Ernst v. Wolzogen
Der Kraft-Mayr
Ernst v. Wolzogen

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Zwölftes Kapitel.

Wagalaweia!

In den nächsten Tagen ging Florian Mayr in Weimar umher wie ein brüllender Löwe und suchte, welchen er verschlinge. Auswendig brüllte er zwar nicht, desto mehr aber inwendig, und zwar wie ein bayrischer Löwe. Das Weib hatte bisher in seinem arbeitsreichen Leben keinen Platz gefunden – und nun mußte seine erste Erfahrung mit dieser Menschengattung gleich so ausfallen! Er verspürte eine unbändige Lust, jemand zu prügeln, und da es leider nicht für anständig gilt, sich an Damen thätlich zu vergreifen, so deuchte ihm Jean d'Oettern der nächste dazu. Zweimal täglich sprach er sowohl im Atelier, als auch in der Wohnung des eleganten Malers vor, stets mit einem bedenklichen Knüttel bewaffnet, bei Regen und bei Sonnenschein. Aber der Herr war und blieb verreist. und niemand konnte Auskunft geben, wohin er sich gewandt habe oder wann er heimzukehren gedächte.

Da er sich nun das Prügeln vorläufig versagen mußte, versuchte er sich wenigstens dadurch schadlos zu halten, daß er an allen Personen aus dem Schwarm, die ihm mißliebig waren, sein Mütchen kühlte. Er war nicht mehr so naiv, wie in den ersten Tagen seines Hierseins, wo er noch gutgläubig alles für bare Münze genommen hatte, was ihm die lieben Kollegen und Kolleginnen von sich selbst und andern erzählten. Auch über Ilonkas tugendberühmte Tafelrunde waren ihm inzwischen die Augen geöffnet worden: gerade dieser gehörten die größten Windbeutel und die lockersten Dämchen an, und auch die Behauptungen von der erlauchten Abkunft, den fabelhaften Reichtümern und dem gewaltigen Genie einzelner ihrer Mitglieder hatten sich ihm als eitel Dunst erwiesen. Solange er noch als reiner Thor unter diesen Sündern wandelte, hatte ihn die Kunde von all den Kreuz- und Querverhältnissen, die da Männlein und Weiblein verknüpften, von der Schuldenmacherei und sonstigen Aeußerungen bodenlosen Leichtsinns dermaßen entrüstet, daß er am liebsten auch seinen teueren Meister vor der Berührung mit solchen räudigen Schafen bewahrt und die ganze Schächergesellschaft zum Tempel hinausgejagt hätte; seit er aber selbst vom Baum der Erkenntnis genascht, entledigte er sich in aller Stille des großen Ballastes von Steinen, den er sonst immer in der Tasche mit sich herumgetragen, um sie auf seine sündhaften Mitmenschen zu schleudern. Und wie die liebe Jugend nun einmal ihr bißchen Erfahrung zu verallgemeinern und ihre Grundsätze im Handumdrehen danach zu verändern pflegt, so beeilte sich auch der tiefgekränkte Florian, alsbald das Teufelsgeschlecht der Weiber für alle Mangelhaftigkeit dieses irdischen Daseins verantwortlich zu machen.

Da waren besonders ein paar Klaviatur-Mänaden, die Liszts Langmut schon auf harte Proben gestellt hatten und die sich außerdem gegenseitig in lächerlicher Eifersucht befehdeten. Fräulein Julie Robertson warf dem Fräulein Dorette Schönflies vor, daß sie durch abgefeimte Schmeichelkünste des Altmeisters Gunst erschlichen und sie aus seinem Herzen gedrängt habe, während Fräulein Schönflies überall herumerzählte, daß Fräulein Robertson sich so aufdringlich gegen den alten Herrn benommen habe, daß dieser sie nur noch bei den allgemeinen Empfängen sehen wolle. Die beiden Damen belauerten einander auf Schritt und Tritt und tauschten die erbaulichsten Zärtlichkeiten aus, wo immer sie sich begegneten. Die Robertson drohte, sie werde die Schönflies öffentlich ohrfeigen, wenn sie es wagen sollte, noch einmal bei verschlossener Thür beim Meister zu weilen, und die Schönflies wiederum weissagte der Robertson, daß sie noch per Schub in ihre Heimat befördert werden würde.

Fräulein Schönflies pflegte mindestens jeden zweiten Tag zu einer Stunde, wo Liszt nur für die wirklich Vertrauten zu sprechen war, anzutreten, um den Versuch zu machen, allein vorgelassen zu werden. Das glückte ihr höchstens alle vierzehn Tage einmal, denn sie war eine herzlich schwache Pianistin, und Liszt mußte just gar nichts Besseres zu thun haben, wenn er sich darauf einlassen sollte, sich privatim mit ihr zu beschäftigen. Ihre besondere Art der Koketterie war es, sich wie ein ganz kleines Mädchen zu gebärden, obwohl sie mindestens schon ihre fünfundzwanzig hinter sich hatte. Sie trug möglichst kurze Kleidchen, lange blonde Zöpfe und Amibändchen. Diesem Aufzuge entsprach ihr kindisches Gethue, und Liszt konnte sich daran ergötzen, wenn er just in der Laune war. Er brauchte ihr nur die Backen zu streicheln, so führte sie sofort ihre verschämte Backfischkomödie auf, so sicher wie ein dressierter Pudel auf Kommando seine Kunststücke. Wenn aber das Fräulein Schönflies nicht vorgelassen ward, so hielt sie sich unter allerlei Vorwänden mit dem Sekretär oder mit Fräulein Pauline, der Wirtschafterin schwatzend, so lange als möglich in der Hofgärtnerei auf, um den Anschein zu erwecken, als habe sie die ganze Zeit bei Liszt verbracht. Es war ihr eben die größte Freude, den Neid der Kolleginnen zu erregen. Fräulein Robertson dagegen hatte höhere Ziele. Wenn sie auch keine zweite Gräfin d'Agoult oder Fürstin Wittgenstein werden konnte, so wollte sie doch gerne ihren Namen auf die Nachwelt bringen als Liszts letzte Vertraute, als verständnisvolle Hegerin seiner letzten Pläne und Gedanken. Sie war eine energische Person, aber leider war sie dem Meister unsympathisch, und er dachte daher nicht daran, von ihrer hingebungsfreudigen Begeisterung irgend welchen Gebrauch zu seinem persönlichen Vorteil zu machen. Dabei wußte er noch gar nicht einmal, wie er auf Schritt und Tritt von ihr belauert wurde und wie ihre lächerliche Eifersucht über jede Gunstbezeigung wachte, die er irgend einer andern jüngeren Dame zu teil werden ließ.

