Ernst v. Wolzogen
Der Kraft-Mayr
Ernst v. Wolzogen

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Siebentes Kapitel.

Ein Hinauswurf.

Florian Mayr begann sich allmählich doch recht einsam und verlassen zu fühlen, besonders in den Weihnachtsfeiertagen. Da seine Einnahme jetzt so gering war, hatte er sich die Reise nach Bayreuth versagt und das Fest einsam auf seinem Zimmer verlebt. Frau Stoltenhagen glaubte sein auffälliges Einsiedlertum nach jenem Tage des grauen Elends als ein Zeichen eingetretener Reue und Bußfertigkeit ansehen zu dürfen und hoffte, daß er nach den üblen Erfahrungen, die er augenscheinlich jüngst mit Damen aus höheren Regionen gemacht, nun doch vielleicht in der Vereinsamung seines Herzens dahin gebracht werden könnte, ihre versorgungsbedürftige Nichte aus Pommern mit freundlicheren Augen anzuschauen. Allerdings hatte er sich in letzter Zeit öfter als früher in längere Gespräche mit seiner Wirtin und dem Fräulein Nichte eingelassen, nur um doch reden zu können und den Klang einer antwortenden Menschenstimme zu vernehmen; aber dadurch hatte sich sein Verhältnis zu diesen Damen durchaus nicht etwa erwärmt – im Gegenteil – die Späße und Anzüglichkeiten, die er sich gegen sie erlaubte, und die früher doch immer noch von einem freundlichen Lächeln begleitet waren, kamen jetzt häufig gar grob und boshaft heraus.

Er verkehrte eigentlich nur mit einigen wenigen Kollegen, obwohl ihm gerade dieser Verkehr, bei dem immer nur vom Fach geredet und Leistung und Charakter der Mitstrebenden böswillig verlästert wurde, der am wenigsten angenehme war. Er dachte auch nicht daran, die neuen Bekanntschaften, welche er gelegentlich des Gaisabends gemacht hatte, etwa aufzusuchen. So unbefangen und unbedingt natürlich er sich auch im Verkehr Menschen jeder Art gegenüber zu geben pflegte, so vermochte er doch eine angeborene Scheu nicht zu überwinden, welche ihn stets verhindert hatte, neuen Bekanntschaften gegenüber einen ersten Schritt zu thun. Das war ihm schon oft genug als Hochmut ausgelegt worden, aber er konnte sich nicht befreien von der Befürchtung, aufdringlich zu erscheinen. Der Baron von Ried zum Beispiel war ganz ein Mann nach seinem Geschmack, mit dem er sehr gerne in näheren Verkehr getreten wäre, aber nie hätte er es fertig gebracht, ihn aufzusuchen oder etwa ihn einfach durch eine Postkarte zu einer Zusammenkunft im Wirtshaus aufzufordern. Auch die Ilonka Badacs hätte er gern wiedergesehen. Es war eigentlich furchtbar dumm, sich ihr gegenüber zu genieren, um so mehr, da sie den direkten Wunsch ausgesprochen hatte, ihn auch als Künstler näher kennen zu lernen. Sie hatte ihm ja auch ihren Besuch in Aussicht gestellt: wäre ihr so viel an ihm gelegen gewesen, dann hätte sie doch ihr Versprechen erfüllen können; aber natürlich, sie dachte ja gar nicht mehr an ihn – das war auch nur wieder so eine liebenswürdige Redensart gewesen, wie sie leichtlebigen Menschen so glatt vom Munde fließen.

Wie erstaunte Florian Mayr, als wenige Tage vor Neujahr an einem sonnigen Vormittage die fesche Ungarin, reizend angezogen, keck und lustig zu ihm hereinspaziert kam und gleich so unbefangen mit ihm zu plaudern begann, als wären sie die ältesten Freunde und hätten gestern erst diesen Besuch verabredet. Er war ihr außerordentlich dankbar für ihre Freundlichkeit. Das Herz ging ihm auf bei ihrem drolligen Geplauder, und da fand auch er seinen Humor wieder und erzählte ihr mit ironischer Selbstverspottung, was Uebles alles ihm widerfahren war, seit jenem lustigen Abend ihrer ersten Bekanntschaft. Und dann spielte er ihr auf ihren Wunsch eine Reihe der Virtuosenstücke vor, die sie selbst auf ihrem Konzertrepertoire hatte.

