Ernst v. Wolzogen
Der Kraft-Mayr
Ernst v. Wolzogen

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Drittes Kapitel.

Herr Mayr haut.

Am andern Morgen erlebte Frau Olga Burmester eine große Ueberraschung. Ihr Mann war in ihren Augen ein Frühaufsteher, denn er erhob sich jeden Morgen pünktlich um acht Uhr, einerlei, wie spät er zu Bett gekommen war, wogegen die Auferstehungsstunde der Gnädigen je nach dem Nervenstande erst zwischen Neun und Zwölf schlug. Sie hatte heute ihren Kakao – sie genoß immer nahrhafte Getränke, da sie die Hoffnung, etwas voller zu werden, immer noch nicht aufgegeben hatte – um neun Uhr zu sich genommen, gedachte jedoch, um den möglichen üblen Folgen der Alteration vom gestrigen Abend zu begegnen, noch ein Stündchen oder zwei liegen zu bleiben.

Sie tupfte sich eben mit der zierlichen Serviette die Spuren von Kakao und weichem Ei aus den Mundwinkeln, als ihr Gatte fix und fertig zum Ausgehen gekleidet hereintrat und ihr ankündigte, daß er in Theklas Begleitung einen größeren Spaziergang im Tiergarten zu machen beabsichtige.

»Thekla kann heute nicht mitgehen,« versetzte seine Gattin kühl, indem sie die Kissen wieder unter dem Rücken hervorzog, mit deren Hilfe sie sich zum Zwecke des Frühstückens aufrecht hingesetzt hatte, und sich wieder behaglich lang ausstreckte. »Du hast wohl vergessen, lieber Willy, daß um elf Uhr Herr Mayr zum Unterricht kommt?«

»Bis um elf Uhr sind wir wieder zu Hause.«

»Ach du weißt doch ganz gut, daß Thekla vor dem Unterricht immer eine Stunde Fingerübungen machen muß. Was soll denn Herr Mayr mit ihr anfangen, wenn sie sich mit steifen Knöcheln ans Klavier setzt?«

»Das ist mir ganz gleichgültig,« versetzte der Konsul mit erstaunlicher Bestimmtheit. »Ich glaube, das Kind wird frischer und gesammelter an seine Aufgabe herantreten, wenn es sich nicht schon vorher ermüdet hat. Uebrigens ist mir das auch ganz egal, ob Thekla heute oder sonst wann mehr oder minder gut Klavier spielt: Die Hauptsache ist, daß wir für ihre Gesundheit sorgen und sie nicht übermäßig anstrengen.«

»Ja mein Gott, was ist denn das für ein Ton?« rief Frau Olga, ihre Augen vor Erstaunen weit öffnend, indem sie sich mit einem Ruck emporrichtete. »Ich meine doch, es wäre zwischen uns eine abgemachte Sache, daß du mir die künstlerische Erziehung allein überläßt.«

»Ach was, künstlerische Erziehung! Redensart!«brummte der Konsul ärgerlich. »Wenn in der Ehe der eine Teil unvernünftig am Kinde handelt und der andre Teil das einsieht, so hat er die verfluchte Pflicht und Schuldigkeit, dagegen aufzutreten und dem Schaden nach Möglichkeit vorzubeugen. Ich habe unrecht gethan, mich so wenig um Theklas Erziehung zu bekümmern. Ich werde jetzt versuchen, das Versäumte nachzuholen. So, also guten Morgen, liebe Olga.«

Der kleine Herr schwenkte stolz seinen Hut gegen die Gattin und verließ eiligst das Schlafzimmer, bevor sie noch Worte gefunden hatte, um ihrer Entrüstung Ausdruck zu geben. Sie hatte nicht übel Lust, aus dem Bette zu springen, einen Morgenrock überzuwerfen und ihrem aufrührerischen Gemahl nachzulaufen, um ihm womöglich Thekla noch zu entreißen, bevor er sie sicher außerhalb der Wohnungsthür hätte. Aber der Gedanke, sich durch eine Scene dieser Art vor den Dienstboten zu blamieren, hielt sie zurück. Sie griff nach der Birne der elektrischen Klingel, die ihr zu Häupten hing, und drückte wütend auf den weißen Knopf. Und immer wieder ließ sie, da das Mädchen nicht sofort erschien, mit kaum sekundenlangen Pausen dazwischen ihr aufgeregtes Läuten erschallen.

