten Botschaft freute und den beiden andern eifrig zuredete, die Gelegenheit wahrzunehmen, wogegen die Mutter und Helena einander nur etwas vorzujammern wußten.

Schließlich wurde Florian aber doch ungeduldig, weil niemand Miene machte, ihm eine Antwort zu geben. Er faßte die Kleine bei der Hand, zog sie zu sich heran und sagte: »Da geh her, Kind, du scheinst mir noch die Vernünftigste von der ganzen Gesellschaft – jetzt sag mir bloß, was des bedeuten soll! Freut sich denn die Schwester gar net a bißl?«

»Oh, Schwester freut sich doch. – Sind wir sich doch hergekommen, um vorzuspielen Liszt; aber haben wir uns nichts anzuziehen!«

»Ja, wenn Ihr meint, der Meister thät' mehr aufs G'wand, als auf die Leistung schau'n, da seid's aber arg auf dem Holzweg!«

Olga verpolnischte der Mutter, was Florian gesagt hatte, und darauf erhob sich ein neues aufgeregtes Lamentieren zwischen Helenen und ihrer Mutter. Helena wurde ganz aufgeregt, trat vor Florian hin und sagte, indem sie in wütender Scham mit beiden Händen an ihrer kümmerlichen Gestalt herunterstrich, die nur mit einem alten braunwollenen Unterrock und einer rotgestreiften Kattunbluse bekleidet war: »Da, bitte, sehen Sie, Herr Mayr – ist sich fein, nicht wahr? Frau Mutter hat besten Rock an – gehört sich für beide. Wer ausgehen muß, zieht sich besten Rock an und Regenmantel darüber. Regenmantel gehört sich auch für beide.«

Klein Olga rief mit schriller Kinderstimme ganz zornig etwas dazwischen, lief nach dem Kleiderschrank und holte das ganze bißchen Plunder, das sich darin fand, heraus. Sie warf das Zeug auf den Tisch, und dann machten sie sich alle drei darüber her, wühlten Röcke, Taillen und Blusen daraus hervor, breiteten sie vor Florian aus, indem sie ihn auf die allgemeine Schäbigkeit und Flickarbeit aufmerksam machten und dazu polnisch und deutsch durcheinander kreischten, daß er kaum ein Wort verstehen konnte. Olga pries mit glühendem Eifer ein weißes Waschkleid an, das in der That noch ganz gut bei einander zu sein schien, aber Helena behauptete, daß ihr das kaum noch über die Kniee reiche, und warf es unwirsch der eifrigen Kleinen ins Gesicht.

Florian war ganz verzweifelt über die schrecklichen Frauenzimmer und schrie endlich, so laut er konnte, in den Lärm hinein: »Ja, Hergottsakrament, gehn S' doch meinetwegen im Hemd und Regenmantel! Das sind doch alles elende Nebensachen.« Und als die drei darob wieder ein großes Geschrei erhoben, fügte er hinzu: »Also is recht, dann warten wir noch ein paar Tage, bis Sie sich ein anständiges Gewand angeschafft haben. Ich leg' die Kosten dazu derweil aus, wenn Sie's nicht haben. Die Hauptsach' ist doch, daß Sie's endlich einmal zu etwas bringen. Sie üben sich ja rein um den Verstand, und daß Sie hungern, sieht man Ihnen auf hundert Schritt weit an!«

»O wir hungern nicht sehr,« entgegnete Olga, »wir haben immer Brot und Milch und Kartoffel!«

»Aber davon ernährt man doch seine Nerven nicht, Kreuzteufel!« schrie Florian. »Und mit Ihrer wahnsinnigen Ueberei verbrauchen Sie in einem Monat mehr Nerven, als ein andrer das ganze Jahr! Woraus wollen S' denn noch warten? Oder haben Sie vielleicht ein kleines Kapital, wovon Sie zehren, bis das Fräulein auf die Menschheit losgelassen werden kann als Konzertvirtuosin? Bilden Sie sich nur nit ein, daß da gleich im Handumdrehen ein Vermögen herausspringet – Sie bringen sich ja überhaupts schon vorher um mit Kartoffelpampfen und Nervenzerrüttung. Und wenn S' wirklich bis zum Auftreten kommeten – meinen S' etwa, daß die Leut' sich um die Billetten raufen thäten, wenn's bloß so ein elendes Hascherl im schlechten Gewand und mit nix hinten und nix vorn zu sehen gäb'?«

Mit weit aufgerissenen Augen und schmerzlich verzerrtem Gesicht hatte Helena zugehört und übersetzte der Mutter mit fliegendem Atem den Sinn der Rede. Auf einmal fingen die beiden Frauen zu weinen an; ganz herzbrechend schluchzten sie und hielten einander umschlungen. Florian that es leid, daß er so hart und deutlich die Wahrheit gesagt hatte. Er trat auf sie zu, um ihnen gut zuzureden, aber da flohen sie vor ihm in die entfernteste Ecke des Zimmers. Seufzend gab er's auf, streichelte der Kleinen im Vorbeigehen über das glatte blonde Haar und flüsterte ihr zu: »Geh, Kleine, du bist gescheit, red' ihnen zu und bring mir Bescheid, was werden soll – kriegst auch einen Schokolade!« Damit verließ er das Zimmer.