Dieser beiden angenehmen Damen nun nahm sich Florian Mayr zunächst einmal liebreich an. Als er die Schönflies wieder einmal im Vorzimmer traf, während der Meister bei der Arbeit war, ersuchte er sie zunächst höflich, aber bestimmt, sich schleunigst entfernen zu wollen und nicht eher wiederzukommen, bis ihr der Meister sagen lasse, daß er sie zu sehen wünsche. Als sie aber mit weinerlicher Stimme dagegen Einwendungen erhob, ergriff er sie fest beim Handgelenk und zog sie hinaus. Und als sie draußen laut zu weinen und zu lamentieren anhob, um womöglich Liszts Aufmerksamkeit zu erregen, da begleitete er sie mit sanfter Gewalt auch noch die Treppe hinunter.

Ein Hohngelächter empfing die beiden, als sie unten im Hausflur anlangten. Das war Fräulein Robertson, die ihrer Feindin wie gewöhnlich aufgelauert hatte, um mit der Uhr in der Hand festzustellen, wie lange sie wieder beim Meister verweilte. Sofort ließ Florian die Schönflies los und wandte sich an die Robertson, der er einige Freundlichkeiten sagte, die wiederum Fräulein Dorettes lebhaften Beifall fanden, denn sie brach in ein schadenfrohes Gekicher aus. Nun fuhren die beiden Damen aufeinander los, und es gab ein anmutiges Gekreisch, zwischen das Florian vergebens mit seiner ausgesuchtesten Grobheit hineinwetterte, so daß ihm schließlich nichts weiter übrig blieb, als die Julia zum Gartenthor und die Dorette zur Hausthür mit kräftigen Schüben hinauszubefördern. Die Scene hatte offenbar Zeugen gehabt, denn am selben Abend noch sprach man in ganz Weimar davon, und Fräulein Robertson hatte sich im nächsten Laden einen Revolver gekauft und öffentlich gedroht, das Fräulein Schönflies, den Herrn Mayr und jeden, der sich ihr sonst noch etwa in den Weg zu stellen erdreisten würde, einfach über den Haufen zu schießen.

Daß Florian Mayr als neuester Günstling bei den übrigen Lisztianern nicht sonderlich beliebt war, versteht sich wohl eigentlich von selbst. Diejenigen, die selbst nichts Sonderliches leisteten, außer an Selbstüberschätzung, neideten ihm seine bevorzugte Stellung am meisten, aber da er selbst sich keineswegs anmaßend betrug und sich den Kollegen gegenüber bei aller Zurückhaltung doch im ganzen liebenswürdig gab, so hatte ihm die Verleumdung seiner Neider bis jetzt noch nicht recht beizukommen vermocht. Der Vorfall mit den beiden aufdringlichen Frauenzimmern kam nun natürlich der ganzen Meute bösartiger kleiner Kläffer ungemein erwünscht. Alle die Verkannten geringeren Kalibers, die sich über vermeintlich ungerechte Zurücksetzung zu beklagen hatten, bäumten sich nun gemeinsam auf und verschworen sich wider den übermütigen Günstling, dem sie es ihrer Meinung nach zu danken hatten, daß sie nur mit dem Schwarm zum Meister vordringen und nicht auch seine Einzelnunterweisung genießen durften. Die Fräulein Robertson und Schönflies, die sich sonst keineswegs besonderer Beliebtheit erfreuten, hatten urplötzlich über einen ganzen Haufen ergebener Freunde und dienstwilliger Verteidiger ihrer Unschuld zu gebieten. Die Feindschaft der beiden gekränkten Damen konnte dabei ruhig weiter bestehen, denn es gab weder eine Partei Robertson, noch eine Partei Schönflies, sondern nur eine große Anti-Mayr-Partei. Die Verschwörer beschlossen zunächst, die Mißstimmung gegen Florian Mayr unter allen Lisztianern, sowie in weitesten Kreisen der Gesellschaft nach Kräften zu schüren und eifrig nach dunklen Punkten in seinem gegenwärtigen oder früheren Privatleben zu spüren, um ihn bei günstiger Gelegenheit wirksam beim Meister verklagen zu können. –

Uebrigens sollte an demselben Tage, an welchem Florian zwei so überaus würdige Opfer für seinen Grimm gefunden hatte, das Glück ihm noch einmal lächeln. Als er gegen Abend in Begleitung seines greulichen Knüttels abermals am Atelier des Herrn von Oettern anklopfte, ward endlich »herein« gerufen. Sein Herz schlug höher – ha, die Stunde der Rache hatte geschlagen! Mit kräftigem Tritt überschritt er die Schwelle und sah sich dem berühmten Don Juan d'Oettern gegenüber.

Ein verdammt hübscher Kerl war der freilich, das mußte ihm der Neid lassen. Diese schlanke, biegsame Gestalt, so bequem und doch höchst elegant gekleidet, dieser schmale Kopf mit dem goldblonden und seidig glänzenden Haupthaar und Schnurrbart, dies fein geschnittene und doch durchaus nicht weichliche Gesicht mit den munteren Augen darin und dem geistvollen Ausdruck, die vornehmen, wohlgepflegten Hände – ja, es war eigentlich kein Wunder, daß sich die freien Künstlerinnen der Musenstadt so massenhaft in den verliebten. Diese vernünftige Erwägung hätte dennoch den zielbewußten Florian nicht abgehalten, nach einer kurzen, aber gemeinverständlichen Einleitung mit seinem Zaunpfahl über Jean d'Oettern herzufallen, wenn nicht leider noch ein zweiter Herr zugegen gewesen wäre. Dieser andre trat sofort mit ausgestreckter Hand auf Florian Mayr zu und rief, bevor er sich noch mit Herrn von Oettern begrüßt hatte, lebhaft aus: »Ah, was seh' ich? Mein lieber Herr Mayr! Also sind Sie doch auch glücklich in Weimar gelandet!« Und Liszts Ton getreulich nachahmend, fügte er hinzu: »Pcha – bravo!« Florian kam durch die unvermutete Störung seines Programms ein wenig aus der Fassung. Mit dem Zylinder in der Rechten und dem Knotenstab in der Linken guckte er dem großen Herrn mit dem rotblonden Schnurr- und Kinnbart fragend ins Gesicht, und jener mußte ihn erst daran erinnern, daß sie nach der Vorführung des »Satan« von Peter Gais eine sehr fidele Nacht miteinander durchgekneipt hatten, ehe er sich bewußt ward, daß er dem Baron von Ried gegenüberstehe.