Die Marie kam ganz erschrocken hereingestürzt und hatte gleich einen feuchten Lappen mitgebracht, denn sie war überzeugt, daß die Gnädige den Kakao über die Atlasdecke gegossen habe.

»Rufen Sie meine Tochter zurück, ich habe ihr noch etwas zu sagen!« rief die Frau Konsul dem Mädchen entgegen, ehe es noch nach ihren Wünschen fragen konnte.

»Das gnädige Fräulein sind schon längst fort,« erwiderte Marie. »Sie sind vorausgegangen und haben den gnädigen Herrn unten auf der Straße erwartet.«

Es kostete der gnädigen Frau keine geringe Anstrengung, ihre Gefühle nicht vor dem Mädchen zur Explosion gelangen zu lassen. Sie hieß die Marie das Frühstücksgeschirr hinaustragen. Aber sobald sie allein war, schlug die Gnädige wütend mit der flachen Hand um sich und lachte dazu nicht eben lieblich. »Unerhört! Dieser dicke, kleine Willy Burmester! Jetzt will er plötzlich anfangen, sich aufzuspielen! Macht mir die Thekla rebellisch. Unglaublich! Aber Angst haben sie doch alle beide, die Helden! Er rennt davon, ohne mich zu Worte kommen zu lassen, und sie läuft gar gleich bis auf die Straße hinunter, damit ich sie nicht zurückholen kann. Na wartet nur! Ich denke, solche Scherze sollen sich nicht allzuhäufig wiederholen. Es ist wirklich zu arg! Kaum hat man sich die Aufregung von gestern abend ein bißchen herausgeschlafen, so muß man sich am frühen Morgen schon wieder krank ärgern!«

Um die Morgenruhe war's nun doch geschehen. Es war schon am besten, gleich aufzustehen und mutig zuzuschauen, wie sich die Welt so früh am Tage und wie sich das friedliche Heim nach erfolgter Kriegserklärung ausnahm. – –

Pünktlich wie immer erschien um elf Uhr Herr Florian Mayr zur Klavierstunde. Die gnädige Frau empfing ihn im Salon.

Mit den Worten: »Ich bedaure unendlich, mein lieber Herr Mayr, daß Sie einen Augenblick warten müssen,« rauschte sie ihm in ihrem schweren, kostbaren Morgengewande entgegen. »Mein Mann hat unsre Thekla entführt. Er behauptet, es sei gesünder, spazieren zu gehen, als Klavier zu üben.«

»Darin hat er ohne allen Zweifel recht,« fiel Florian Mayr lachend ein, indem er der stummen Aufforderung, Platz zu nehmen, folgte.

Frau Burmester setzte sich ihm gegenüber aufs Sofa und fuhr, ohne seinen Einwurf weiter zu beachten, fort: »Mein Mann ist leider nicht musikalisch genug, um mir in der künstlerischen Erziehung unsrer Tochter den nötigen Beistand zu leisten. Mein Gott, als ehemaliger Geschäftsmann ist er gewohnt, die Künste nur als angenehmes, aber müßiges Beiwerk zu betrachten – das heißt, so lange man nicht seinen Unterhalt dadurch verdienen will. Es fehlt ihm ganz die Einsicht dafür, daß selbst der Dilettant, der etwas Anständiges leisten will, mit Ernst und Anspannung arbeiten muß. Sie können sich wohl vorstellen, daß meine Tochter demjenigen von uns am willigsten folgt, der ihr das Leben am bequemsten zu machen verspricht. Mein Gott, dafür ist sie jung. Aber ich bin recht froh über die Gelegenheit, Sie einmal allein zu sprechen, mein lieber Herr Mayr. Ich habe Sie schon immer bitten wollen, mit meiner Tochter doch ja recht streng zu verfahren. Sie läßt sich gar zu gern gehen, wenn man sie nicht ganz straff herannimmt. Also bitte, kümmern Sie sich gar nicht darum, daß sie ein junges Mädchen von guter Familie ist, die es nicht nötig hat, sondern behandeln Sie sie einfach wie irgend einen Schüler, aus dem was Tüchtiges werden soll und der etwas schärfer angepackt werden muß als andre, die vielleicht von Natur größeren Fleiß oder eine leichtere Auffassungsgabe besitzen. – Wollen Sie mir das versprechen?«

