Ernst v. Wolzogen
Der Kraft-Mayr
Ernst v. Wolzogen

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Sechzehntes Kapitel.

Schlimmer Abschied.

Die lange Nachtsitzung, welche dem ereignisreichen Abend im »Schwarzen Bären« folgte, gewährte Mister Crookes sen. einen sicheren Schutz vor der Ueberraschung, etwa im ersten Morgenzug nach Weimar mit seinen Söhnen zusammenzutreffen; denn sämtliche Teilnehmer an jener vergnügten Bierreise schliefen am andern Morgen bis um neun Uhr, mit einziger Ausnahme Florians, der es trotzdem fertig brachte, um sechs Uhr aufzustehen und gleichfalls den ersten Zug zu benützen. Es war ihm nämlich nachts beim Heimgehen plötzlich eingefallen, daß er doch nicht ohne triftige Entschuldigung die gewohnte morgendliche Arbeitsstunde bei Liszt versäumen könnte, ohne sich in ein Netz von Lügen zu verstricken. Nun und nimmermehr hätte er gewagt, dem Meister zu gestehen, was für einen dummen und bedenklichen Streich er zu begehen im Begriff gewesen war: ein anständiges Mädchen, ein halbes Kind noch, ihren Eltern zu entführen, während diese beim Meister selbst zu Gaste geladen waren, und in dem bekanntesten Hotel Jenas mit ihr über Nacht zu bleiben! Nein, das war denn doch ein zu starkes Stück, und dafür hätte der Meister schwerlich eine Entschuldigung gelten lassen – selbst wenn er Florian alles glaubte, was er zu seiner Rechtfertigung vorbringen konnte. In dieser Erwägung hatte er Ilonka gebeten, ihn bei Thekla zu entschuldigen und mit dem armen Mädchen nach Gutdünken zu verfahren. Just wie damals am Morgen nach seinem ersten Sündenfall, brachte der ehrliche Florian auch diesmal einen großen moralischen Jammer mit heim, und der stand ihm so deutlich auf dem Gesichte geschrieben, daß Liszt ihm die am Abend vorher vorgeschützten Kopfschmerzen ohne weitere Frage glaubte und ihn alsbald wieder heimschickte, damit er sich gehörig pflegen könnte.

Florian plagte seine Seele hart und züchtigte sein Herz mit Skorpionen, während er halb ausgekleidet auf seinem Bette lag, um den entgangenen Morgenschlaf nachzuholen. Die Entführung vermochte er vor seinem Gewissen zu rechtfertigen – die war ja so gut gemeint gewesen und so harmlos verlaufen. Es gehörte doch unzweifelhaft zu den unveräußerlichen Menschenrechten, ein liebendes und geliebtes Mädchen hartherzigen Eltern zu entführen, die es in unverantwortlicher Weise quälten! Thekla liebte ihn und vertraute ihm: er war also ohne Frage der Nächste dazu, ihr zu helfen. Aber war er denn dieses Vertrauens würdig? – Nein! donnerte ihm sein Gewissen mit furchtbarer Entschiedenheit in die Ohren. Sein weiches, mitleidiges Herz war freilich gestern in Rührung über die Hilflosigkeit des reizenden verliebten Kindes schier zerflossen, und mit unzähligen Küssen hatte er ihm seine Gegenliebe deutlich genug gestanden. Wie verhielt es sich denn aber in Wahrheit mit dieser seiner Gegenliebe? Uebel – o jerum, wahrlich übel! Als er Ilonka, die unbegreiflich Gute, Schlimme wiedergesehen, da war mit Macht die alte Leidenschaft wieder über ihn hergefallen und hatte sein Herz wie mit scharfen Krallen gepackt. Sie war doch einmal seine erste Liebe gewesen, und trotz der wütenden Anstrengung, die er gemacht hatte, sie kraft seiner moralischen Entrüstung los zu werden, sie wollte sich durchaus nicht abschütteln lassen. Er mußte sich eingestehen, daß er im Grunde schon gestern abend heilfroh darüber gewesen war, daß Ilonkas Dazwischenkunft ihm die lästige Verantwortlichkeit für die Folgen seiner Unbesonnenheit abgenommen hatte. Florian war sich völlig klar darüber, daß Thekla nicht nur weit hübscher sei als Ilonka, sondern auch alle Eigenschaften in sich vereinigte, die dem Manne, den sie liebte, ein dauerndes Glück versprechen konnten. Sie war so jugendfrisch und rein, so anmutig und warm, hingebend und natürlich, trotz der ihr aufgezwungenen höheren Damenbildung – und Ilonkas Reize waren schon im Verblühen und bedurften raffinierter Toilettenkünste, um noch zu wirken, ihre Tugend war keinen Heller wert, und der Mann, der sein Herz an sie hing, konnte sicher sein, einen kurzen Rausch mit langer Zweifelspein zu bezahlen; und dennoch hing alle heiße Sehnsucht seiner Sinne an diesem Weibe, dennoch entzückten ihn ihr Witz, ihr zigeunerhaftes Temperament und ihre tugendlose Gutherzigkeit so sehr, daß er im stande gewesen wäre, auch heute noch mit ihr auf und davon zu gehen, trotzdem er ganz genau wußte, daß sie ihn vielleicht schon nach wenigen Tagen heimschicken würde, um sich in die Arme irgend eines andern zu stürzen, der ihr vielleicht aufregendere Lustbarkeiten zu bieten hatte und vor allen Dingen – mehr draufgehen lassen konnte. – Das alles sagte sich Florian und den ganzen reichen Schatz von kräftigen Schimpfwörtern, den er für solche Gelegenheiten zu seiner Verfügung hatte, brauchte er wiederum gewissenhaft in eigener Sache auf.