»Na, ich sehe, ihr seid auch schon gute Freunde geworden?« wandte sich der Baron nach vollzogener Begrüßung an Herrn von Oettern, indem er dabei auf den immer noch verlegen dastehenden Florian wies.

»Freunde? Pardon, ich muß sehr bedauern!« versetzte Herr von Oettern – ein wenig spöttisch lächelnd, wie es Florian scheinen wollte. »Ich kenne Herrn Mayr von Ansehen und par renommée natürlich – wa-was willst du: Koryphäe des neuen Jahrgangs, enfant gâté – natürlich! Aber ich habe noch nicht die Ehre seines Besuches gehabt. Bitte, Herr Mayr, wo-wollen Sie nicht ablegen?« Damit nahm er ihm Hut und Stock aus der Hand, um sie nach dem Kleiderständer in der Nähe des eisernen Ofens zu tragen. Der knorrige Stock fiel ihm auf, er besah ihn, hielt ihn gegen das Licht empor, ließ ihn probeweise durch die Luft sausen und sagte dann, beiden Besuchern zugewendet: »Sehr be-bemerkenswerter Stock – deutsche Rebe, was? Ah, parbleu, c'est une dróle de canne! 1830–50! Sie wollen die Fasson wieder lancieren – wa-warum nicht? Also bravo!«

Auf diese einfache Art sah sich Florian entwaffnet. Er konnte doch unmöglich dem Herrn den Stock nun wieder aus der Hand nehmen und sagen: »Nein, Sie entschuldigen, mein Bester, nicht um die Form von 1830 zu lancieren, sondern um Sie damit durchzuprügeln, habe ich diesen Stecken mitgebracht.« Ja, aber was wollte er denn eigentlich hier, wenn er auf das Prügeln verzichtete? Er war immer noch nicht so weit in der Bildung fortgeschritten, daß er sich zu der Dreistigkeit aufgeschwungen hätte, ohne irgend welche Einführung Berühmtheiten aufzusuchen. Herr von Oettern schien allerdings an Besuche solcher Art gewöhnt zu sein, denn er fragte gar nicht weiter nach Florians Begehr.

Es war wirklich ein glücklicher Zufall, der den Baron von Ried hierher führte. Durch ihn kam alsbald eine Unterhaltung in Gang, die Florian über alle Verlegenheit hinweghalf. Man sprach über das Berliner Musikleben und gelangte von da aus zu allgemeinen Betrachtungen über die Entwickelung der neudeutschen Richtung und über den Zusammenhang dieser Entwickelung mit der der übrigen Künste. Der Baron von Ried war derjenige, der die Grundlinien der Diskussion aufstellte und die theoretischen Behauptungen hinwarf, während Herr von Oettern allerlei frappante Bemerkungen dazwischenwarf und anekdotisches Beweismaterial beisteuerte. Er war überall gewesen, hatte schier alles gesehen und gehört, was in der Kunst Belangreiches sich ereignet hatte, kannte eine große Anzahl hervorragender moderner Geister persönlich und war namentlich über französische Kunst und Litteratur außerordentlich gut unterrichtet, da er vorzugsweise in Paris studiert hatte und dort ganz heimisch geworden war. Es machte Florian anfangs einige Schwierigkeiten, seiner merkwürdig zerhackten, manchmal beinahe stotternden und doch sehr raschen Sprechweise zu folgen. Oftmals ließ er einen Satz ganz unvollendet oder deutete den Schluß nur durch ein Wort oder durch eine, von einem erläuternden Ausruf begleitete Handbewegung an. Manchmal schien er auch gar nicht mehr zuzuhören, sondern trat vor das Bild, an dem er gerade malte, und setzte irgendwo ein paar kecke Striche hinein, oder er lief ans Klavier und spielte stehend ein paar Takte Wagner, Liszt oder Chopin mit seltsam verschobenem Rhythmus, aber immer das Bedeutsame zur richtigen Geltung bringend. Die ganze moderne Musiklitteratur bedeckte in hohen Stößen den Flügel und die kostbare gestickte Seidendecke, die darüber lag.

Der Mann und seine Umgebung paßten überhaupt wunderbar zusammen. Sein Atelier war ein kleines Museum von Kunst- und Litteraturschätzen aus der Zeit etwa von Ludwig XV. bis zum Kaiserreich. Ueber dem falschen Kamin, auf dessen Sims ein paar große chinesische Vasen mit trockenen Bambuswedeln standen, hing ein prachtvoller Gobelin, fast die ganze Wand bedeckend. An den übrigen Wänden eigene Bilder Hans von Oetterns oder auch ältere Werke meist französischer Schule, darunter einige Stücke berühmtester Meister. Die Möbel waren Louis XVI. oder Empire. Büchergestelle aus dunklem Mahagoni mit Bronzebeschlägen waren angefüllt mit erlesensten Werken der französischen Litteratur des achtzehnten Jahrhunderts, darunter eine Menge kostbare Illustrationswerke und Seltenheiten besonders auf dem Gebiet der galanten Litteratur, alle in alten Liebhabereinbänden. Auf einem drehbaren Tischchen stand eine Vitrine. die allerlei Kostbarkeiten, als: geschnittene Steine, Kameen, emaillierte Dosen, gemalte Fächer, Münzen und dergleichen enthielt, und eine Menge andrer Gegenstände der feinen Kleinkunst standen auf Tischen, Etageren und Konsolen umher oder waren auf Samtunterlagen in flachen Glaskästen zur Schau gestellt. Die Polstermöbel waren mit echten alten Seidenstoffen überzogen, ebenso wie die zahlreichen üppigen Kissen, während die übrigen Möbel, wie besonders der große Schreibtisch, alle in Mahagoni mit Bronzebeschlägen im besten Empirestile gehalten waren. Ueberall harmonisch gedämpfte Farben, nirgends eine parvenuhafte Effekthascherei – stille Freuden für feine Kenner sollten diese seltenen Dinge bereiten, nicht gleichgültigen Gaffern durch handgreifliche Kostbarkeit imponieren. Es atmete in diesem Raum der Geist eines umfassenden Wissens, durch künstlerische Leichtfertigkeit seiner staubigen Schwere entlastet, oder auch der Geist einer durch erlesenen Geschmack geadelten Frivolität.