Der Pianist antwortete nicht gleich. Er lächelte vor sich hin und betrachtete seine langen, knochigen Finger. Endlich sagte er: »Wissen Sie, gnädige Frau, daß mir das zum erstenmal passiert, daß ich um größere Strenge beim Unterricht ersucht werde? Ich bin nämlich sonst als ein salva venia saugrober Kerl bekannt. Es ist mir auch ziemlich einerlei, ob ich eine feine junge Dame, oder einen dummen Buben vor mir habe. Wenn ich sehe, daß bei meinem Schüler Talent vorhanden ist, so nehme ich auch die Sache ernst und verlange die höchste Anspannung. Aber da wir gerade davon reden, um Ihre Fräulein Tochter thät' es mir doch leid.«

»Wie so? Was meinen Sie damit?«

»Also ehrlich gesagt, ich bin nicht der Meinung, daß das Fräulein Talent genug hat, um meine schärfste Tonart zu vertragen. Ich glaub' schon, daß der Herr Konsul recht hat. Lassen Sie's nur brav spazieren gehen und nit mehr Klavier spielen, als wie's das Fräulein selber freut. Viel weiter kommt sie doch nit, und selbst wenn's weiter kommt – was Gescheits wird doch nit draus.«

Die Frau Konsul machte ihren Rücken steif und blickte recht geärgert drein. »O Herr Mayr,« versetzte sie gezwungen lächelnd, »mir scheint, Sie gehen etwas zu weit. Thekla ist doch so jung, ihr Charakter ist doch wohl noch zu unentwickelt, um . . . Uebrigens sind Sie ja auch noch recht jung: ich weiß nicht, ob Sie nicht etwas vorschnell urteilen. Sie entschuldigen – aber ich glaube, die Erfahrung dürfte Sie später doch darüber belehren, daß auch in der Kunst Talent und Temperament nicht allein ausschlaggebend sind und daß beharrlicher Fleiß und ernste Auffassung vieles zu ersetzen im stande sind.«

»Ja, gnädige Frau, wenn Sie meinen, daß ich nichts davon versteh' . . .«

»Pardon, Herr Mayr,« unterbrach ihn Frau Burmester, indem sie sich rasch erhob, »ich höre draußen Schritte, ich glaube, sie sind zurückgekommen, Sie entschuldigen.« Damit neigte sie leicht den Kopf gegen ihn und rauschte zur Thür hinaus.

Florian Mayr blieb allein. Mit überlegenem Lächeln blickte er der Dame des Hauses nach, und dann zeichnete er mit dem Zeigefinger ein bedeutungsvolles Kreuz auf seine hohe Stirn. Im Nebenzimmer vernahm er ein erregtes Flüstern. Er lachte kurz auf, und dann setzte er sich vor den Flügel, klappte den Deckel auf, und begann in weitgriffigen Accorden zu präludieren. Wenige Minuten später trat Fräulein Thekla ein. Er that, als ob er ihrer nicht gewahr worden wäre, und nahm eine der schwierigsten Lisztschen Etüden in Angriff, bei deren Studium er gerade begriffen war. Thekla stand einige Schritte hinter ihm und hörte zu. Plötzlich drehte er sich auf dem Schraubstuhl herum und lachte ihr gutmütig ins Gesicht. »Na, mein Fräulein, da sind Sie ja.«

Sie wollte sich entschuldigen. aber er ließ sie gar nicht ausreden. »Weiß schon alles. Jetzt wollen wir mal sehen, wie Sie mit roten Backen Klavier spielen können. Ich hab' Sie noch nie mit roten Backen gesehen, Fräulein Burmester.« Damit stand er auf, um ihr den Klavierstuhl einzuräumen, und zog sich selber einen andern Stuhl heran.