Im »Schwarzen Bären« in Jena war unterdessen auch Thekla munter geworden. Aber da ihre Stubengenossin noch in festem Schlafe lag, so getraute sie sich nicht aufzustehen, um sie nicht zu stören. Sie fand noch Zeit genug, über ihre Lage nachzudenken. Gestern abend hatte sie in ihrer Angst und Aufregung willenlos alles mit sich geschehen lassen, aber im Lichte des neuen Tages erschien ihr die Hilfe, die diese fremde Frau ihr zu teil werden ließ, wie eine bedrohliche Vergewaltigung. Sie wußte noch immer nicht, wie diese Dame hieß, die da mit offenem Munde, sanft schnarchend, neben ihr im Bette lag, wer sie war, in welchem Verhältnis sie zu ihrem Geliebten stand. Wenn sie allein gewesen wäre mit dem Bewußtsein, daß ihr Florian im Nebenzimmer schlief, so wäre sie ruhig und glücklich aufgewacht in der festen Zuversicht, daß Florian schon die richtigen Entscheidungen für sie treffen würde und daß ihr nun gar nichts Böses mehr widerfahren könnte. Aber vor dieser Fremden mit dem großen offenen Munde, den welken Zügen, den harten tatarischen Backenknochen und dem in dem grauen Dämmerlichte fleckig erscheinenden Teint, auf dem Puder und Schminke durch oberflächliches Abreiben beim Schlafengehen noch Spuren zurückgelassen hatten – vor dieser Fremden, die ihr vorzustellen Florian nicht einmal der Mühe wert gehalten hatte, wandelte sie unwillkürlich ein Grauen an. Wie kam diese Frau dazu, in ihr Schicksal eingreifen zu wollen? Freilich, Florian hatte sie ihr ganz unbedenklich überlassen und war dann mit ihr davon gegangen, als ob es für ihn ganz selbstverständlich sei, sich treu Wünschen zu fügen. Theklas erstes Gefühl bei dieser Erwägung war Eifersucht. Es kam ihr nicht in den Sinn, Florians Verhalten als einen Beweis dafür anzusehen, daß er Ursache haben müsse, dieser Frau zu vertrauen. Sie fühlte sich nur gekränkt darüber, daß man mit ihr umsprang wie mit einem willenlosen Wesen, und sie schämte sich vor sich selber, weil sie so schwach gewesen war, dieser Fremden etwas vorzuweinen und sie so widerstandslos über sich bestimmen zu lassen. Mit einem plötzlichen Entschluß warf sie die Decke zurück, um heimlich aufzustehen, sich anzukleiden und sich nach ihrem Beschützer umzuthun. Aber da fiel ihr ein, daß sie ja gar nicht wußte, wo Florian schlief. Sie konnte ja doch nicht dem alten Herrn, der gestern abend so plötzlich hereingeplatzt war, auf die Stube laufen. Oder sollte sie etwa allein unten im Gastzimmer ihr Frühstück bestellen und warten, bis Florian nach ihr suchte? Nein, das ging auch nicht. Sie zog die Bettdecke wieder über sich, vergrub das Gesicht in die Kissen und fing an zu weinen.

Als Ilonka endlich erwachte, war es neun Uhr vorbei. Thekla hatte sich inzwischen doch angezogen und saß, das Gesicht in den aufgestützten Händen verborgen, hinter dem Tisch auf dem Sofa. Ilonka gähnte laut, rieb sich die Augen und rief dann ganz vergnügt: »Ah, bon jour, mademoiselle! Mais vous vous êtes levée de bonne heure. Comment ça va-t-il? Bien dormi – hein?«

Thekla wendete ihr das verweinte Gesichtchen zu und zuckte stumm die Achseln.

»Mais, ma chère enfant, pourquoi si triste? Il n'y a pas de quoi – tout va bien.« Und mit einem Satz war sie aus dem Bett und lief in ihrem rosa Seidenhemd zu Thekla, setzte sich neben sie aufs Sofa und küßte sie wieder auf beide Backen, daß es schallte.

Thekla machte sich ein wenig ängstlich von ihr los und sagte im echtesten Kinderton: »Darf ich jetzt nicht zu Herrn Mayr?«

Ilonka lachte außerordentlich belustigt, umarmte sie wiederum stürmisch und rief: »Cher petit ange, – Sie sind raizend, liebe Klaine! O dieser Herr Mayr, wie ist er zu benaiden! Wie spät ise denn? – Nein Uhr? – o da ise Herr Mayr lange in Weimar und arbeitet mit dem Maister.«

»Herr Mayr ist – nicht mehr – hier?« Stoßweise, angstvoll kam es heraus, und ganz bleich ward die arme Thekla dabei.

»Ober, liebes Freilein,« begütigte Ilonka, »wos brauchen wir Herr Mayr? Wir besorgen Ihre Soch' viel besser allein – Männer mochen immer dumme Zaig in so was!« Und dann erzählte sie ihr, sie habe gestern mit Florian verabredet, sie mit sich nach Weimar zu nehmen und bei sich wohnen zu lassen, bis sie ihren Pflegeeltern das Versprechen abgenötigt hätte, in die Aufhebung der Verlobung zu willigen.

Da brach Thekla in neue Thränen aus und erklärte ganz ungebärdig, sie wolle nicht nach Weimar und überhaupt nicht zu ihren Eltern zurück. Alles Zureden Ilonkas half nichts – sie hielt eigensinnig an ihrem ersten Plan, die Münchener Freundin aufzusuchen, fest.