Während der Unterhaltung wechselte Florian oft seinen Platz, um all die schönen Dinge betrachten zu können, und Herr von Oettern holte ihm bereitwilligst die Gegenstände, auf die er seinen Blick gerichtet sah, hervor und gab ihm nähere Erklärungen dazu. Man sagte Herrn von Oettern in Weimar nach, daß selbst die vornehmsten Damen ihm nicht zu widerstehen vermöchten, wenn sie nur einmal eine halbe Stunde in seinem Atelier zugebracht und mit ihm in seiner Bibliothek geblättert und gewisse Miniaturmalereien auf Porzellan und Elfenbein aufmerksam studiert hätten. Das war sicherlich plumpe Verleumdung, denn Jean d'Oettern haßte viel zu sehr den groben Skandal, die unbequemen dramatischen Konsequenzen, als daß er jemals einer Vertreterin jener Kreise zu nahe getreten wäre, in welchen Damen ohne Anhang nicht denkbar sind. Aber obwohl die Gefühle einer vornehmen Dame niemand fremder waren als dem ehrlichen Florian Mayr, verspürte auch er diese Unwiderstehlichkeit des jungen Malers am eigenen Leibe. Es war ihm ganz ähnlich beklommen zu Mute wie irgend einem einfachen Menschenkinde, das zum erstenmal an den Tisch eines regierenden Herrn geladen worden ist – nur mit dem Unterschiede, daß sich hier mit der Beklommenheit ein gut Teil rein geistiger Freude mischte über die guten Bissen, die an dieses Herren Tische gereicht wurden.

Seltsam, dem Baron von Ried gegenüber verspürte er gar nichts von solcher Beklommenheit: den konnte er sich ganz wohl als bequemen Reisekameraden auf einer Fußwanderung denken. Er hatte auch die besten aristokratischen Manieren und stand gewiß an Bildung, vielleicht auch an Geschmack, nicht hinter Herrn von Oettern zurück. Aber man fühlte schon nach kurzer Bekanntschaft sein hemdärmeliges Temperament durch – das soll heißen: er behagte sich in keiner gesellschaftlichen Verkleidung, wenn gleich er sie mit Anstand zu tragen wußte, und seine draufgängerische Lebenskraft spazierte am liebsten nackt im Sonnenschein. Es war kennzeichnend für ihn, daß er zwar alle Brutalitäten der Kraftgenies in Worten vermied, im Wesen jedoch von einer erfrischenden Vorurteilslosigkeit und Ungeniertheit war, die ihn so recht zu einem fruchtbaren Gegenwartsmenschen stempelte. Er war in keiner Parteischablone unterzubringen, er hatte keine Spur von Respekt vor altehrwürdiger Schulweisheit und auch nicht vor modischen Schlagworten. Er wußte viel und interessierte sich lebhaft für alles, was in dieser gärenden Zeit die Geister in Bewegung setzte. Seine Behauptungen kamen keck und scharf heraus, aber er hörte auch auf die Einwendungen der andern und ließ sich von guten Gründen gern überzeugen. Männer, die sich überzeugen lassen, sind so selten! Man nennt dieselben schwache Charaktere!! Darum thun sie es nicht gern!!!

»Wissen Sie, ich hasse eigentlich die Musik,« sagte der Baron im Laufe der Unterhaltung, »weil sie alles absorbiert, was die große Menge sonst für ernste Kunst vielleicht noch übrig hätte. Was sich heute zu den gebildeten Ständen zählt, das verbraucht so viel Nervenkraft und Gehirnschmalz in seiner fieberhaften Erwerbsthätigkeit, daß es sich beim Kunstgenuß, wenn es überhaupt ein Bedürfnis danach hat, nicht mehr geistig anstrengen mag. Daher kümmern sich so wenig Leute um unsre Litteratur. Wir alle, die wir in der Zeit stehen und nicht mehr mit alten Puppen spielen, wir alle mühen uns so ernsthaft ab, die großen Fragen anzupacken, den modernen Menschen, dieses mit Haut bekleidete Nervenbündel, zu gestalten – als abschreckendes Beispiel – um die Sitten zu verbessern, und ich weiß nicht, was alles. Wir sind fanatische Fastenprediger, Tuifelemaler und Lichtaufstecker – aber das liebe Publikum läuft nicht in unsre Kirche, mag von unsern Teufeleien nichts wissen und beschattet sich vor unsern Kerzen die Augen mit beiden Händen. Nur nicht sehen, nur nicht nachdenken müssen! Bei Worten muß man aber immer denken. Darum fort mit der Wortkunst! Nun liegen sie alle vor der Tonkunst auf den Bäuchen. Wie wonnig die das Denken einwiegt: Wagalaweia! Wie sie die schlummernden Gefühle aus der Brust des trägsten Verdauungssimpels hervorlockt: Hojotoho! Wie sie so milde und lieblich lallt – man kann sich zur Not dabei noch etwas denken, aber es geht auch so – Weiala walala weia! Seufzen und Juchzen, das sind die Grundelemente der Musik. Viel weiter reicht ihre absolute Deutlichkeit nicht – also eine Lyrik, die nur noch aus Ausrufzeichen und Gedankenstrichen besteht. Unsre neueste Tonkunst versteht sich freilich auch auf die Schilderung, aber es sind schließlich doch immer wieder dieselben einfachen Elementarereignisse, die sie gemeinfaßlich darzustellen weiß: Gewitter und Sturm, Waldes- und Meeresrauschen und sonst noch ein paar allgemeine Naturstimmungen. Aber im übrigen ist alles – Wagalaweia, Gefühlsurbrei. Wagalaweia sollten wir eigentlich über die Thore all unsrer Musikinstitute schreiben. Wagalaweia wäre auch die treffendste Verdeutschung für das Fremdwort Musik. – Nur das Wort vermag dem Urschleim der Töne das Knochengerüst zu verleihen, durch den er Gestalt gewinnt; aber wo die Knochen nicht sehr hart sind, wie beim Meister Wagner, da werden sie von den Tönen in tückischer Umschleimung zerweicht, zermürbt und ersäuft. Eine Qualle ist die Musik – sie läßt sich treiben von den Wellen und schimmert in herrlicher Farbenpracht, den Sinnen ein Wohlgefallen; aber im Grunde nur eine wabbliche Unbegreiflichkeit – ein gestaltloses Verdauungsorgan, das unersättlich alles Lebendige in seine schleimige Umarmung zieht und ihm seines Wesens genießbaren Kern aussaugt. Musik – Wasserpest – Wagalaweia!«