Nach dem Mittagessen kaufte Florian einige Tafeln Schokolade, sowie allerlei Kuchenwerk, und als er an der Auslage eines Modegeschäfts vorbeikam, stachen ihm ein paar hübsche Kinderhüte so in die Augen, daß er hineinging und einen davon kaufte; einen hellen, großen Strohhut mit breitem, rotem Seidenband hübsch garniert. Die kleine Olga lief in ihrem schäbigen alten Filz mit dem schmutzigen, zerknitterten Band und den struppigen Federn wirklich zum Skandal herum. Er freute sich schon zum voraus über die großen Augen, die das Kind zu solcher Herrlichkeit machen würde, und rechnete bestimmt darauf, daß auch die ältere Schwester Zutrauen zu ihm fassen und seine Hilfe annehmen würde, wenn sie diesen Beweis seiner guten Absicht sähe.

Nah vor seiner Hausthür traf er mit seinen Ueberwohnern zusammen, dem Mister Crookes mit seinen beiden großen Buben, die, obwohl sie schon neunzehn und siebzehn Jahre alt waren, noch Kniehosen und lächerlich kurze Jäckchen tragen mußten, was zu jener Zeit, wo in Deutschland der Sport mit seinem wohlthätigen Einfluß auf die Männerkleidung erst ein ganz bescheidenes Dasein führte, immerhin noch Aufsehen erregte. Er war den Engländern bisher nicht nähergetreten, hatte aber doch hie und da ein paar Worte mit ihnen gewechselt, so daß er sie allenfalls seinen Bekanntschaften zuzählen durfte. Wie es der Deutsche immer thut, hielt Florian von vornherein jeden Engländer im Ausland für schwer reich, und sofort kam ihm der Gedanke, diesen Mr. Crookes zum Besten der Mikulska auszubeuten. Nach einigen vorbereitenden Redensarten lud er die drei ein, ihn in sein Zimmer zu begleiten.

Die Crookes, die wie alle Engländer kontinentaler Höflichkeit gegenüber in eine schier hilflose Steifheit verfielen, folgten etwas erstaunt dieser Einladung und harrten, als sie Platz genommen, wortlos der Dinge, die da kommen sollten. Uebrigens verstanden und sprachen sie für Engländer recht gut deutsch.

Florian fragte zunächst, ob er ihnen nicht ein Glas Bier anbieten dürfe, was jedoch von Vater Crookes mit kaum verhehlter Entrüstung zurückgewiesen wurde. Darauf holte Florian den eben gekauften Strohhut aus seiner Papierhülle heraus, wies ihn den Besuchern mit komischer Genugthuung vor und fragte, was das sei.

» Well, das ist ein Hut für ein ganz kleines Mädchen,« antwortete Mr. Crookes mit vollkommener Gemütsruhe, während die beiden großen Buben bescheiden grinsten.

»Richtig: aber wo ist das kleine Mädchen zu diesem Hute?« fuhr Florian pfiffig fort; und als ihm auf diese Frage nur ein Achselzucken antwortete, deutete er mit dem Daumen über die Schulter und flüsterte geheimnisvoll: »Da drüben wohnt sie und Olga Mikulska heißt sie!«

Die beiden Boys setzten sonderbare Gesichter auf, und der Vater betrachtete sie stirnrunzelnd von der Seite. Er schien wahrhaftig zu glauben, daß dieser Florian Mayr ein ganz frivoler Geselle wäre, der ein sonderbares Vergnügen daran fände, die ersten besten Fremden in seine ruchlosen Pläne einzuweihen. Und er überlegte, wie er mit Anstand fortkommen und seine unschuldigen Knaben dieser gefährlichen Gesellschaft entziehen könnte.

Florian aber merkte nicht, welch sonderbarer Mißdeutung er sich aussetzte, sondern schilderte seinen Gästen mit schlichter Wahrheit das trostlose Elend ihrer Hausgenossen und forderte sie zum Schluß auf, einen Beitrag zur Beschaffung der notwendigsten Kleidung für die Klavierspielerin zu leisten.