Da blieb Ilonka denn freilich nichts übrig, als vorläufig zu schweigen und an ihre Toilette zu denken. Sie stand bereits am Waschtisch, als Thekla plötzlich auf sie zutrat und in einem geradezu herausfordernden Tone rief: »Ich weiß ja gar nicht einmal, wer Sie sind!«

Da raffte Ilonka ihr langes Seidenhemd mit zierlich gespitzten Fingern, machte einen Tanzstundenknicks und sagte: »Bitte, gnä' Freilein, main Name ist Badacs Ilonka, Pianistin ungarische, und Herr Mayr is ein olter, sehr lieber Fraind von mir. Sie können mir gonz gewiß vertrauen. – Ober gehen Sie jetzt hinunter, Sie hoben nix im Mogen und sind nervios! Nähmen Sie den Kaffee en attendant, ich komme gleich nach.«

Thekla folgte dem guten Rate, und nachdem sie ein wenig gefrühstückt, ward ihr auch wirklich besser und zuversichtlicher zu Mute. Sie setzte mit Bleistift ein Telegramm an ihre Freundin Erna auf, aber da sie noch nie in ihrem Leben selbständig eine Depesche verfaßt hatte, so getraute sie sich doch nicht, sie ohne weiteres aufgeben zu lassen, sondern wartete, bis Ilonka herunterkam, um sie ihr zur Begutachtung vorzulegen. Mit einigen Kürzungen wurde das Telegramm dann wirklich abgesandt, weil Ilonka eingesehen hatte, daß Thekla denn doch ihren eigenen Kopf hatte und leicht die größten Thorheiten begehen konnte, wenn man sie nicht sehr vorsichtig behandelte. Erst am Nachmittage kam aus München die Antwort: »Adressat verreist, unbekannt wohin.«

Theklas Enttäuschung war groß, und völlig ratlos, wie sie nun war, blieb ihr nichts andres übrig, als sich rückhaltlos dem Fräulein Badacs anzuvertrauen. Uebrigens hatten die paar Stunden, die sie notgedrungen allein miteinander verbringen mußten, immerhin genügt, um Theklas anfängliche Abneigung gegen Florians gefällige Freundin einigermaßen zu überwinden. Ihre Zuversicht hatte schließlich doch den Eindruck auf Thekla nicht verfehlt, und obwohl sie ihren eifersüchtigen Verdacht nicht ganz los wurde, konnte sie doch nicht umhin, die herzenswarme und dabei überaus amüsante Ungarin recht liebenswürdig zu finden.

Die beiden Damen gelangten gegen drei Uhr nachmittags unangefochten nach Weimar, wo Ilonka ihre Schutzbefohlene alsbald in einer der berühmten kanariengelben Droschken (ganze vier Stück hatte die Residenz von diesem Beförderungsmittel aufzuweisen) nach ihrer Wohnung geleitete. Sie selbst begab sich unmittelbar darauf nach dem »Russischen Hof«.

Der Portier setzte ein bedenkliches Gesicht auf, als Fräulein Badacs, die er wohl kannte, beim Konsul Burmester gemeldet zu werden wünschte. Die Herrschaften hätten sehr aufregende Nachrichten erhalten und würden schwerlich geneigt sein, Besuch zu empfangen.

»O sagen Sie nur, ich bringe schenen Gruß von Freilein Tochter – werden sie mich schon empfangen!« versetzte Ilonka, verschmitzt lächelnd.

»Ah, das ist freilich was andres!« rief der Portier, neugierig aufhorchend. Dann entsandte er einen Kellner mit der Botschaft und der Karte des Fräuleins nach oben. Der Kellner flog ordentlich die Treppe hinauf. Es war offenbar, daß das ganze Hotel über die Flucht des Fräuleins in Aufregung geraten war. Der Portier erzählte denn auch Ilonka unaufgefordert, daß Fräulein Burmester gestern abend mit einem Herrn im Frack und Seidenhut fortgegangen und bisher nicht zurückgekehrt sei, worüber natürlich die Eltern und der Herr Bräutigam in die größte Angst versetzt worden seien. Depeschen seien abgeschickt und empfangen worden und die Polizei vermutlich auch bereits verständigt.

»Wos sogen S' – mit einem Härrn wär' das Freilein fort?« rief Ilonka ganz entrüstet thuend. »Ah wos denn! Sie ist ainfach zu einer Freindin gägangen, und die hot s' zu einer klainen Partie mitgänommen. Begraif' ich nicht, doß Brief nicht angekommen is! Freilein hot doch glaich geschrieben!« Damit stieg sie, ohne sich weiter durch neugierige Fragen aufhalten zu lassen, die Treppe hinauf. Der Kellner kam ihr entgegen mit der Meldung, daß der Besuch den Herrschaften sehr angenehm sein werde, und oben auf dem Gang standen bereits Burmesters und Prczewalsky, um sie voll Ungeduld in ihren Salon zu geleiten.

Sobald Ilonka ins Zimmer hineinkomplimentiert war, schob die Konsulin von innen den Riegel vor die Thür und rauschte dann aufgeregt auf die Besucherin zu. »Sie bringen uns Nachrichten von unsrer Tochter, mein Fräulein?«

»Ja, ollerdings, gnä' Frau,« versetzte Ilonka, sich leicht verbeugend. Dann faßte sie den schönen Antonin ins Auge, betrachtete ihn aufmerksam und fragte endlich, ungeniert mit dem Finger auf ihn deutend: »Bitte, is dos der Härr Bräutigam – ich glaub', ich kenn' ihm nach der Bäschreibung an der Nosen!«

»Khn, khn!« machte Prczewalsky, indem er rasch sein Sacktuch an das beschädigte Riechorgan führte. »Meine Nase hat sich doch wohl nichts mit der Geschichte zu schaffen!«

»O doch, mein liebär Härr!« lachte Ilonka gemütlich – »Ihre gonze sähr werte Persönlichkeit hat sogar sähr viel zu schaffen. Denn wegen Ihner ise das Freilein Thekla bloß fort. Bägraif' ich ibrigens vollkommen!«

Antonin hielt mitten in seiner Verlegenheitsschneuzung inne, bekam einen puterroten Kopf und schnaufte wütend: »O – khn – was soll das heeïßen! Wenn Sie mich beleidigen wollen . . . khn, khn! ich werrde bitten . . .«

»Ach lassen Sie doch jetzt Ihre Empfindlichkeiten!« fuhr ihm die Konsulin hart ins Wort, in brennender Ungeduld, zu erfahren, was aus ihrem armen, irregeleiteten Kinde, wie sie sich ausdrückte, geworden sei.