Herr von Oettern setzte sich auf den Klavierstuhl, schlug sich auf die Schenkel und schüttelte sich vor Vergnügen über den üppigen Schwall origineller Metaphern, die der Baron in heiligem Eifer entlud. »Wasserpest – bravo! Qualle – charmant! Wagalaweia – Urschleim – Donnerwetter! Lieber Freund, darf ich dir darauf einen Schnaps anbieten? Cognac trois étoiles oder Chartreuse – grün – stärkt den Magen.« Er holte ein silbernes Präsentierbrett mit hohem Rand herbei, in welches genau sechs niedrige, vierkantige Porzellanflaschen hineinpaßten, die auf umgehängten silbernen Schildchen die Namen der hervorragendsten Liqueure zeigten.

Der Baron war weiter nicht gekränkt über den Scherz, sondern bediente sich lachend. Auch Florian verschmähte einen Cognac nicht, aber er mochte es nicht dulden, daß die reizvolle Erörterung des Barons mit einem Spaß abgebrochen würde.

»Ich begreif' net recht,« nahm er das Gespräch wieder auf, »wie grad Sie, Herr Baron, so gegen die Musik losziehen können. Ich habe mir doch sagen lassen, daß Sie selber ein produktiver Musiker wären, und ganz gewiß sind S' doch ein großer Musikfreund, noch dazu einer, der was davon versteht!«

»Ja, gewiß bin ich das!« versetzte der Baron. »Die Musik gehört zu meinen Lebensbedürfnissen, so gut wie – na, sagen wir zum Beispiel die Liebe. Sehen Sie, Leute, wie wir drei hier, stehen eben ganz anders zur Musik als die große Masse, die in die Konzerte rennt und ihre Töchter Klavier lernen läßt. Uns gewährt sie die einzige Befriedigung unsrer großen Sehnsucht nach der absoluten Schönheit. Die andern Künste alle, die gezwungen sind, die Natur nachzuahmen und die unversöhnlichen Gegensätze, die Häßlichkeiten und Grausamkeiten der Wirklichkeit nachzubilden, können niemals zur reinen Schönheit gelangen. Sie können auch niemals die Empfindungswelt von ihren stofflichen Bedingungen so loslösen, daß nicht doch ein Erdenrest zu tragen peinlich bliebe. Wir armen Poeten und Gelehrten von heute, die wir uns so hart mit der Wirklichkeit herumzuschlagen haben, die wir an der Erkenntnisbürde von Jahrtausenden schleppen und dennoch uns rastlos bemühen, die Erkenntnis noch weiter zu fördern, wir schreien besonders laut nach Erlösung von der Wirklichkeit und empfinden es als eine unsagbare Erquickung, wenn wir einmal ganz losgelöst von der Erkenntnis im reinen Strom der Empfindungen uns baden dürfen. Das ist es, was die Musik uns gewährt – ich meine jene Musik, die mit dem späteren Beethoven überhaupt erst anfängt. Uns macht diese Musik stark, ebenso wie den echten Musiker, der heutzutage eigentlich schon ein überlebensgroßer Kerl sein muß, wenn er den Namen verdienen will. Aber nun schauen Sie sich einmal unsre Musikanten und unser Musikpublikum an: wo finden Sie da etwas von dem befreienden, alle Kräfte steigernden Einfluß, den die Musik auf uns denkende Menschen ausübt? Liszt und Wagner haben die prächtige Species des universell gebildeten deutschen Kapellmeisters gezüchtet – sehen Sie einen Mann, wie Bülow zum Beispiel, das ist ein unerhört neues und eigenartiges Erzeugnis, auf das sich unsre Kultur vom Ende des neunzehnten Jahrhunderts was einbilden kann; aber das gewöhnliche Musikantenvolk – brr! Ich glaube, daß in keiner andern Kunst die Durchschnittstalente auch nur annähernd so viel dumme Einbildung, allgemeine Trottelhaftigkeit, bornierten Zunftgeist und garstige menschliche Eigenschaften, wie Mißgunst und Neid aufzuweisen haben, als gerade in der Musik. Der unbedeutende kleine Maler oder Bildhauer ist fast immer noch ein netter, gespaßiger Kamerad; der verkannte Schriftsteller ist freilich ein ganz entsetzliches Gewächs, niederträchtig, bissig und mehr als andre zum Verlumpen geneigt, aber er hat doch wenigstens vielseitige Interessen – man kann mit einem solchen Ekel doch reden, manchmal vielleicht sogar etwas von ihm profitieren; dagegen pflegt der Umgang mit einem untergeordneten Musiker für einen gebildeten Menschen unmöglich zu sein.«

»Da haben S' recht, Kreuzteufel noch amal!« rief Florian und ballte grimmig die Faust dazu.