Es trat eine ziemlich lange Pause ein. Florians Schlußwendung war den Herrschaften offenbar überraschend gekommen. Der jüngste Master Crookes ergriff seltsamerweise zuerst das Wort, indem er sich an seinen Vater wandte mit der nachdrücklichst hingelegten Meinung, daß das Fräulein drüben zweifelsohne scheußlich häßlich sei. »She's awfully ugly, no doubt.«

Der ältere Bruder kicherte hinter vorgehaltenem Hute und bekräftigte diese Ansicht mit einem entschiedenen: »Yes to be sure!«

»Mind your own business, please – will you?« fuhr der alte Herr seine großen Buben zornig an. Und dann nahm er sein Kinn in die Hand, rieb sich nachdenklich daran herum, klopfte sich mit dem Zeigefinger gegen den Nasenflügel und gelangte durch diese Vorbereitungen endlich dazu, seine Meinung kundgeben zu können. » Aoh, ich werde Ihnen sagen,« äußerte er sich, »ich liebe nicht Liszt, ich liebe nicht diese ganze Art von Musik; ich liebe Händel, Bach, Mozart und Beethoven – von den neuesten liebe ich etwas Mendelssohn, Schumann, Brahms – aber Brahms liebe ich nicht viel!«

»Ja, mein bester Herr, was hat denn das damit zu thun?« unterbrach ihn Florian ungeduldig. »Ich zum Beispiel liebe Liszt über alles und über alle – würden Sie mich deshalb vielleicht ersaufen lassen, wenn Sie grad vorüberkämen und mir leicht helfen könnten?«

» Aoh, das ist etwas andres!« versetzte Mr. Crookes unbeirrt, »Sie können lieben, was Sie wollen, mein lieber Herr, denn Sie wollen nicht mein Geld für sich; aber wenn dieses junge Mädchen mein Geld für sich will, so soll sie lieben, was ich liebe.«

Florian fuhr sich verzweifelnd durch den Schopf. »Aber Mister Crookes,« rief er, »zum Donnerwetter – entschuldigen Sie! lassen Sie doch die Musik ganz aus und bedenken Sie einfach, daß hier drei ehrenwerte Frauenzimmer einfach am Verhungern sind – sie leben von Milch, Brot und Kartoffeln und bekommen nie ein Stück Fleisch zu schmecken!«

» Aoh, das ist sehr gesund,« erwiderte Mr. Crookes, mit dem Kopfe nickend. »Der Mensch, welcher Leichenteile verzehrt, nährt dadurch nur seine bösen Instinkte und ist nicht geeignet für die wahre Philosophie!«

Florian war nahe daran, aus der Haut zu fahren. Mit größter Anstrengung schluckte er einen meterlangen Fluch hinunter und sagte nur, nervös lachend: »Also is nix? Na – auch gut! Ich muß mich nur bedanken, daß die Herren mich so geduldig angehört haben. Als leichenverzehrender Lisztianer muß ich Ihnen ja doch ein Gegenstand des physischen und moralischen Ekels sein!«

Mr. Crookes lächelte so liebenswürdig, als ihm dies bei der lederartigen, langfaltigen Beschaffenheit seines Antlitzes überhaupt möglich war, und sagte: » Aoh, mein lieber Herr, Sie sind noch nicht verloren. It's never too late to mend, sagen wir in Inglisch; das heißt: es ist nie zu spät, zu verbessern. Ich werde Ihnen einige Schriften schicken, und ich hoffe, Sie werden sich verbessern. Außerdem darf ich Ihnen raten in Bezug auf das junge Mädchen: folgen Sie meinem Prinzipel: Never to interfere – niemals sich einmischen! Guten Tag, mein lieber Herr, es hat mich sehr gefreut!«

Er schüttelte Florian kräftig die Hand, die beiden jungen Herren folgten schweigend seinem Beispiel, und dann gingen sie alle drei hinaus.

Florian starrte ihnen einige Sekunden lang mit offenem Munde nach, dann brach er in ein lautes Gelächter aus. Plötzlich wurde hart an die Thür gepocht, und herein trat noch einmal Crookes senior allein.

Er behielt die Klinke in der Hand und sprach von der Schwelle aus also: » Aoh, ich habe vergessen – ich werde doch etwas thun: ich werde die Spirits fragen, ob diese Mädchen wirklich verhungern werden. Und wenn die Spirits mir sagen werden, wenn diese Mädchen wirklich verhungern werden, so werde ich ihnen etwas geben für Milch und Brot.« Er nickte mit dem Kopfe und schob sich wieder hinaus, ohne den Eindruck seiner Worte abzuwarten.