Gleichzeitig bot der Konsul Ilonka einen Stuhl an und flüsterte ihr dabei zu: »Bitte, spannen Sie uns nicht länger auf die Folter – achten Sie nicht auf den Menschen!«

Sie setzten sich alle vier, und dann begann Ilonka ganz vergnügt zu erzählen: »Also schauen Sie, die Soche ise sähr ainfoch: Sie hoben Ihr Freilein Tochter netigen wollen, einen Monn zu heiraten, den sie nicht mog. Hot sie ändlich nicht mähr ausholten kennen und hot sie vorgäzogen, davonzulaufen – find' ich sähr verninftig!«

Die Konsulin: »Aber, mein Fräulein, Sie vergessen, was eine Tochter ihren Eltern . . .«

Prczewalsky: »Jawohl, khn – Sie vergessen überhaupt . . .«

Die Konsulin: »Sein Sie doch endlich still!«

Der Konsul: »Ach bitte, sagen Sie uns doch, wo und wie Sie unsre Tochter getroffen haben.«

Nach dieser kleinen Unterbrechung fuhr Ilonka, sich ausschließlich an den Konsul wendend, also fort: »Wir trafen uns gonz allein im Domencoupé zweiter Kloss'. Ormes Freilein soß im Eck und wainte; thot mir so laid – hob' ich ainfoch gefrogt, warum waint. – Eh bien! sind wir Bekonnte geworden – hot sie mir olles erzählt.«

Die Konsulin: »Aber, mein Gott, wo steckt sie denn? wir haben doch überall hin telegraphiert – außerdem hat sie doch kein Geld!«

Ilonka erhob nur abwehrend ein wenig die Hand gegen Frau Burmester und fuhr fort: »Also hob' ich gesogt: Liebäs Kind, ise sähr recht, doß sich nicht gefollen lossen – nur die Aesel lossen sich olles gefollen – ober Sie sind gor zu unerfohren und Gäld hoben Sie auch kains! Wos wollen Sie in der Welt allain? hob' ich gesogt. Ich wärde zu Ihren Eltern gehen und wärde Vorschlag mochen, hob' ich gesogt. Moch' ich also Vorschlag: Sie erklären die Verlobung sofort für aus und kaput und versprechen schriftlich, daß Sie ormes Freilein Tochter nicht mehr zum Hairoten zwingen wollen! In diesem Folle kommt Freilein Tochter noch heite zu Ihnen zurück.«

»So, und wenn wir uns dessen weigern?« rief Frau Olga hochmütig.

Und Prczewalsky sekundierte ihr: »Jawohl, khn – wenn wir uns weigern, hä?«

»Sein Sie doch bloß still, Prczewalsky!« fuhr die Konsulin wütend auf und schlug mit der Hand auf den Tisch. »Sie sind überhaupt bloß an der ganzen Geschichte schuld! Sie horchen an der Thür und hören fremde Stimmen und hören Thekla fortgehen und thuen nichts, gar nichts! Sie sitzen hier und bestellen sich ein großartiges Abendessen und den teuersten Wein dazu, trotzdem Ihnen die Leute gesagt hatten, daß Thekla mit einem Herrn fortgegangen wäre – mit einem Herrn, den Sie sehr gut kennen müßten!«

»O, erlauben Sie, Frau Mutter!« stammelte Antonin kläglich. »Ich konnte doch nicht auf die Straße – khn, in meinem Zustand! Gott erbarme sich, ich dachte, ich werrde . . .«

»Ach, Sie dachten, Sie werden!« höhnte die Konsulin. »Was werden Sie denn? Sie haben einfach Angst gehabt, weiter gar nichts!«

Ehe noch der erschrockene Prczewalsky zu seiner Verteidigung etwas vorbringen konnte, sprang plötzlich Herr Burmester von seinem Stuhl auf, faßte die Lehne mit beiden Händen und rief mit vor Aufregung bebender Stimme: »Sie sind überhaupt – Sie sind . . . Wenn Sie ein Mann von Ehre wären, so wüßten Sie, was Sie jetzt zu thun haben! Sie hätten überhaupt schon längst von dieser Verlobung zurücktreten müssen – meine Tochter kann Sie nicht ausstehen, und ich – ich auch nicht – ich verachte Sie – ich – ich pfeife auf Sie! Ich will Sie nicht mehr sehen, gehen Sie hinaus, Sie – haben Sie mich verstanden?«

»Aber Willy!« rief Frau Olga, starr vor Entsetzen. So hatte sie ihren Mann noch nie gesehen.

Der schöne Antonin war so weiß geworden wie das Leintuch, mit dem er immer noch an seiner geschwollenen Nase herumfummelte. Er schnappte erbärmlich nach Luft wie ein Fisch auf dem Trocknen, machte wilde Augen und schwankte nach der Thür zu. Dort angekommen, wandte er sich noch einmal um, erhob die geballte Faust gegen Fräulein Badacs und stieß mühsam die Worte hervor: »O, ich weeïß, wem ich das zu danken habe – ich glaube keeïn Wort! Ich kenne das Fräulein – sie ist auch so eine, – so eine Lisztianerin! Sie steckt mit diesem Mayr unter einer Decke!«

»Wo steck' ich?« fuhr Ilonka auf, indem sie rasch einige Schritte gegen ihn zutrat. »Wos erlauben Sie sich? Gehen Sie hinaus oder – ich hob' auch ein sähr lockeres Hondgälenk!«

Frau Burmester trat rasch zwischen die beiden und breitete schützend die Arme vor ihrem verstoßenen Schwiegersohn aus: »Gehen Sie, Herr Prczewalsky!« redete sie ihm besänftigend zu. »Ich bedaure lebhaft, daß mein Mann so heftig geworden ist; aber Sie werden einsehen, daß Sie unter den gegenwärtigen Umständen auf der Verbindung mit uns nicht bestehen können. Es hat nicht sollen sein – gehen Sie mit Gott, lieber Herr Prczewalsky!«

Antonin hielt die Thürklinke in der Hand und zögerte noch ein Weilchen. »Jawohl,« keuchte er, »ich werrde gehen – aber ich werrde mich rächen, khn! Ich werrde dieses Land verlassen, wo die Faust über den Geeïst triumphiert – ich werrde pfui sagen und den Staub von meinen Stiefeln blasen. Leben Sie wohl, gnädige Frau – ich reeïse sofort! Ihnen, Herr Konsul, habe ich nichts mehr zu sagen – khn, khn – Sie werrden so freundlich sein, meeïne kleine Rechnung zu bezahlen!« Damit trat er über die Schwelle und schlug die Thüre unsanft hinter sich zu.