Als er fertig war, kriegte sie ihn bei beiden Armen zu packen, schüttelte ihn tüchtig und rief lachend: »Ober wos wollen Sie, Sie sind ja ein Maistär! Schamen Sie Ihnen nicht, Sie dummär Mensch? Was brauchen Sie Klavierstunden suchen und Schulmaistär für höhere Techter spielen, wo Sie doch kennten sähr berihmter Kinstler sein! Bin ich doch schon bißl berihmt und spiel' ich doch wie ein Schwainderl gegen Ihnen – ja ja, Sie hoben ganz richtig gesogt. O du main libär Härgott, wos gibt doch für furbar dumme Menschen!« Damit erhob sie sich auf die Zehenspitzen und versetzte ihm einen flüchtigen Kuß auf die linke und eine leichte Ohrfeige auf die rechte Backe.

»Dank recht schön für beides,« sagte Florian vergnügt, denn ihre Anerkennung that ihm wirklich wohl. »Ach wissen S', liebes Fräulein, zum Berühmtwerden hab' ich nun amal kein Talent. Konzerte geben kost't Geld, und ich hab' keins – ich hab' net amal Freunde genug, um drei Stuhlreihen mit Freibilletten zu füllen! Wer soll denn aber sonst neinlaufen in so ein Konzert von einem gewissen Mayr? Ui je! heutzutag', wo schon bald a jeder Trottl klavierspielen kann! Ich bin ja net amal ein Lieblingsschüler Liszts! Also, was wollen S' nachher? Ich kann mich amal durchaus net vordrängen.«

» Eh bien! Mein lieber Fraind,« versetzte die Ungarin, indem sie seine Hand durch ihren Arm hindurchzog und freundschaftlich darauf patschte, »dann werde ich Sie vordrängen, Sie müssen nur artig stillhalten, Sie dummär Mensch. – Tiens mon ami, j'ai une idée – voyons: morgen abend ist grande soirée bei der Gräfin Tockenburg – Sie kennen doch die Gräfin Fifi Tockenburg?«

»Nein, ich hab' nicht die Ehre, aber gehört hab' ich schon von ihr; das ist doch die begeisterte Wagnerianerin, net wahr?«

»Gewiß. Oh, libär Fraind, Sie müssen Gräfin Fifi kennen lernen! Wird Ihnen sähr gäfallen dort. Die ganze musikalische Welt von Bärlin kommt dahin, der Hof, die vornähmsten Aristokraten, olle bärihmten Künstlär – wird sähr gute Musik gemacht – nur modern. Oh ich versichere, ise das ainzige vornähme Haus in gonz Bärlin, wo man sich amüsiert. Vous connaissez donc le palais Tokenbourg untär den Linden? Also morgen abend um neun Uhr, et en grande tenue, habit noir, cela va sans dire.«

»Aber ich bitt' Sie, ich bin ja gar nicht eingeladen! Wie soll ich denn dos nur anstellen, daß ich da hingelange? Ich mein', da kann doch nicht jeder dahergelaufen kommen, bloß weil er lange Haare tragt und auch a bißl Klavier spielt.«

»Oh, sein Sie ruhig, liebär Fraind, moch' ich olles! Schreib' ich Komtesse Fifi haite noch klaines billet doux. Schreib' ich nur, daß Sie sind großer Kinstler, Lisztspieler par excellence – bekomm ich ganz bestimmt Einladung für Sie. Also is abgemacht, nicht wohr? Sie holen mich ab um halb Neun bei mir, Hotel de St. Petersbourg. Wos wollen Sie spielen? Ich werde der Komtesse schreiben.«

»Na, sagen wir: die Legende vom heiligen Franziskus.«

»Ise recht. Also liebär Herr Mayr, läben Sie wohl – et à demain.«

Er geleitete das liebenswürdige Fräulein unter lebhaften Dankesbezeigungen bis zur Treppe. Frau Stoltenhagen faßte ihn noch im Gang ab und konnte sich nicht enthalten, zu fragen, wer die schöne Dame mit dem kostbaren Pelzwerk gewesen sei. Und Florian gab seiner ausgezeichneten Laune dadurch Ausdruck, daß er ihr vorlog, diese Dame sei eine rumänische Prinzessin gewesen, welche ihn aufgefordert habe, mit ihr eine Reise um die Welt zu machen, ganz allein, nur in Begleitung eines Konzertflügels zum Vierhändigspielen unterwegs, eines Leibmamelucken zu ihrer und eines Mohrenknaben zu seiner persönlichen Bedienung.