Thekla errötete noch tiefer. Sie wußte nie, wie Herr Mayr es eigentlich meinte. Es klang so ironisch. Ob er auch böse mit ihr war, wie die Frau Mama, von der sie soeben eine komprimierte Strafpredigt im Flüsterton genossen hatte? Sie suchte ihr Notenbuch hervor, legte es auf das Pult und schraubte sich den Stuhl zurecht. Herr Mayr saß mit untergeschlagenen Armen daneben und guckte ihr fortwährend ironisch lächelnd ins Gesicht. Sie wußte gar nicht, wo sie hinschauen sollte. Hochklopfenden Herzens setzte sie sich nieder. zog ihre Ringe vom Finger, strich sich ihr Kleid über den Knieen glatt und sagte endlich ganz schüchtern. »Ach, Herr Mayr!«

»Was denn? Sind Sie nicht gesund?«

»Doch, ja, danke. Aber so wie Sie lerne ich doch nie spielen.«

»Recht haben S'!« lachte er. »Also fangen wir an! Spielen Sie nur, so schlecht Sie wollen. Ich werde nachher schon meine Maßregeln treffen.« Und er lachte wieder so unerklärlich.

Sie begann zu spielen, eine Chopinsche Mazurka, zaghaft, matt im Ausdruck, schwankend im Takt, schlecht phrasiert und alle Augenblicke, besonders im Baß, daneben greifend. Was war denn das? Herr Mayr hörte wohl gar nicht zu? Er ließ sich doch sonst keinen Batzer gefallen, ohne sie anzuschreien. Ganz verstohlen wagte sie ein wenig nach ihm herumzuschielen. Ach je! Er starrte sie immer noch mit seinen kleinen braunen Augen so komisch an und lächelte verschmitzt dazu.

Es war eigentlich zum erstenmal, daß Florian sich seine Schülerin genauer betrachtete. Diese wohlerzogenen Mädchen aus guter Familie, die er für fünf bis zehn Mark die Stunde unterrichtete, waren ihm immer herzlich gleichgültig gewesen. Er fand keinen Reiz in ihnen, denn er vermochte hinter den glatten, weichen Lärvchen keine Persönlichkeit zu entdecken. Er teilte die sogenannten anständigen jungen Mädchen aus wohlhabenden Kreisen einfach in Klaviergänse, Singgänse und Malgänse ein. Damit war er fertig mit ihnen. Aber nach dem vorhergegangen Gespräch mit Frau Burmester erschien ihm dieses kleine Mädchen plötzlich in andrer Beleuchtung. Ein unglückliches Opfer mütterlicher Verbohrtheit hatte er da vor sich, und er mußte auch daran denken, wie er vor wenigen Tagen aus purer Laune und Ungeduld dieses selbe arme Opferlämmchen seinem waschlappigen polnischen Kollegen Prositlaus als leichte Beute zuzutreiben versprochen hatte. Das Mädel war doch eigentlich sehr hübsch. Zwischen ihrer fast üppigen jungfräulichen Reife und dem kindlich verängstigten Ausdruck ihres Gesichtes bestand ein auffallender Gegensatz, der ihrer zarten Schönheit etwas Rührendes verlieh. Warum soll denn das arme Ding Klavier spielen können? dachte er bei sich. Wenn sie gut schläft und gut verdaut und spazieren lauft und sich rote Backen holt, so ist es doch hocherfreulich anzuschauen. Und als ein erbaulicher Anblick für die geplagte Menschheit friedlich durchs Dasein zu wandeln, das ist doch auch ein ganz schöner Lebenszweck.

Thekla hatte ihre Mazurka zu Ende gebracht. Sie ließ die Hände in den Schoß sinken und blickte scheu von der Seite mit ängstlich fragendem Ausdruck zu ihrem gestrengen Lehrmeister auf.

Florian Mayr schüttelte seine glatte Mähne, kratzte sich komisch hinter den Ohren und sprach: »Ach so, mein gnädiges Fräulein, jetzt soll ich wohl was sagen. Na also; hundsmiserabel war's!« Er legte ihr die Hand auf den Arm, drückte sie energisch vom Klavierstuhl herunter, setzte sich selbst an ihre Stelle und spielte ihr die Mazurka vor. Das klang freilich anders. Frei im Takt und doch straff im Rhythmus. Man hörte ordentlich die sporenklirrenden Stiefel aufschlagen und die wunderbar graziösen und pikanten Chopinschen Fiorituren perlten so leicht aus den Fingern, huschten wie bunte Libellen über das glänzend dahinfließende Wasserband der Melodie.