»Gott sei Lob und Dank!« rief der Konsul mit innigster Befriedigung, und dann ließ er sich mit einem behaglichen Blasen in seinen Sessel fallen.

Ilonka ging auf ihn zu, streckte ihm ihre Rechte hin und sagte ganz vergnügt: »O, Herr Konsul, Sie hoben mir solche Fraide gemocht – ich danke Ihnen im Namen von Freilein Thekla! Gnädige Frau wird mir auch versprechen, daß kinftig dos Freilein zuerst gefrogt wird, wenn sich von Hairoten hondelt.«

»Sie sehen ja, wie wir uns bemühen, den Wünschen unsrer Tochter nachzukommen,« versetzte Frau Burmester ausweichend.

Ilonka hielt es doch für angemessen, auf ihrer Forderung eines schriftlichen Versprechens nicht weiter zu bestehen. Das Auftreten des Konsuls hatte ihr so imponiert, daß sie Theklas Herzensfreiheit für die Zukunft gesichert glaubte, und so verabschiedete sie sich mit dem Versprechen, die kleine Durchgängerin heute noch den Eltern zurückzubringen.

Frau Burmester geleitete sie höflich bis an die Thür und drückte in einigen kühlen Redensarten ihren Dank für die Vermittlung der Versöhnung aus. Ganz zuletzt fragte sie noch, ob sie nicht, da sie sich doch schon länger in Weimar aufhalte, einen gewissen Herrn Mayr, einen bevorzugten Lisztschüler, kenne.

»Ober gewiß, gnädige Frau!« antwortete Ilonka ohne Besinnen. »Is ein sähr bedeitender Kinstler und ein liebär Freind von mir!«

»So, so! Die Leute im Hotel sagen doch, daß ein Herr meine Tochter abgeholt hätte, der nach der Beschreibung nur Herr Mayr sein kann. Er war auch zur selben Zeit aus der Gesellschaft bei Liszt verschwunden. Hat Ihnen meine Tochter nichts gesagt darüber?«

»Ober kein Wort, gnädige Frau!« log Ilonka mit der offensten Unschuldsmiene. »Soll ich Herrn Mayr frogen, wann ich ihm sehe? O, vielleicht is är gor verliebt in Freilein Thekla und hot sie entfihren wollen! Schau, dieser liebe Mayr – hätt' ich nie von ihm g'docht! Werd' ich ihn herschicken, daß är sich selber kann erklären.«

»Nein, nein – das thun Sie, bitte, nicht!« wehrte die Konsulin eifrig ab. »Wir werden sofort abreisen, wenn wir Thekla wieder haben. Sie ist doch hoffentlich hier am Ort?«

»Gäwiß, wir hoben die Nocht in Jena zusammen geschlofen, und jetzt is sie hier bei mir. O gnädige Frau, glauben mir, Sie hätten sie nie wider gäsehen, wenn der schene Härr nicht vor meinen Augen hinausgäflogen wär'! No also, sein wir lustik – in ainer holben Stund' können Sie Freilein Thekla wieder umormen!«

An seiner Frau vorbei trat der kleine Konsul zu Ilonka und geleitete sie respektvollst, wie eine vornehme Dame hinaus und sogar die Treppe hinunter, indem er sich mit warmen Dankesworten von ihr verabschiedete.

Als Ilonka heimkam, fand sie ihre Schutzbefohlene in guter Gesellschaft. Florian Mayr hatte schon mehrmals im Laufe des Tages vorgesprochen und, als er am Nachmittag endlich erfuhr, daß Fräulein Badacs in Gesellschaft einer andern jungen Dame zurückgekehrt, aber gleich wieder fortgegangen sei, sich nach einigem Zögern zum Warten entschlossen. Wie verlockend auch ein Kosestündchen mit dem liebenden Mädchen, das ihm so hingebend zugethan war, sein mochte, es bangte dem ehrlichen Florian nach der strengen Selbstschau, die er eben erst vorgenommen hatte, doch vor den möglichen Folgen eines solchen Alleinseins. Wenn er wieder schwach wurde und sich etwa zu zärtlichen Beteuerungen hinreißen ließ, die ihm selbst später vielleicht als Lügen erscheinen mußten, während Thekla alle ihre Hoffnungen daran knüpfte! Er hätte sich doch vielleicht feige wieder davongeschlichen, wenn nicht Thekla seine Stimme erkannt und ihn zu sich hereingeholt hätte.

Als Ilonka eintrat, fand sie Thekla in der Sofaecke sitzend, das Gesicht in den Händen verborgen, und Florian von ihr abgewandt am Fenster stehend. »Hej!« rief sie lustig, »hob' ich euch ärwischt, ihr Taibchen! So wait vor Schräck auseinandergäfahren. Ah wos, vor mir is nicht netig zu schenieren! Ober, wos is dos? Das Freilein hot gewaint?! Und der junge Härr mocht ein Gäsicht – hu! Hobt ihr eich schon gezonkt? Oder is bloß Obschiedsschmärz?«

»Ach wo!« sagte Thekla kurz angebunden, indem sie sich erhob und heftig die Thränenspuren aus ihrem Gesichte rieb.

Und Florian lächelte mühsam und murmelte etwas Unklares von einem kleinen Mißverständnis.