Florian warf sich auf sein Sofa und strampelte mit den Beinen, um seinen Gefühlen Luft zu machen. So etwas von Verrücktheit war ihm denn doch noch nicht vorgekommen. Da von dieser Seite für seinen menschenfreundlichen Plan nichts zu hoffen war, sann er auf andre Unterstützung, und plötzlich fiel ihm Ilonka Badacs ein. Ja, wie er nur an die nicht gleich hatte denken können! Die warf mit dem Gelde nur so um sich, und gutherzig war sie auch. Ihr Verhältnis zu einander war jetzt ein sehr schönes. Der Unterricht machte ihnen beiden viele Freude. Sie war sehr fleißig und nahm ihm seinen oft derben Tadel niemals übel, und er war stolz darauf, eine so hochbegabte Schülerin zu haben, und vergaß im Eifer der künstlerischen Arbeit sogar beinahe seine Verliebtheit. Er bekam regelmäßig seinen Kuß zum Abschied und manchmal auch noch ein paar darüber; aber das war so eingebürgerte Sitte geworden, daß sie beide bald dazu gelangten, das bißchen Zärtlichkeit mehr scherzhaft freundschaftlich aufzufassen. – Die gute Ilonka mußte helfen. Ueber diesem Gedanken entschlummerte er zur kurzen Mittagsruhe.

Er erwachte von einem leisen Klopfen an seiner Thür. »Herein!« rief er, sprang auf die Füße und rieb sich die Augen. Da stand die kleine Olga Mikulska auf der Schwelle, zog rasch die Thür hinter sich ins Schloß und machte ihm dann einen verlegenen kleinen Knicks.

»Ja, grüß dich Gott, Kind!« rief Florian fröhlich– er ging ihr entgegen, nahm sie bei der Hand und führte sie zum Tische, auf dem die Leckereien und der Hut lagen.

»Eh' du noch was sagst, sperr einmal deinen Schnabel weit auf!« ermahnte er die Zaghafte. Sie that, wie ihr geheißen, und da stopfte er ihr ein großes Stück Kuchen in den Mund.

Das Kind kaute und machte so große selige Augen dabei. Es konnte es kaum glauben, daß all die Herrlichkeit ihm gehören sollte; und nun gar der prächtige Hut, den ihm der gute Herr alsbald aufsetzte! Es ließ sich ein Stück Kuchen nach dem andern in den Mund stecken und sich vor den Spiegel führen, um sich in seinem Staat zu bewundern.

Florian mußte sich nun freilich sagen, daß der feine Hut sich zu den elenden Lumpen des Mädchens gar nicht schicken wollte und daß er auch nicht einmal im stande war, aus ihrem unschönen Gesichtchen mit dem schlechten Teint und den straff geflochtenen bäurisch blonden Zöpfen etwas zu machen. Aber er freute sich doch der sprachlosen Ueberraschung des armen Kindes und redete ihm ein, daß der Hut ihm prächtig stehe. Erst als Olga allen Kuchen aufgegessen hatte, erkundigte er sich, was denn nun Schwester Helena für einen Entschluß gefaßt habe.

» Boje pomoz mnie – Schwester ist dumm!« flüsterte Olga mit einer drolligen wegwerfenden Handbewegung, und Frau Mutter ist . . .« Da stockte sie.

»Frau Mutter ist auch dumm!« ergänzte Florian mit zufriedenem Kopfnicken. »Nun, und was sagt Frau Mutter?«

»Frau Mutter sagt: Mädchen dürfen von Herren keine Geschenke nehmen, weil sich serr gefährlich ist!«

»Das ist eine sehr gute Lehre von Frau Mutter,« neckte Florian, die Sprache der Kleinen nachahmend, »aber ich will dir was sagen, Kleine: euch schenkt keiner was, der's nicht sehr gut mit euch meint!«