»So schaut das Ding aus,« sagte er streng, sobald er geendigt hatte. Damit räumte er ihr ihren Platz wieder ein. Er lächelte jetzt nicht mehr. Im Spielen war wieder jener Ernst über ihn gekommen, mit dem er alles erfaßte, was seine Kunst anging.

Thekla seufzte tief auf und dann raffte sie ihren ganzen Mut zusammen und griff kräftig in die Tasten. O weh! gleich im ersten Accord zwei falsche Noten. Herr Mayr schrie schmerzlich auf; aber Thekla wollte sich nicht um ihre tollkühne Stimmung bringen lassen. Sie donnerte weiter und trat aufs Pedal los, wie auf einen hilflosen alten Köter, an dem ein schlechter Mensch seine böse Laune ausläßt. Das Tempo wurde immer schneller, die Figuren immer verwischter, die groben Batzer immer häufiger.

»Falsch! cis Himmelherrgottelement! Piano! Zum Donner und Doria! Jetzt crescendo – Jesses, Jesses! – Halt, halt! – Pfui Deifel, is des a Sauerei!« Aber wie sehr er auch schrie und tobte, der grimmige Herr Florian, das Fräulein Thekla war nicht zu halten, das Fräulein Thekla war toll geworden.

Herr Mayr war jetzt ernstlich böse. Wollte sie sich gar über ihn lustig machen, das dumme Ding? Das sollte sie fein bleiben lassen! »Halt! oder –!« rief er noch einmal.

Sie hörte nicht, sie polterte weiter. Ihre zarten Nüstern weiteten sich, rasch ging ihr Atem, ihre Wangen wurden abwechselnd dunkelrot und bleich.

Jetzt war Florian Mayrs Geduld zu Ende und – patsch! da hatte sie einen Klaps auf der linken Hand sitzen, der nicht übel brannte.

Thekla fuhr mit einem kleinen Schrei des Entsetzens herum; sie rieb die Linke mit der Rechten und starrte dem wütenden Klaviermeister ganz entsetzt ins Gesicht.

Und der Schändliche beugte sich mit zusammengebissenen Zähnen vornüber und – pitsch! patsch! da hast du's! – sausten knochenharte, wohlgezielte Tatzeln auf die warmen, weichen Patschhändchen hernieder.

Die arme, erschrockene Thekla schien in der ersten Ueberraschung gar nicht zu begreifen, daß sie es war, die geprügelt wurde. Erst als sie ein reichliches halbes Dutzend weg hatte, kam sie aus ihrer Betäubung zu sich, sprang auf die Füße und rief laut aufweinend, indem sie nach der Thür hinflüchtete: »Papa! Papa! Herr Mayr haut mich!«

Nun war an Meister Florian die Reihe, die Augen erstaunt aufzureißen. Urplötzlich kam es ihm zum Bewußtsein, daß er sich ganz unerhört unpassend benommen habe. Er sprang auf und lief dem weinenden Mädchen nach, um es zu beruhigen, um Verzeihung zu bitten, oder auch auszuzanken, weil es so kindisch heulte.

Thekla mochte glauben, sie sollte noch mehr Prügel bekommen, denn sie stieß einen ganz hohen quietschenden Angstschrei aus und flüchtete zur Thür hinaus.

Just zur selben Zeit hatte auch der Konsul, durch die Angstrufe der Tochter herbeigelockt, von der andern Seite die Thür des Salons erreicht, und ihm folgte fast auf dem Fuße seine Gattin mit rotem Kopf und funkelnden Augen, denn die Hilferufe der Tochter hatten sie in einer scharfen Auseinandersetzung mit ihrem Herrn Gemahl unterbrochen. Thekla flog ihrem Vater an die Brust, umklammerte seinen Hals mit beiden Armen und stieß laut aufschluchzend noch einmal ihre entrüstete Anklage hervor: »Papa, Herr Mayr haut mich!«

»Was ist das? Ich habe wohl nicht recht gehört?« stotterte der kleine Herr verwirrt, indem er Thekla sanft beiseite schob und einige Schritte über die Schwelle trat. Seine blanke Glatze wurde für einen Moment dunkelrot und er schaute drohend zu dem langen, dünnen Klavierlehrer auf, der mit beschämt gesenktem Kopfe dicht vor ihm stand. »Herr Mayr, antworten Sie mir, Sie haben sich wirklich erlaubt . . .?«