Ilonka war taktvoll genug, keine weiteren Fragen zu stellen. Sie erzählte mit großer Anschaulichkeit, wie es ihr bei Burmesters ergangen war, und mit wie überraschender Kraftentfaltung der kleine Herr Konsul dem Schwiegersohn seinen endgültigen Abschied erteilt habe. Thekla war so erstaunt über diese unvermutete Wendung ihres Geschickes, daß sie in neue Thränen ausbrach und sofort zu ihrem »lieben, guten, einzigen Papa« zurückzukehren begehrte. Es wurde nun beschlossen, was sie auf die Frage der Eltern bezüglich der Rolle, die Herr Mayr bei ihrer Flucht gespielt habe, erwidern sollte, um sich nicht in Widersprüche mit Ilonkas Bericht zu verwickeln. Und dann machte sich Thekla zum Ausgehen fertig. Ilonka bemerkte wohl, daß Florian noch irgend etwas auf dem Herzen habe, und zog sich mit einer Entschuldigung in ihr Schlafkabinett zurück.

Sobald sie allein waren, trat Florian zu Thekla und flüsterte ihr zu: »Aber Thekla, liebes Kind, so können wir doch net auseinandergehen. Geh, gib mir deine Hand und sag, daß d' mir nimmer bös bist! Schau, wenn ich ein freier Mensch wär' und schon eine Stellung errungen hätt', worauf ich zur Not heiraten könnt', dann wär's ja ganz was anders – dann thät' ich mich den Teufel drum scheren, was die Leut' und sogar was deine Pflegeeltern dazu sagten! Wenn's amal ausgemacht wär', daß wir zwei uns gut wären, da fraget' ich' nix . . .«

»Jawohl. das ist aber eben nicht ausgemacht!« fiel Thekla ihm ins Wort, mühsam ihre Thränen unterdrückend. »Sie müssen mich auch nicht für zu dumm halten, Herr Mayr! Sie lieben mich eben nicht, sonst würden Sie nicht so viel von Ihrer Vernunft und von Ihren guten Absichten reden. Sie haben das gestern bloß so gesagt, weil ich mich Ihnen in meiner Angst gleich so an den Hals geworfen habe. Aber ich weiß schon, warum's Ihnen heute leid thut! Nein, nein, geben Sie sich nur gar keine Mühe, das können Sie mir nicht ausreden!«

»Thekla!«

»Nein, nein – ich weiß schon, was ich weiß. Es ist ja auch ganz gut, daß alles so gekommen ist! Mein lieber, guter, einziger Papa wird schon dafür sorgen, daß mir nichts Böses mehr geschieht. Vergessen Sie nur, bitte, wie ich gestern war! Lieber will ich schon wieder Klavierstunde haben und alles das, als daß ich jemandem zur Last falle, der sich nichts aus mir macht!«

»Aber, Thekla, das ist doch nicht wahr!«

»Doch, doch. – Na, atjöh, Herr Mayr – ich danke Ihnen auch sehr für Ihren Beistand gestern!«

In starker Bewegung ergriff er die kleine Hand, die sie ihm hinreichte, und drückte einen Kuß auf das hellbraune Leder. Er suchte sie an sich heranzuziehen und ihr in die Augen zu sehen. »Thekla, bekomm' ich nicht einmal einen Kuß zum Abschied?« flüsterte er traurig.

»Aber, Herr Mayr, was denken Sie denn von mir!« rief sie leise und machte sich sanft, aber entschieden von ihm los. Dann schritt sie rasch nach der Thür und öffnete sie geräuschvoll, damit Ilonka aufmerksam werden sollte, welche denn auch alsbald aus ihrem Schlafzimmer heraustrat und mit ihr davonging, ohne sich um Florian weiter zu kümmern. – –

Schon nach einer halben Stunde ungefähr kehrte Ilonka allein zurück und war einigermaßen erstaunt, den Meister Florian immer noch bei sich zu finden. Er hatte einen ganzen Haufen von ihren Cigaretten aufgeraucht und saß, in dichten Qualm eingehüllt, auf dem Sofa.

»Nun?« fragte Florian mit einem tiefen Seufzer.

»Nun?« spottete Ilonka ihm nach. »Do sind Sie ja noch! Wos machen Sie für ein Gäsicht? – Und die Thekla auch! Hot mich so kolt verabschiedet – hot bloß noch gefählt, daß sie mir Trinkgeld in die Hand drucket'! Ich versteh' nicht, wos soll dos bedaiten?«

»Herrgott, eifersüchtig ist s'!« fuhr Florian auf. »Daß wir zwei was miteinander g'habt haben, des hat s' glei' g'spannt mit dem berühmten Scharfblick, den ihr Weibsleut' für so was habt!«

»Ah geh'!« rief Ilonka, ehrlich erstaunt. »Eifersichtig, auf mich? Mi a menynykö! Haha, ausgezaichneter Witz – thut mir laid, doß ich Ihren letzten Liebesbrief zerrissen hob'!«

»Aber, Ilonka, Sie wissen doch ganz gut . . .«

»Wos?«

»No, daß – daß die Thekla so unrecht net hat!« sagte Florian, etwas verlegen zögernd.

Ilonka trat an den Sofatisch heran, wedelte mit ihrem Taschentuch den Tabaksrauch beiseite und blickte Florian spöttisch ins Gesicht: »Wos soll dos haißen, hailiger Florian? Hob'n S' einen sentimentalen Anfall – oder mecht'n S' viellaicht für die Zait, wo die Thekla nicht zu hoben ist, rechtzeitig auf ainen Ersotz denken?«

»Ach, was fallt Ihnen ein!« rief Florian ärgerlich. »Solche sauberen Motive brauchen S' mir gar net unterzuschieben. Die G'schicht ist einfach die, daß ich . . . Ja, Herrgottsakra, ein jeder kann eben net so leicht seine Schätze auswechseln und gewisse Dinge vergessen!«

Ilonka zuckte lachend die Achseln und ließ sich in den nächsten Stuhl fallen. Sie schlug die ausgestreckten Füße übereinander und pfiff vor sich hin. Endlich sagte sie leichthin: »Liebär Freind, Sie sind unonständig! Von gäwissen Dingen spricht man nicht.« Und da er darauf nichts zu erwidern hatte, fuhr sie nach einer kleinen Pause fort: »Ich mog nichts wissen von Ihrer Liebe. Ich bin gut zu Freindschaft und zu Lustiksein – olles andre find' ich fad. Wer sogt, doß ich ihm abhalte, irgend ein anständiges Madel zu heiraten, dos er gärn hot, der ligt und belaidigt mich!«