»Warum?«

»O jegerl, weil ihr net darnach ausschaut, ihr armen Hascherl!« sagte Florian halb für sich. Das Kind blickte verständnislos zu ihm auf, und er klopfte ihm freundlich die bleichen Wangen. Er fragte Olga allerlei über ihre Verhältnisse, und es war nicht schwer, sie zum Reden zu bringen. Der Vater, Herr von Mikulski, war Stabskapitän in der russischen Armee gewesen und wegen politischer Verdächtigkeit nach Sibirien verbannt worden, als Olga erst drei Jahre zählte. Die Familie blieb in den dürftigsten Umständen zurück, sie besaß nur ein kleines Kapital, das kaum sechshundert Rubel Zinsen trug. Die Mutter war nicht im stande etwas zu verdienen. Für körperliche Arbeit war sie zu schwächlich und sonst etwas irgendwie Verwertbares hatte sie nicht gelernt. Da war denn Helena darauf gekommen, ihr musikalisches Talent auszubilden, das sich schon früh zeigte. Ein Warschauer Professor hatte sich für sie interessiert und ihr umsonst Unterricht erteilt. In den letzten Jahren hatte sich aber ihr Brustleiden so bedenklich entwickelt, daß die Aerzte einen dauernden Aufenthalt im Süden für durchaus notwendig erklärten. Um die Uebersiedelung bewerkstelligen zu können, hatte die Mutter ihre ganze fahrende Habe verkaufen müssen. Ein Jahr lang hatten sie in einem billigen Städtchen in Galizien gelebt, wo Helenas Gesundheit sich in der That gebessert hatte. Nun hausten sie seit einem Monat in Weimar, das sie in ihrer Einfalt zum tiefsten Süden zu zählen schienen, und lebten nun so planlos hin unter den schlimmsten Entbehrungen, einzig von der Hoffnung getragen, daß Liszt Helenen zu einer Stellung verhelfen oder vielleicht der Vater begnadigt werden und zurückkehren würde. Irgend welche vernünftigen Schritte, um schon jetzt mit ihrem Klavierspiel etwas verdienen zu können, schien aber Helena bis jetzt noch nicht gethan zu haben, und es ging ganz klar aus Olgas Darstellung hervor, daß die Mutter daran hauptsächlich die Schuld trug. Diese gute Dame mußte eine furchtbar dumme Person sein und eine geradezu lächerliche Angst davor haben, daß ihre armen, garstigen, verhungerten Mädchen durch Nachstellungen der Männer zu Schaden kommen könnten. Auf diese Weise war es natürlich unmöglich für sie, helfende Freunde und einflußreiche Fürsprecher zu gewinnen.

Während die Kleine noch erzählte, klopfte es an der Thür und auf Florians »herein« traten die beiden jungen Herren Crookes ein. Sie wurden beide rot und entledigten sich mit verlegener Hast des Auftrages ihres Vaters, Florian einige Traktätchen und Zeitschriftenhefte zu überbringen, welche von der Verderblichkeit des Alkohols, der alleinseligmachenden Wirkung des Gemüseessens und der Herrlichkeit des Spiritismus handelten, und von denen die meisten in englischer Sprache abgefaßt waren.

Die beiden großen Buben schienen es eilig zu haben, wieder hinauszukommen, aber Florian hielt sie fest und bat sie lachend, doch den englischen Teil ihrer Schriften gleich wieder mitnehmen zu wollen, da er dieser Sprache nicht mächtig sei.

Da setzte der ältere Master Crookes eine gar schlaue Miene auf und sagte: »O Sie brauchen ja gar nicht zu lesen – Vater ist zufrieden, wenn Sie die Sachen nur behalten wollen. Er bekommt sie nach dem Gewicht geschickt – o wir haben viele Pfund von jeder Sorte – und er ist sehr traurig, weil die Leute in Deutschland so etwas nicht geschenkt nehmen wollen.«

»No, das Vergnügen kann ich ihm ja machen!« versetzte Florian, und dann stellte er die beiden jungen Herren dem Fräulein Mikulska vor und bat die ganze Gesellschaft, Platz zu nehmen. Er bot Zigarren an, aber natürlich durften die jungen Herren nicht rauchen.

Florian wurde schier nervös. Er kratzte sich am Kopf, verdrehte komisch die Augen nach oben und rief: »Ei du himmlische Barmherzigkeit, is des eine narrische Welt! Ich glaub' schon, daß man ohne Fleisch, Bier und Tabak zur Not auch leben kann, aber wenn einem des alles in jungen Jahren alleweil verboten wird, da müßt' man doch, mein' ich, erst recht einen infernalischen Gusto drauf kriegen!«

»O, wir haben schon Fleisch gegessen!« brütete sich der jüngere Crookes: »Wir haben eine Tante, Vater haßt sie, aber sie ist sehr reich und soll uns etwas lassen in ihrem Willen, wenn sie stirbt – darum schickt uns Vater manchmal zu ihr. Er haßt sie, weil sie uns Fleisch gibt und Wein und alles, was wir nicht dürfen. Aber wir lieben Fleisch sehr. Dick liebt es noch mehr wie ich.« Dabei wies er auf seinen älteren Bruder.