Aber der Baron wollte sich nicht unterbrechen lassen. Er war einmal so gut im Zuge. Seine Wangen glühten, und seine Augen leuchteten hinter der goldenen Brille. »Und was glauben Sie wohl,« fuhr er eifrig fort, »was unsre oberen Zehntausend in die Konzertsäle treibt? Was läßt sie alte und neue, große und kleine Kunst, nichtiges Virtuosengetändel wie die Offenbarungen großer Meister mit der gleichen Behaglichkeit in sich aufnehmen? Die Bequemlichkeit des Genusses, behaupte ich – man braucht nicht dabei zu denken – das ist's, was ihnen die Musik so angenehm macht. Sie wird einfach als ein Nervenstimulanz empfunden, wie Thee, Kaffee und Tabak. Und dann läßt sich so leicht darüber klug schwätzen. Gedanken über Musik sind kaum zu kontrollieren, darum kann auch der gedankenlose Geist heucheln, wenn er über Musik spricht. Und dann ferner: die Person des ausübenden Künstlers tritt dabei so sehr in den Vordergrund. Das ist's, was besonders die Weiber so wild auf die Musik macht – die vergessen fast immer das Werk über dem betreffenden Solisten oder Kapellmeister, der's vorführt. Und da der Kunst gegenüber, bei uns in Deutschland zumal, die Männer noch weibischer als die Weiber zu empfinden pflegen, so steht der Eitelkeitsmarkt in der Musik in höchster Blüte. Und noch eins, bitte: das zur Schau getragene Interesse für Musik kann niemals kompromittieren. Man darf sogar für Wagner schwärmen und dabei einen Vetter bei der Garde und einen Onkel im Ministerium haben! Man kann doch nicht leugnen, daß die ungeheuren sozialen Gegensätze unsrer Zeit bei allen denen, die sich gegenwärtig noch im Besitze befinden, eine Angst vor dem Freiwerden neuer Kräfte erzeugt haben, die dazu geführt hat, daß alle diese Besitzenden stillschweigend einen Ring gebildet haben zur Abwehr des freien Denkens – man weiß ganz gut, daß, wer damit einmal anfängt, leicht zu unliebsamen Folgerungen kommt. Eine lebendige moderne Litteratur kann aber an solchen Folgerungen gar nicht vorbei, die ehrliche Wissenschaft ebensowenig, und sogar die bildenden Künste lassen sich leicht anstecken vom revolutionären Geist. Mit solcher Kunst und solcher Wissenschaft wollen aber natürlich fromme Unterthanen und vorsichtige Streber nichts zu thun haben, darum suchen sie ihre geistige Erholung in der Musik, die beim besten Willen nicht politisch werden kann. Unsre ganze nervenschwache, entmannte, denkfaule, ängstliche Gesellschaft befriedigt ihr bißchen Kunstbedürfnis in der Musik. Und dazu kommen noch die Starken, denen sie wirklich Freude und Bedürfnis ist – ein groß' Publikum, wahrhaftig! Die Starken genießen sie mit Auswahl und gewinnen durch sie einen Zuwachs an Kraft, die Schwächlichen jedoch, die Massen der Konzertläufer schlingen sie unterschiedslos hinunter, wie die Abonnenten eines Journalzirkels ihr Lesefutter, und denen, behaupte ich, verwässert sie das bißchen Blut und verschleimt sie das bißchen Gehirn, das sie sich etwa bewahrt haben, auch noch. Dieser Musikgenuß ist einfach eine Kulturkrankheit, wie die Bleichsucht unserer jungen Damen und die Neurasthenie unsrer geistig arbeitenden Männer. Ich schlage vor, daß wir die Krankheit Wagalaweia benamsen.«

Florian sprang auf und schüttelte dem Baron die Hand: »Sie haben mir aus der Seele gesprochen!« rief er begeistert. »Schauen S', erst hab' ich Arzt werden wollen – und jetzt will ich auch so von der Krankheit meiner Mitmenschen leben. Es muß mir wohl im Blut stecken. – Sie, Herr Baron, warum lassen S' des net drucken?«

»Hab' ich ja gethan, hilft ja doch nichts: Symptome kann man nicht kurieren. Entschuldigt nur, Kinder, daß ich euch einen solchen Leitartikel dahergeredet habe – ich meinte nur, es sei immer nützlich, sich unter Gleichgesinnten klar zu werden. Aber jetzt reden wir von was anderm! – Sie, Herr Mayr, wissen Sie denn, daß die ganze Berliner Gesellschaft, die wir damals beim Raphael Silberstein beisammen trafen, zur ›heiligen Elisabeth ‹ hierherkommt? Der Gais mit Anhang, Tomatschek mit Tochter und – na, und noch so ein paar schöne Leute!«

»Haben Sie Fräulein Tomatschek noch immer nicht – gebessert?« fragte Florian lachend.

»Ach nein, leider nicht!« versetzte der Baron, »ich werde sie meinem Freunde Oettern anvertrauen müssen. Uebrigens, da fällt mir ein: was macht denn das prachtvolle Frauenzimmer, die Ilonka Badacs? Wissen Sie noch, wie wir gelacht haben an dem Abend?«

Der Baron sagte das ganz harmlos und merkte nicht, wie sein Freund Oettern ihm bedeutungsvoll mit den Augen abwinkte. Florian aber bekam plötzlich einen ganz heißen Kopf und ganz kalte Hände. »Hm,« machte er verlegen, »da werden Sie sich auch an Ihren Freund wenden müssen, Herr Baron!«

Herr von Ried pfiff durch die Zähne: »Aha – une de plus!« Und er drohte Jean d'Oettern neckisch mit dem Finger.

Der steckte sich ruhig eine frische Cigarette an, dann griff er mit der Rechten ein paar Akkorde, während er, den Kopf über die Schulter zurückwendend, mit liebenswürdigstem Lächeln zu Florian sagte: »Verleumdung – ganz gemeine Verleumdung: Sie kennen ja Fräulein Badacs – nun, wir sind alte Freunde – Sie sind junge Freunde – das ist der ganze Unterschied! Also – nnatürlich . . . Diskretion selbstredend! Aber sie ist charmant – was kann da sein – nnatürlich! Und sie schwärmt so von Ihnen: das große Herz &c. – ich begreife vollkommen!«

Die abgerissenen Sätzchen und Worte schlugen Florian ans Ohr, ohne daß er im stande gewesen wäre, ihren Zusammenhang zu erfassen. Er war sich nur bewußt, daß er einen roten Kopf hatte und daß er wahrscheinlich eine recht unglückliche Figur spielen würde, wenn er jetzt noch anfangen wollte, grob zu werden. Darum schützte er vor, keine Zeit mehr zu haben, und nahm einen etwas überstürzten Abschied.