»Entschuldigen Sie nur, Herr Konsul,« stammelte Mayr verwirrt, indem er sich abwechselnd bald mit der einen, bald mit der andern Hand durchs Haar fuhr. »Nehmen Sie's nur nit übel – ich weiß selbst nit, die Hand muß mir so ausgerutscht sein, 's waren ja nur a paar Tatzen, wie man bei uns sagt.«

Hinter des Vaters Rücken hielt Thekla ihre rot angelaufenen Handrücken der Mutter entgegen, und ehe noch der Konsul seiner Entrüstung weiteren Ausdruck zu geben vermochte, trat Frau Burmester über die Schwelle und rief: »Ist es denn menschenmöglich! Sie haben sich an meinem Kinde vergriffen?«

Herr Mayr warf den Kopf auf und entgegnete trotzig: »Ach, Sie, gnädige Frau! Sie haben ja selbst gewünscht, ich soll das Fräulein mit äußerster Strenge behandeln. Wann's jetzt nit recht is . . .«

»Was, Olga? Das hast du gethan?« wandte sich Herr Burmester mit ausbrechendem Zorn an seine Frau.

Die Gnädige vergaß sich. »Ich?« kreischte sie auf. »Das wird ja immer schöner! Ich soll wohl jetzt an allem schuld sein?« Und zu Mayr gewendet: »Habe ich Ihnen vielleicht erlaubt, mein Kind zu mißhandeln?«

»Das Kind mißhandelt weiter keiner als Sie allein!« platzte Herr Mayr heraus. »Jawohl, daß Sie's nur wissen: ich hab's Ihnen vorhin schon sagen wollen: es ist eine Sünde, ein himmelschreiender Unfug, wie S' das Fräulein Tochter mit dem Klavierspielen plagen. Das Fräulein hat keine Lust und kein Talent. Das Fräulein ist so unmusikalisch wie mein Stiefel da. Lassen Sie's nur spazieren geh'n und rote Backen kriegen, das ist viel g'scheiter; und im übrigen gibt's für ein hübsches, braves und angenehmes Mädchen nützlichere Sachen zu lernen – was braucht's grad die verdammte Kunstpfuscherei zu sein. Das ist meine Meinung.«

»Wir haben Sie nach Ihrer Meinung nicht gefragt!« rief Frau Burmester wütend. »Und wenn Sie nicht wissen, wie man sich in anständigen Häusern benimmt . . .«

»Jawohl – selbstverständlich,« fiel ihr der Gatte ins Wort. »Ich werde Ihnen Ihr Honorar für den letzten Monat auszahlen und dann muß ich Sie bitten . . .« Er wies mit der Hand nach der Ausgangsthür.

»Gewiß – selbstverständlich!« stimmte Herr Mayr kopfnickend bei. Dabei blickte er über den kleinen Herrn hinweg und heftete seine braunen Augen voll Mitleid auf Thekla, die sich während des Wortwechsels in eine entfernte Ecke des Salons geschlichen hatte und mit ängstlicher Neugier des Ausgangs dieser Scene harrte.

»Ja, und – und selbstverständlich werden wir einen andern Lehrer engagieren,« fügte der Konsul ein klein wenig unsicher hinzu.

»Nein, erlauben Sie, das ist durchaus nicht selbstverständlich,« trumpfte Herr Mayr auf. »Das ist sogar vollständig ausgeschlossen.«

»Was, Sie erlauben sich . . .?«

»Ja, ich erlaube mir.« Mit drei großen Schritten stand Meister Florian vor Thekla, ergriff so geschwind, daß sie es nicht zu verhindern vermochte, ihre Hände, faßte sie alle beide in seiner gewaltigen Linken zusammen und streichelte sie sanft mit der Rechten. »Mein armes, liebes Fräulein, seien Sie mir doch bitte, bitte, nicht mehr bös. Sie haben mich halt wild gemacht mit Ihrem polizeiwidrig miserabeln, hundsgemeinen Spiel; aber ich hab' mich aufgeführt wie ein salva venia Trampeltier. Also sein's wieder gut. Des versprech' ich Ihnen heilig und gewiß: ich wach' über Sie, daß Ihnen kein so gemeiner Kerl, so ein Musikmeister wieder zu nah kommen darf. Solang ich am Ort bin, kriegen S' keine Klavierstund' mehr, so wahr ich Florian Mayr heiß'!«

»Ach!« sagte Thekla ganz leise. Halb zweifelnd noch, halb kindlich vertrauend schlug sie ihre großen Augen zu ihrem bösen Lehrmeister auf, und ein reizendes Lächeln huschte über ihr verweintes Gesichtchen. Ohne weiteren Widerstand überließ sie ihm ihre Hände, die er fortwährend streichelte und drückte.