» Aoh!« sagte Dick und zeigte neckend auf den jüngeren, »und Bob ist schon einmal betrunken gewesen, sogar an einem Sonntag! Da hatte er eine schwarze Katze zum Nachmittagsdienst mit in die Kirche genommen unter seinem Rock und hat sie losgelassen. Alle Leute haben so gelacht, wie sie auf der Kanzel gestiegen ist, und der Kurat hat einen solchen Schrecken bekommen!«

»Oh, oh!« rief Florian, »da sieht man recht, daß der höllische Feind im Alkohol sitzt. Was hat denn der Herr Vater dazu gesagt?«

»O, der hat es nicht erfahren!« erwiderte Bob vergnügt. »Die Tante hat mir eine Ohrfeige gegeben, und da war die Geschichte all right.«

Die beiden jungen Herren wurden nun ganz vergnügt und gesprächig. Der Aufenthalt bei der Tante zählte offenbar zu ihren schönsten Erinnerungen, und sie gaben in echt kindlicher Fröhlichkeit noch allerlei Streiche, die sie dort ausgeführt hatten, zum besten. Florian gefielen die harmlosen großen Buben recht gut, und die kleine Olga lachte ein paarmal laut auf bei ihren Erzählungen. Sie brachen dann bald auf, da ihre Zeit zum Ueben gekommen war. Sie baten Florian um die Gefälligkeit, doch manchmal mit ihnen Trio zu spielen. Er gab gern seine Zusage und begleitete sie bis an die Thür. Da erwischte ihn Dick beim Aermel und zog ihn hinaus auf den Flur. Draußen flüsterte er ihm verlegen zu: »Wir würden so gern etwas geben für die armen polnischen Mädchen – aber wir haben kein Geld. Vater gibt uns fast nie Geld. Wir brauchen ja auch keins, denn Vater ist immer bei uns und bezahlt alles. Wir bekommen nur Geld, wenn wir Preise gewinnen – beim Boxen oder Fußball oder so etwas.«

Und Bob fügte wichtig hinzu: » Aoh, ich habe schon einmal ein Pfund bekommen, weil ich Vater beim Boxen zwei Zähne eingeschlagen habe. Er war sehr stolz auf mich. Aber jetzt boxen wir nicht mehr, weil es die Hände für das Geigen verdirbt.«

Damit empfahlen sie sich und sprangen vergnügt die Treppe hinauf.

Florian schickte nun auch die kleine Olga wieder fort, denn er hatte draußen im Flur gehört, wie Helene ihr Spiel plötzlich abbrach und einen fürchterlichen Hustenanfall bekam. Er trug dem Kinde auf, die Schwester zu ermahnen, doch ja ihre Kräfte recht zu schonen; denn sie müßte durchaus in den nächsten Tagen schon mit ihm zu Liszt gehen. Er glaube ihr versprechen zu können, daß die schwierige Kleiderfrage heute oder spätestens morgen eine glückliche Lösung finden werde. –

Er kam heute früher als gewöhnlich zu Fräulein Badacs, denn es drängte ihn, seinem Herzen Luft zu machen. »Wissen S', meine liebste Ilonka,« begann er ohne weitere Vorrede, sobald er in dem hübschen Zimmerchen auf dem gemütlichen Sofa saß, »wissen S', was der größte Fluch auf der Welt ist?«

»Ach, gehen S', Herr Mayr, jetzt wollen Sie auch auf die Waiber schimpfen! Is nicht schön von Ihnen, wo ich doch bin so lieb zu Ihnen.« Und sie beugte sich rasch über seine Schulter zu ihm nieder und gab ihm einen Kuß.

»Dank' recht schön!« sagte Florian lachend, »aber ich mein' gar net die Weiber – ich mein' die Eltern im allgemeinen. Es ist gar net zum sagen, wieviel Eltern ihre Kinder umbringen – geistig zumeist. Ich gift' mich schon so, ich könnt' gleich . . .« Dabei schlug er kräftig auf den Tisch. »Wieviel famosen jungen Leuten bin ich nicht schon begegnet, aus denen bloß nix wird und werden kann, weil s' narrische Eltern haben. Aber freilich, die Welt laßt sich seit jeher von so a paar dumme Sprüch' regieren, wie zum Beispiel: Das Alter müßt' man ehren unter allen Umständen – und: Das Ei dürft' nicht klüger sein wollen als die Henne. Ja, mein Gott, vom Ei will ich weiter nicht reden – aber daß die jungen Hahnen allemal g'scheiter sind als die alten Hennen, das is doch amal g'wiß wahr! Und weshalb ein alter Trottel ehrwürdig sein soll und bloß ein junger Trottel ein Trottel sein dürfen, des wüßt' i wirklich net zu sagen. Hat man schon einmal Anlage zur Blödheit, so wird man mit den Jahren doch nur immer blöder. Woher kommt denn des jetzt, daß die Alten gar so rabiat auf ihren Kopf besteh'n? Doch bloß davon, daß s' durch das, was s' noch schaffen können, und durch ihre persönlichen Vorzüge der Welt doch nimmer imponieren, deswegen lassen s' die ihre Macht recht fühlen, die von ihnen abhängen und sich net wehren können. Weiß Gott, 's Vieh is gescheiter: bald die Jungen allein fressen und laufen und sich wehren können, kümmern sich die Alten nimmer drum – und so is recht, so ist die vernünftige, heilige Ordnung der Natur – Himmelkreuzteufeltürken!« Und er schlug wieder auf den Tisch, daß das Theegeschirr, das noch daraufstand, zusammenklirrte.