Herr von Oettern überreichte ihm seinen Cylinder, sowie seine »deutsche Rebe« und forderte ihn in vollendeter Höflichkeit auf, seinen Besuch doch ja recht bald zu wiederholen. Mit dem Baron verabredete Florian noch eine Zusammenkunft im Genelli-Zimmer des »Gasthofs zum Adler«, wo sich verschiedene Künstler und Litteraten allabendlich zu treffen pflegten, und dann verfügte er sich mit einigen ungeschickten Bücklingen aus dem Atelier hinaus, das er als grimmer Rächer seiner Ehre betreten hatte.

Er hatte eine anregende Stunde verlebt, eine ihm werte Bekanntschaft erneuert und eine andre nicht minder wertvolle gemacht. – Und trotzdem war er unzufrieden mit sich selbst und ganz in der Stimmung, zur Entschädigung für das eine Opfer, das ihm entgangen war, deren mehrere vor seinen Knüttel zu fordern.

Als er vor seiner Hausthür angekommen war, überlegte er sogar einen Moment, ob er nicht aus irgend einem Grunde den Mister Crookes durchprügeln könnte. Der Mann hatte ihn nicht wenig dadurch geärgert, daß er sich geweigert hatte, für die Mikulskas etwas zu thun, und zwar mit der Begründung, daß ihm jenes so jäh unterbrochene Bankett schon teuer genug zu stehen gekommen wäre. Sie hatten ihm nicht einmal den übrigen Champagner überlassen – außerdem seien seine Boys seit jenem Abend rebellisch geworden. Eine solche Gesinnung schien Florian zweifelsohne einer guten Tracht Prügel wert; aber sie wäre doch allzu sehr post festum gekommen, nachdem die arme Helena nun schon acht Tage begraben war. Außerdem hatten sich Dick und Bob neuesterdings so innig an ihn angeschlossen, daß er ihnen doch nicht gut den leiblichen Vater verprügeln konnte.

Plötzlich schlug er sich vor den Kopf und titulierte sich ganz laut einen Esel. Auf die ausschweifendsten Ideen verfiel er in seinem blinden Zorn, statt einfach zur Züchtigung der Hauptsünderin, Ilonka Badacs, zu schreiten.

Das Fräulein war nicht zu Hause. Da jedoch die Wirtin den Herrn Mayr so wohl kannte, nahm sie keinen Anstand, ihn im Zimmer des Fräuleins warten zu lassen. Aber schon nach fünf Minuten hielt er es vor Ungeduld nimmer aus. Außerdem überkam ihn ein leises Bangen, daß es der bösen Ilonka vielleicht ebenso leicht wie ihrem vornehmen Freunde gelingen möchte, seinen Zorn durch Liebenswürdigkeit zu entwaffnen. Sie konnte halt doch sehr nett sein; und wenn sie gar zu weinen anfing – o je, dann war's schad um seinen schönen Zorn! Er suchte sich also unter dem unordentlich herumliegenden Kram von mannigfachen Gebrauchsgegenständen einen Bogen Papier nebst Umschlag heraus und that darauf seine Meinung schriftlich kund. Seine Feder flog nur so; denn seine Meinung hatte er ja beisammen, und es war keineswegs seine Absicht, sie zu verblümen. Er sagte also der Schönen, wofür er sie halte, und daß er keineswegs gesonnen sei, mit ihr die Studien fortzusetzen oder überhaupt auf einem andern Fuße als auf dem kühlster Höflichkeit zu verkehren. Er drückte das in einem Stil aus, der entschieden weder druckreif, noch parlamentarisch war, und den man am besten mit dem »Knüttelprosa« bezeichnen könnte. Ohne es noch einmal durchzulesen, steckte er das Schreiben in den Umschlag, setzte die Adresse darauf und ging alsdann zufrieden seiner Wege.

Er verbrachte einen sehr angeregten Abend in dem berühmten Genelli-Zimmer des alten »Gasthofs zum Adler«, wo er außer dem Baron von Ried einen kleinen Kreis mehr oder minder interessanter Männer traf, unter denen der berühmte alte Schauspieler Otto Lehfeld jedenfalls der merkwürdigste war. Der alte Herr gab Theateranekdoten zum besten; saftig zwar, aber von schlagender Komik, und trug sie so ausgezeichnet vor, daß die Gesellschaft stundenlang nicht aus dem Lachen herauskam. Florian schlief in dieser Nacht ganz ausgezeichnet und erwachte am andern Morgen von seinem eigenen Gelächter, denn es war ihm eine von den kostbaren Geschichten in dem Halbschlaf, der dem Erwachen vorauszugehen pflegt, wieder eingefallen.

In fröhlichster Stimmung trat er zur gewohnten Stunde beim Meister an. Aber Liszt begrüßte ihn nicht so freundlich wie sonst. Er war einsilbig und seine edle Stirn umwölkt. Er hatte eine geschriebene Partitur vor sich liegen, aber er schaute nicht hinein, sondern nachdenklich darüber hinweg. Und dann klappte er auf einmal das Heft zu, schob es beiseite und nahm einen Brief vom Schreibtisch, den er Florian offen überreichte. »Da – pcha! was ist das, mein Sohn?« fragte er vorwurfsvoll.

Mit Staunen erkannte Florian sein eigenes Schreiben, das er gestern abend erst an seine ungetreue Liebste gerichtet hatte. Er legte es langsam wieder auf den Tisch und stammelte verwirrt: »Ich wollte nur . . . ich war so wütend . . . ich kann einmal diese moralische Schlamperei nicht vertragen!«

»Ach was!« sagte Liszt stirnrunzelnd, »schreibt man so einer Dame? Pfui!« Und er zerriß den Brief in kleine Stückchen und warf sie ärgerlich in den Papierkorb.

»Ach, Meister, Sie wissen ja nicht,« begann Florian – aber er brachte den Satz nicht zu Ende. Der herbe Schmerz, den ihm sein eigener Sündenfall und die Vernichtung aller seiner jugendlichen Illusionen bereitet hatten, ward plötzlich wieder in seiner Seele heiß lebendig. Seine Augen füllten sich mit Thränen. Er ließ sich auf den nächsten Sessel fallen, wandte beschämt sein Antlitz von dem verehrten Meister ab und zernagte sich die Lippen, um nicht laut herausheulen zu müssen.