»Lassen Sie doch meine Tochter los! Ich verbiete Ihnen, mein Kind zu berühren!« rief die hagere Konsulin, in königlicher Haltung zu den beiden schreitend und ihre Hand gebieterisch zwischen sie streckend.

Und der Konsul ballte die Faust, schüttelte den Kopf und sagte, ironisch lachend: »Na, hören Sie mal, Herr Mayr, da wäre ich doch wirklich neugierig, zu erfahren, wie Sie das anstellen wollten! Sie wollen uns verhindern, unsrer Tochter Klavierstunde geben zu lassen? Haha, das ist wirklich gut!«

Florian drehte sich auf dem Absatz herum und lachte dem Konsul freundlich ins Gesicht: »Ei freilich, haha, das ist auch gut; das ist sogar ausgezeichnet! Ich rate Ihnen, Herr Konsul, probieren Sie's nicht! Ich erfahr's ganz bestimmt, wenn Sie so einen geehrten Kollegen zum Zweck des Unterrichts ins Haus lassen. Ich leg' mich auf die Lauer und wenn ich den Betreffenden erwisch', nachher hau' ich ihm eins nauf, daß er sich bei Ihnen bedanken kann – und wenn's ein Hochschulprofessor wär' – haha! In diesem Fall sogar mit besondrer Genugtuung. Ich habe die Ehre, Herr Konsul. Gnädige Frau, wünsch' angenehme Unterhaltung. Gelten's, Fräulein Thekla, jetzt sind S' mir nimmer bös?«

»Ach nein, Herr Mayr.«

Und mit einem allgemeinen, etwas schiefen Bückling trollte sich Meister Florian zur Thüre hinaus.

Herr und Frau Burmester starrten einander sprachlos an. Thekla strahlte. – –

Florian Mayr war wie gewöhnlich in einem halben Dutzend Sprüngen die Treppe hinunter gekommen. Als er vor der Hausthür stand, verschnaufte er ein wenig. Die Geschichte hatte ihn doch aufgeregt. Das arme Mädel! Ach du himmlischer Herrgott! Die thörichten Eltern plagten es unsinnig mit Dingen, für die es nun einmal nicht geschaffen war, und er prügelte es gar noch! »Ich bin, weiß Gott, ein Trampeltier!« knurrte er halblaut vor sich hin. Er gab seinem Cylinder einen Stupfer, durch den er ein wenig melancholisch vornüber zu sitzen kam, und dann storchte er die Straße hinunter. In der Auslage eines Delikateßgeschäfts bemerkte er frische Apfelsinen, eine Rarität um diese Jahreszeit. Er ging hinein und begehrte ein halbes Dutzend. Sie waren sehr teuer. Er schimpfte, aber er kaufte sie. Dann ging er weiter und bog in die Jägerstraße ein. Bei Treu & Nuglisch blieb er abermals stehen, gab seinem Cylinder von vorn einen Stupfer, daß er nach hinten rutschte, und titulierte sich abermals Trampeltier. Darauf betrat er den Laden und kaufte ein Flacon feines Parfüm. Nun wendete er seine Schritte wieder rückwärts nach der Markgrafenstraße, zum Hause des Konsuls Burmester. Er klomm die Stiege hinan, immer vier Stufen auf einmal nehmend. Oben angekommen, schellte er bescheiden wie ein Bittsteller. Der Diener öffnete.

»Sie mein Lieber, gehn S', sein S' so gut, rufen Sie mir einmal das Fräulein Kammerjungfer. Ich hätt' ihr was im Vertrauen zu sagen,« raunte er dem Sklaven geheimnisvoll zu.