Florian sah so komisch aus in seiner heiligen Entrüstung, daß Ilonka einen förmlichen Lachkrampf bekam. Sie versuchte zu sprechen, brachte aber kein Wort heraus.

»Ja, Sie haben gut lachen,« fuhr Florian eifrig fort, sobald sie sich einigermaßen beruhigt hatte. »Von Ihren zwei oder mehr Vätern hat sich keiner um Sie gekümmert, und Ihre Frau Mama Hopsasa – na, Gott hab' sie selig! Wenn was aus einem Menschen werden soll, muß er doch ganz alleinig dazu schauen – wenn aber die Eltern mit Gewalt aus einem was machen wollen, greifen sie's gewöhnlich grad am verkehrten End' an, und gar nix wird draus. Is's net wahr?«

»Ober gewiß ise wohr!« rief Ilonka, immer noch lachend. »Freind Mayr, Sie sind ein sähr bädeitender Philosoph!«

»Was da wohl viel Philosophie dazugehört!« polterte Florian. »Bloß zwei Augen und ein gemeiner Menschenverstand gehören dazu, nachher sieht man alle Tag' genug, daß ma' aus 'n heiligen Zorn im ganzen Leb'n nimmer 'rauskommt. Ich sag', es gibt zweierlei Eltern: erstens solche mit Kindern, die grad so saudumm sind wie sie selber, und zweitens solche mit Kindern, die bedeutend g'scheiter sind als sie selber. Die ersteren wollen ihre Kinder Sachen lernen lassen, die durchaus nicht in ihren Dickschädel hineingehen, und machen sie damit unglücklich; die andern erklären es für eine Unverschämtheit, wenn die Gedanken ihrer Kinder immer auf etwas andres gerichtet sind als ihre eigenen, und da wird mit Gewalt die unbequeme Eigenart unterdrückt. Es ist eine Schande, daß man eine solche G'sellschaft nicht wegen Kindsmord belangen kann! – So, Fräulein Ilonka, jetzt hab' ich mich einmal ausgesprochen; jetzt is mir wohler, Gott sei Dank! – Und jetzt passen S' auf, jetzt werd' ich meine Behauptungen durch passende Beispiele bekräftigen.« Und er erzählte mit zorneifriger Beredsamkeit den Fall Crookes und den Fall Mikulska.

Er hätte keinen dankbareren Zuhörer finden können als seine ungarische Freundin. Sie brannte vor Eifer, den verschrobenen Papa Crookes kennen zu lernen und ihm einen recht tollen Possen zu spielen. Das Schicksal der armen Helena Mikulska aber ging ihr wirklich zu Herzen, und sie erklärte sich sofort bereit, von ihren eigenen Kleidungsstücken das Nötigste herzuschenken, um das arme Mädchen gehörig auszustatten. Sie wollte ihr heute abend noch die Sachen selbst hinbringen und war überzeugt, daß sogar die Mutter Mikulska einer Frau gegenüber die thörichte Weigerung, etwas anzunehmen, aufgeben würde. Und mit Feuereifer machte sie sich daran, ihren Kleiderschrank und ihre Reisekörbe durchzuwühlen, um etwas Passendes für die arme Kollegin herauszufinden. Das war nicht ganz leicht, denn ihre Kleider waren meist viel zu kostbar und elegant. Endlich, nach langer Beratung zwischen den beiden, legte sie ein nicht mehr ganz neues, einfach gemachtes Seidenkleid für die Mikulska beiseite. Aber damit noch nicht genug – das arme Mädel mußte auch anständige Wäsche und Unterzeug dazu haben. Und sie warf schier den ganzen Inhalt ihrer Kommode auf die Erde, prüfte Stück für Stück und wählte je zwei Paar Strümpfe, Hosen, zwei Hemden, einen weißen und einen farbigen Unterrock aus. Alles gute, neue Sachen.