Da trat Liszt zu ihm, strich ihm sanft über den Kopf und sagte: »Holla, – du courage, mon enfant! Komm, erzähle mir alles, mein Guter!«

Florian wandte sich rasch um und küßte dem Greise die gütige Hand. Und dann beichtete er. Wie er so sittenrein und sittenstreng dahergekommen sei und wie das lockere Treiben des Schwarms ihn mit heiliger Entrüstung erfüllt habe. Und dann gestand er errötend ein, wie er in seiner Thorheit alles für bare Münze genommen, was ihm die lustige Gesellschaft aufgeschwatzt habe, wie er sich in seine pikante Schülerin immer ernstlicher verliebte, bis er in süßem Rausche schuldig und wissend ward wie die andern; wie ihm sein Gewissen zusetzte und wie er ehrlich zu sühnen beschloß und obendrein noch sein Glück damit zu machen hoffte – und dann endlich die große Enttäuschung! Er sei eben ein hartgewöhnter Gesell und wisse sich gegen die Beleidigung seiner Ideale nicht anders zu helfen, als indem er handgreiflich oder mindestens saugrob würde.

Nachdem Florian seine Beichte geendigt, schaute Liszt eine ganze Weile sinnend zum Fenster hinaus. Dann wandte er sich lächelnd wieder um, legte Florian eine Hand auf die Schulter und sprach: »Ich glaube, du bist der erste Schüler von dieser Sorte, den ich je gehabt habe. Reiner Thor – Parsifal – bravo! Aber, mein Sohn, wenn man so denkt und fühlt, thut das Leben zu weh – und das ist nicht nötig. Außerdem thust du den andern Leuten unrecht, wenn du sie so in Grund und Boden verdammst, bloß weil sie die Liebe auf ihre Art verstehen. Glaube mir, das ist nur der Standpunkt engherziger Pfaffen und verbissener alter Jungfern, wenn man die Sittlichkeit der Menschen einzig nach ihrem Verhalten in geschlechtlicher Beziehung beurteilt. Ich habe ein langes Leben hinter mir und Frauengunst hab' ich genossen wie wohl nur wenige Männer – ich schaue heute auf die Abenteuer meiner Jugend mit ruhigem, dankbarem Gemüte zurück. Ja, mein Gott, das hat freilich manchen schlimmen Sturm gegeben, da wurden wilde Leidenschaften entfesselt und ich dazwischen hin und her geworfen wie ein steuerloses Schiff auf dem Ocean. Es war manchmal grotesk – haha! – manchmal auch tragisch; aber ich bewahre doch für alle Frauen, die mir ihre Liebe geschenkt haben, eine tiefe Dankbarkeit. Ein Künstler kann nicht existieren ohne die Ekstase: der Rausch der Sinne befruchtet die Phantasie, und es ist ganz gewiß, daß ein Mensch ohne Sinnlichkeit kein Künstler sein kann. Man soll auch nicht sagen, daß etwa nur das Genie ein Recht hätte, seinen Trieben nachzugeben, wie es ihm beliebt. Es kann einer nur geringe Werke zu stande bringen und doch ein echt künstlerisches Temperament besitzen. Weder die Religion noch die Moral der Gesellschaft hat ein Recht, Vorschriften darüber zu erlassen, wie sich Männlein und Weiblein zu einander verhalten sollen. Darüber bestimmt die Natur souverän, und das Recht des sogenannten Anstands geht nur so weit, darüber zu wachen, daß die Mysterien der Liebe nicht schamlos profaniert werden. Ein alter Mann, der viel erfahren und begriffen hat, sagt dir, daß das Verhalten der Menschen in Liebessachen für ihren wahren sittlichen Wert von gar keiner Bedeutung ist. Ich habe so viele hervorragende Menschen gekannt, zuverlässige Charaktere von vornehmer Gesinnung, edel, hilfreich, gut; alles, was du willst – und dabei in puncto puncti – pcha – lockere Vögel! Und ich habe auch hartherzige, niedrigdenkende, gemeine Menschen gekannt, die in jener Beziehung einen makellosen Wandel führten. Temperamentlosigkeit ist wohl immer mit Unliebenswürdigkeit verbunden – besonders bei den Frauen. – Ach ja, die armen Frauen! Sie werden so viel gequält: die Männer wollen nur immer das Eine von ihnen; aber wenn es einer Frau einfällt, mit ihrer Gunst zu schalten, wie's ihr beliebt, und wie ein freier Mann ihrem Temperament zu folgen, so wird sie gesteinigt von Männern und Frauen. Daher kommt es, daß die Frauen mit allzu heißem Blut leicht so tief sinken und schlecht werden: die Ungerechtigkeit der Welt jagt sie in die Gemeinheit hinein. – Sieh, mein Sohn, wie kannst du von dieser armen Ilonka verlangen, daß sie dich ganz allein lieben und dir ganz allein gehören soll? Sie ist doch ein freier Mensch wie du, und eine temperamentvolle Künstlerin. Hat sie nicht die gleichen Rechte wie du? Du behandelst sie wie eine Verbrecherin, für die kein Ausdruck der Verachtung scharf genug ist, und dabei weißt du doch besser als andre, wie gut sie ist. Gerade die ist harmlos und ehrlich wie ein Kind und hat von allen meinen Schülerinnen das weichste Herz und die treueste, nobelste Gesinnung. Du hast ihr sehr wehe gethan. Gehe hin und bitte sie um Verzeihung! Sie war gestern abend spät noch bei mir und hat so geweint über deinen dummen Brief. Mach' es gut, mein Sohn! Wir Künstler dürfen keine Pfaffen sein; aber Christen dürfen wir sein – und Verachtung menschlicher Schwäche ist unchristlich.«

Hochaufgerichtet stand der Greis da, von der Morgensonne hell bestrahlt leuchtete das schneeweiße Haar wie ein Glorienschein um sein Haupt, und seine milden Augen blickten voll väterlicher Güte auf den jungen Mann hinab, der in seinem Stuhl ganz zusammengesunken vor ihm saß.

Ueberwältigt beugte sich Florian über des weisen Meisters Hand und dann ging er wortlos hinaus, um auf einsamen Wegen mit sich zu Rate zu gehen.


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