»Aber ich kann doch dem Kind nicht in den Kopf setzen, daß ich's ganz allein lieb und nie eine andre gern g'habt hätt' und daß ich 's Heiraten nicht erwarten könnt' – das wär' doch wahrhaftig gelogen!«

»Härrgott, Sie haben ihr doch nicht etwa gesogt . . .?«

»No, ich konnt's doch net g'radezu in Abrede stellen!«

Ilonka warf den Kopf hintenüber und schlug die Hände zusammen: »Hailiger Florian, wos sind Sie für ein Aesel – nehmen Sie mir nicht ibel! Sie verstehen ober auch gor kein bißl von der Liebe, nicht fir einen Kreizer. Wann Sie ollen verliebten Madeln solche Wohrheiten sogen wollen, werden Sie viel Glick hoben!«

Florian blickte mit einem Ausdruck von nicht gerade übermäßiger Intelligenz zu ihr hinüber und brummte: »Ich mag aber net lügen!«

Sie rümpfte verächtlich die Nase: »So? Wann Sie nicht ligen mögen, werden Sie nie eine Frau glicklich mochen – olle Frauen wollen bäschwindelt sein, und ehe der Monn nicht den fainen Schwindel der Liebe värsteht, soll er wenigstens nicht hairoten! Sie, main liebär Florian, sind noch so dumm wie ein junger Hund – nehmen Sie mir nicht ibel, ober Sie lieben ja die Deitlichkeit. Wann ich höflich sein wollte, würd' ich sogen: Sie sind naiv. Ober glauben Sie mir: für naive Männer hoben nur gonze olte Waiber einen Geschmock. So, jetzt mochen Sie, doß Sie fortkommen, und verdauen Sie diese Waisheit!«

Und Florian trollte sich äußerst mißvergnügt davon. –

Aber das sollte nur der Anfang seines Mißvergnügens sein, gleichsam nur eine kleine scherzhafte Einleitung. Es zog sich ein finsteres Unwetter über Florians Haupte zusammen. Burmesters waren freilich noch am selben Tage mit Thekla heimgereist, und von ihrer Seite erfuhr er also weiter keine Anfeindungen. Dagegen war Prczewalsky noch vierundzwanzig Stunden länger in Weimar geblieben und hatte diese Zeit trefflich ausgenutzt, um gegen seinen Todfeind einen wirksamen Streich vorzubereiten. Der Zufall hatte ihm dabei einen sehr wertvollen Dienst geleistet, indem er ihn im Wirtshaus mit einem guten Bekannten aus Berlin zusammenführte, der niemand anders war als jener junge Lisztianer, welcher mit Ispirescu und den Crookes zusammen den Ausflug nach Jena unternommen hatte. Prczewalsky hatte absichtlich das Gespräch auf Florian Mayr gebracht, und da sein Freund zu den Verschwörern gehörte, welche die Schmach der Damen Schönflies und Robertson zu rächen unternommen hatten, so kramte er natürlich bald alles aus, was er von Florians Anmaßung, Willkür und Gewalttätigkeit zu wissen glaubte. Und schließlich verkündete er dem hoch aufhorchenden Antonin mit ganz besonderer Schadenfreude, daß er es in der Hand habe, jenen Tugendheuchler zu entlarven. Und dann ließ er sich nicht lange bitten, das Jenenser Abenteuer mit allen Einzelheiten zum besten zu geben. Er glaube aber nun und nimmermehr daran, erklärte er, daß Florian mit Fräulein Badacs nach Jena gefahren sei; denn er habe, als er im Momente der Abfahrt des Zuges ein Coupé erster Klasse versehentlich öffnen wollte, einen Herrn, den er an seinem langen, dünnen braunen Haar sofort als Florian Mayr erkannt, und eine junge Dame in einem Filzhütchen mit schwarzem Schleier darin sitzen gesehen, welche ganz entschieden nicht Fräulein Badacs gewesen sei. Auf der Station in Jena hätten auch seine Reisegefährten Florian Mayrs Gestalt in der Dunkelheit zu erkennen geglaubt, wie er mit der jungen Dame am Arm vor ihnen davonlief. Im Hotel habe er denn auch durch den Kellner erfahren, daß zwei Paare im »Schwarzen Bären« abgestiegen seien; und zwar der Herr im Frackanzug mit einem sehr jungen Fräulein in Filzhütchen mit schwarzem Schleier, welcher sich als »P. P. Müller, mit Fräulein Schwester aus Amerika« ins Fremdenbuch geschrieben habe, sowie die ungarische Dame mit einem alten Herrn, die sich als »Mr. und Mrs. Johnson Esqr. England« eingetragen hätten. Daß Herr Mayr mit der Badacs etwas gehabt habe, sei allgemein bekannt und die ganze Komödie im Hotel von der liebenswürdigen Dame nur angestellt worden, um ihrem sauberen Freunde den Rücken zu decken.

Zwei Tage nach dieser Unterredung gab Liszt seinem Florian statt des Morgengrußes schweigend einen Brief zu lesen, der keine Unterschrift trug, und mit unheimlicher Sachkenntnis das ganze Abenteuer im »Schwarzen Bären« schilderte. Der Meister wurde eindringlichst gewarnt vor einem Menschen, der seine Gutmütigkeit benutzte, um ihn für sich den Elefanten spielen zu lassen, indem er ihn veranlaßte, die Eltern des Mädchens abends zu sich einzuladen, das er entführen wollte; vor einem Menschen, der die Schamlosigkeit so weit trieb, sich mit der einen Geliebten überraschen zu lassen, um das Abenteuer mit der neuen zu verschleiern, und der sogar diese zweite Geliebte, ein anständiges Mädchen aus hochachtbarer Familie, die Verlobte eines Mannes von untadelhaftem Rufe, bei jener ersten Geliebten, einer Dame von denkbarst leichtfertigem Lebenswandel, vor den Eltern verbergen ließ.