»So,« sagte sie fröhlich, indem sie sich vom Boden erhob, » ça va bien pour le commencement – kann sie immer eine Hälfte waschen lassen, raicht sie paar Monate. Hob' ich auch schon gemocht, wenn olles im Leihhaus wor. Kleid werden wir schon zusammenrichten, daß poßt. Frau Mutter wird doch nicht so großes Schof sein, daß nicht einmal nähen kann? Fehlen nur noch die Schuh' – ober hob' ich zu süßes Fußerl, poßt main Schuh kain andere Madel.« Und so plauschte sie munter fort, während sie die Wäsche mit rosa Seidenbändchen zierlich zusammenband, ein wenig Parfüm dazwischenspritzte und schließlich den ganzen Packen sauber einwickelte und zusammenschnürte.

Florian stand die ganze Zeit dabei und sah ihr zu. Nie war sie ihm so reizend erschienen, wie in dieser eifrigen weiblichen Geschäftigkeit. Und als das Paket fertig dalag und sie lächelnd zu ihm aufschaute, da schloß er sie fest in seine Arme, drückte ihren Kopf an seine Schulter und küßte sie auf den Scheitel. »Liebe Ilonka! Gute, liebe Ilonka!« flüsterte er ein Mal über das andre. Mehr brachte er nicht heraus, denn er war gar so gerührt.

Ein wenig erstaunt machte sie sich von ihm los und sagte mit einem reizend liebenswürdigen Lächeln, wie er es nie zuvor an ihr gesehen hatte: »Ober wos denn, liebär Freind, wos bin ich denn so gut? Is gonser gemainer Aegoismus von mir: mocht mir Schmärz, wenn ich muß hören von Krankheit und Not bei ain' Kollägen. Ise mir ungemitlich, wenn ich muß denken: Ilonka hot olle Tage gutes Diner und schöne Klaider, und ormes Madel mit viel Talent plagt sich dicht dabei und hot nix zu essen und nix zu auf den Laib zu ziehen. Geb' ich doch lieber paar Hemdeln und paar Höseln her, als daß ich mir mache solchen Schmärz! Konn ich doch jetzt mit gutem Gäwissen wieder fidel sein. – Aber du bise gut, liebär Freind, du bise so gut, daß ich muß du zu dir sogen. Du bise viel besser als gonse Gäsellschaft. Sind sie olle nix nutz – hob' ich dir bloß vorgäschwindelt, weil so komisch wor, daß du olles gäglaubt host. Will ich nicht wieder thun, auf Aehre!« Und sie beugte sich nieder und küßte seine Hand, und dann legte sie ihre Wange in diese Hand und schaute mit ihren großen schwarzen Augen so treu und fromm zu ihm auf wie ein großer guter Hund.

Da konnte sich Florian nicht mehr helfen. Es wurde ihm so warm ums Herz, und die Augen traten ihm voll Thränen – er wußte nicht warum.

»Oh!« sagte sie nur in einem seltsam langgezogenen, weichen Ton. Und dabei legte sie die Arme auf seine Schultern und küßte ihn.

Das waren die ersten Liebesküsse, die er in seinem Leben empfing. Ihm schwindelte. Das Blut hämmerte in allen seinen Pulsen, und seine Arme umklammerten sie so fest, daß sie sich endlich mit einem unterdrückten Schmerzensschrei von ihm losmachte.

Die Dämmerung war längst hereingebrochen, aber sie dachten nicht daran, die Lampe anzuzünden. Sie dachten auch nicht daran, ihre Musik vorzunehmen an dem Abend. Sie saßen auf dem Sofa und flüsterten und kosten. – Und als Florian endlich heimging, da blinkten die Sterne am dunklen Nachthimmel, und das Städtchen lag bereits in friedlichem Philisterschlummer. Auf der Ilmbrücke stand der hagere junge Gesell mit seinem Cylinderhut in der Hand, das Antlitz den Sternen zugewendet. Seine Lippen zuckten noch von wilden Küssen, und ein sanftes, prickelndes Feuer brannte ihm unter der Haut, als ob der alte Adam umgeschmolzen werden und ein neuer Mensch in ihm sich entwickeln sollte – ein neuer Mensch mit ungeahnten, wundersamen Gefühlen und mit einem ganz neuen Blick für die Dinge dieser Welt.

Er kehrte heim auf dunklen, einsamen Wegen – ohne Nachtmahl. Profane Augen sollten nicht in seinem Antlitz forschen dürfen, welch Wunder heut an ihm geschehen. Er legte sich schlafen, und sein Bett deuchte ihm ein Boot, das ihn auf leichten Wellen einem märchenschönen Eilande zuschaukelte, einem Eilande, das er vor Augen sah mit seinen wogenden Palmenwipfeln, in denen sich bunte Vögel wiegten, von dem berauschender Duft weit übers Meer hinausströmte – und das dem schwankenden Boot doch ewig unerreichbar blieb.


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