Fritz grinste, entfernte sich, und nach einer kleinen Weile erschien richtig die Marie. Meister Florian hatte unterdes seinem Portemonnaie nicht ohne einen leichten Seufzer einen Thaler entrungen. Mit dem winkte er schon von weitem dem Mädchen, um es zutraulich zu machen. »Sie, Fräulein, pscht! –«

»Ach nee, Herr Mayr, sind Sie's wirklich?«

»Pscht! Hier schaun S', der Thaler gehört Ihnen, wenn S' diese beiden Gegenstände dem Fräulein Thekla übergeben, ohne daß die Herrn Eltern was gewahr werden. Haben S' mich verstanden?« Mit diesen Worten deponierte er zunächst den Thaler, darauf die Düte mit den Apfelsinen und endlich das Paket mit dem Flacon in die Hände des Mädchens.

»Ja aber Herr Mayr, ich weiß doch nicht –«

»Gleich geben S' den Thaler wieder her, Sie – Sie Lamm Sie!«

»Ja ja, ich werd's schon besorgen,« kicherte das Mädchen. »Soll ich was zu bestellen?«

»Einen rechten schönen Gruß, sonst nix und – Sie – pscht, hören S', Fräulein! Wann etwa die Herrschaft einen neuen Klavierlehrer engagiert, so benachrichtigen Sie mich sofort. Das gnädige Fräulein weiß meine Adresse. Ich werde mich erkenntlich zeigen – verstanden?«

»Na jewiß, Herr Mayr.«

»Is recht, nacha ha'm mir ausg'redt. Also an rechten schönen Gruß.« Er nickte dem Mädchen pfiffig blinzelnd zu und trollte sich davon.

Auf dem Heimweg fiel ihm wieder ein, daß er seinem polnischen Kollegen die Stunden im Hause des Konsuls Burmester zu verschaffen versprochen hatte. Er war ein peinlich gewissenhafter Mensch. Was er versprochen hatte, pflegte er getreulich zu halten. In diesem Falle aber überlegte er nicht lange. Er beschloß, wortbrüchig zu werden, und absolvierte sich gleichzeitig selber durch die Ueberlegung, daß es doch den Satan mit Beelzebub vertreiben hieße, wenn er dem armen, guten, dummen Kinde statt eines Lehrers, der es bloß prügelte, einen solchen verschaffte, der es gar heiraten wollte. »Sie mag ja eine Gans sein,« sinnierte er weiter, »aber für den edlen Pan Prositlaus ist sie mir denn doch zu gut. Ich werde mich mal in militärischen Kreisen umsehn, vielleicht finde ich einen Lieutenant . . .«

Er kehrte heim und schrieb eine Postkarte an Herrn Tonkünstler Antonin Prczewalsky, auf welcher er ihm mitteilte, daß er ihn leider nicht an Herrn Konsul Burmester empfehlen könne, weil das Fräulein überhaupt keinen Klavierunterricht mehr empfangen solle. Im Bewußtsein, eine gute That verrichtet zu haben, überkam ihn eine sonnige, menschenfreundliche Stimmung. Er steckte sich eine Cigarre an und stattete der Witwe Stoltenhagen einen Besuch in der Küche ab.

»Na, liebe Frau, wie geht's Ihnen heute?« redete er sie überaus freundlich an. »Gut? Ach wirklich? Ei das freut mich. Sie kamen mir dieser Tage so gedrückt vor. Nun freilich ja, so 'n Stückchen Papier is ja leicht zerrissen. Na, na, leiden Sie an Kongestionen? Sie werden ja ganz rot? Hören Sie, dagegen kann ich Ihnen den Mayrschen Gesundheitskaffee empfehlen. Ein gutes Gewissen und eine geregelte Verdauung, davon hängt das Gleichgewicht zwischen Leib und Seele ab. Behalten Sie das fest im Auge, Frau Stoltenhagen, dann werden Sie finden, daß das Leben vor Ihnen liegt so freundlich und bequem, wie eine Kommode, zu der jeder Schlüssel paßt. Keine Aufregung mehr und keine unangenehme Ueberraschung. – – Guten Morgen, Fräulein Nichte. – Was ich sagen wollte: – wenn Sie heiraten wollen, so thun Sie das nur durch ein Zeitungsinserat. In der Zeitung ist Diskretion immer Ehrensache. Wissen Sie, was Diskretion ist? Nein? Das wissen S' nit? Das hab' ich schon lang gewußt, daß S' das nit wissen. Also guten Tag, meine Damen, wünsch' gesegneten Appetit.«


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