»Nun, Florian, was sagst du zu diesem Bubenstück?« fragte Liszt, als jener den Brief stumm aus der Hand legte. »Ich habe nie etwas auf anonyme Denunziationen gegeben: Feigheit ist mir verhaßt, pcha! Ich weiß, du wirst mir die Wahrheit sagen. Da sieh: hier sind noch fünf andre solcher Wische. Es steht überall ungefähr dasselbe drin. Außerdem wird behauptet, du hättest Leute, die zu mir kommen wollten, mit Gewalt daran verhindert, Damen geschlagen und die Treppen hinuntergeworfen, den Polen, den du in meinem Namen um Verzeihung bitten solltest, im Park dermaßen zugerichtet, daß er sich kaum mehr vom Platze schleppen konnte, und – und dich überhaupt überall in aufdringlichster Weise in fremde Angelegenheiten gemischt, meine ergebensten Freunde brutal behandelt – und ich weiß nicht, was noch alles! Also, bitte, rechtfertige dich, wenn du kannst! Das ist alles Weiberklatsch, – nicht wahr – von A bis Z erlogen? Sage nur ein Wort, und ich will dir glauben!«

Aber Florian war nicht im stande, einen Laut zu äußern. Bleich, zitternd, seinen gütigen Meister mit weitaufgerissenen Augen anstarrend. stand er da. So also nahm sein Charakterbild sich aus, mit den Augen der Feindschaft gesehen! Und dabei war eigentlich, wenigstens in dem ersten Briefe, nicht einmal eine direkte Unwahrheit. Wie konnte er irgend einem Menschen, der ihm nicht bis ins innerste Herz zu schauen vermochte, begreiflich machen, daß trotz des bösen Anscheines alles recht harmlos verlaufen sei? Vor seinem eigenen Gewissen hatte er sich ja doch schon schuldig erklärt und seinen teuren Meister hatte er auch schon belogen! Wo sollte er anfangen mit seiner Verteidigung, wo sollte er aufhören? Wie ein recht dummer unreifer Bursche hatte er jedenfalls gehandelt. Ilonka hatte es ihm ja deutlich genug gesagt, und er hatte es sich selber auch nicht verschwiegen. Ein Sünder war er wohl nicht, wohl aber ein Esel, der Prügel verdiente. Und Eseleien beichten sich manchmal schwerer als große Sünden. So stand er denn da und duckte verschüchtert den Kopf und wußte nichts zu sagen.

Liszt wurde endlich ungeduldig. Er packte ihn bei der Schulter, schüttelte ihn aufmunternd und rief: »Komm doch zu dir, mein Sohn, sprich doch – ich will das alles nicht glauben, hörst du? Antworte mir: ist es wahr, daß du Kopfschmerzen vorgeschützt hast, um dich von meiner Soiree fortzuschleichen und währenddessen die Tochter dieser Leute aus Berlin zu entführen, die ich auf deine Veranlassung einladen mußte?«

»Ja; das heißt: entführt habe ich sie eigentlich . . .«

»Bist du mit ihr allein nach Jena gefahren?«

»Ja.«

»Hast du mit ihr die Nacht im Hotel zugebracht?«

»Ja, das heißt: sie war bei der Badacs.«

»Bei der Badacs? Ah, sapristi! Dann ist ja alles wahr?«

Florian schwieg.

Ein paarmal ging Liszt erregt im Zimmer auf und ab, dann trat er noch einmal vor ihn hin und fragte milde, indem er sein Auge suchte: »Sag mir, mein Sohn – war das nun wenigstens Liebe?«

Da zuckte Florian erschrocken zusammen, fuhr sich mit den zitternden Fingern durchs Haar, setzte mehrmals zum Reden an und stieß dann endlich ganz beängstigt hervor: »Ich weiß nicht.«

»Du weißt nicht?« brach Liszt entrüstet aus. »Also ein ganz frivoles Spiel mit einem Menschenschicksal? O pfui – pfui sage ich!«

»Nein, nein, nein!« jammerte Florian qualvoll auf. »So war's doch nicht!«

»Wie denn sonst? Du weißt, daß ich kein Philister bin. Wenn junge Leute mit leichtem Künstlerblut ihre kleinen Liaisons anspinnen, die zu nichts verpflichten – gut, gut – ich drücke beide Augen zu! Freie Menschen unter sich mögen die glückliche Stunde genießen. Das erhöht den Wert des Lebens und hat nichts mit der Moral zu thun; aber was du begangen hast, das tritt die Moral mit Füßen! Eine Braut, ein anständiges Mädchen, verführen – ohne Liebe noch dazu; mich zum Helfershelfer machen und gegen andre als Sittenrichter auftreten . . . Ach geh, geh – ich habe mich in dir getäuscht! Du hast mir sehr weh gethan, pcha – ich habe mir so viel von deinem Schädel versprochen – er hat es nicht gehalten – deine offene Stirn und deine ehrlichen Augen haben mich belogen! Das thut mir weh! – Gott führe dich zu dir selbst zurück! Ich will für dich beten, mein Sohn – aber geh jetzt, geh!«

Florian verließ das Zimmer, in dem er die schönsten Stunden seines Lebens verweilt hatte. Er fühlte sich unwürdig, sich zu verteidigen angesichts des herben Schmerzes, den er seinem väterlichen Freunde und Meister bereitet hatte. Er stürzte heim, schloß sich in sein Zimmer ein und heulte und tobte sich aus wohl ein paar Stunden lang. Dann beschloß er, sich schriftlich dem Meister zu eröffnen und eine ruhige Erklärung seines sonderbaren Verhaltens zu versuchen, aber es wollte ihm nicht gelingen. Kein halbes Dutzend vernünftiger Sätze brachte er zu stande. Da gab er's auf, packte seine sieben Sachen zusammen und verließ am Nachmittag, ohne sich von einem Menschen zu verabschieden, die freundliche Musenstadt, in der er in kurzer Frist so viel stolze Freuden, so viel neue Erkenntnis und auch so tiefes Leid erfahren hatte.


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