Am nächsten Abend pünktlich um halb neun Uhr stellte sich Florian Mayr im Hotel St. Petersburg ein. Fräulein Badacs war noch bei der Toilette, aber sie ließ ihn ungeniert eintreten und zuschauen, wie unter den geschickten Händen einer Friseuse das Haarkunstwerk auf ihrem Haupte vollendet wurde. Dann warf sie den Frisiermantel ab und zog ihre außerordentlich tief ausgeschnittene Taille an. Der gute Florian war baß erstaunt, daß sie ihn auch bei dieser Prozedur nicht hinauswarf, sondern gar nichts dagegen hatte, daß er sich mit dem Zimmermädchen, welches ihr die Taille im Rücken zuschnüren mußte, in den stillen Genuß aller vorhandenen Sehenswürdigkeiten teilte. Der unschuldige Florian hielt dies für eine ungarische Landessitte und konnte nicht umhin, sie recht nett zu finden. Zum Schluß durfte er ihr in den kostbaren Pelzmantel helfen und sie am Arm die Treppe hinunterführen. Das Palais Tockenburg war zwar nur wenige Minuten von dem Hotel entfernt, aber trotzdem wurde ein Wagen dahin genommen.

Zum erstenmal in seinem Leben betrat Florian Mayr ein so vornehmes Haus, zum erstenmal auch war es ihm vergönnt, eine so vornehme Dame über eine mit dickem Teppich belegte Marmortreppe hinaufzugeleiten. Er wußte von Fräulein Badacs so gut wie gar nichts, aber natürlich hielt er sie nach ihrer Kleidung und ihrem sicheren Auftreten für etwas ganz außerordentlich Vornehmes und fühlte sich sehr geehrt dadurch, daß sie ihn für diesen Abend zu ihrem Kavalier erkoren hatte. Er hatte übrigens ganz vergessen, zu fragen, ob denn nun eigentlich eine Einladung für ihn eingetroffen sei – übrigens mußte das doch wohl der Fall sein, denn sonst hätte das Fräulein ihn doch nicht mitnehmen können.

Mehr noch als durch die Hunderte von Kerzen und durch den goldstrotzenden prachtvollen Saal, den sie von zahlreichen Krystalllüsters herab bestrahlten, wurde Florian geblendet von der bunten Gesellschaft, welche diesen Saal, sowie einige anstoßende Gemächer erfüllte. Diese Menge glänzender Uniformen, diese Orden, diese reichen Toiletten, diese alten Damen in rauschender Seide, ausgeschnitten bis zur Unglaublichkeit, dies Geschwirr verschiedener Sprachen, unter denen das Französische vorherrschte, um seine Ohren, diese imposanten Lakaien, welche auf dem spiegelglatten Parkett mit so staunenswertem Geschick ihre gefüllten Theebretter von einer Gruppe zur andern balancierten – das alles war für Florian Mayr so verwirrend neu, daß er sich zunächst recht unglücklich und gar nicht am Platze vorkam, besonders weil er bald bemerken mußte, daß er der einzige zu sein schien, der mit gewichsten Stiefeln und steifem Cylinder sich hier hereingewagt hatte. Alle andern Herren von Zivil trugen nämlich einen Klapphut unter den Arm geklemmt und Lackschuhe an den Füßen. Wäre das Fräulein Badacs nicht gewesen, so hätte sich Meister Florian jedenfalls nicht so bald von der Eingangsthüre weggetraut, aber seine Dame schien hier ganz zu Hause zu sein. Sie ergriff ihn einfach beim Aermel und steuerte ihn, nach rechts und links Umschau haltend, sicher durch den dicksten Schwarm der Gäste hindurch bis zur Hausfrau, welche sie auf der Schwelle des Nebenzimmers in lebhafter Unterhaltung mit einem jüngeren Herrn in Husarenuniform antrafen, der sicherlich ein Prinz sein mußte, da er bereits ein Großkreuz auf der Brust trug.

Fräulein Ilonka führte eine tiefe Verbeugung vor der Gräfin aus und wartete, bis sie angeredet würde. Die Gräfin Tockenburg, eine noch jugendliche Frau, zarte Blondine, von ziemlich kleiner Gestalt, aber gut gewachsen und von frischen Farben, kniff die Augen halb zu, führte rasch ihr langstieliges Lorgnon davor und hob die Oberlippe zu einem überaus freundlichen Lächeln über die blendend weißen Zähne empor.

»Ah, tiens, tiens – c'est – mais oui je me rapelle: c'est la jolie pianiste hongroise!« Dann wandte sie sich an den jungen Husaren mit dem Brillantstern und fuhr fort: »Permettez-moi, mon prince, de vous présenter Mademoiselle de – de . . .«

»Badacs Ilonka s'il vous plaît, votre Altesse,« fiel die Ungarin rasch ein, als sie bemerkte, daß die Gräfin vergeblich nach ihrem Namen suchte.

Der Prinz begann alsbald ein französisches Gespräch mit Fräulein Ilonka, und Florian sah sich darauf angewiesen, hinter ihrem Rücken verschiedentliche Bücklinge an die kurzsichtige Frau des Hauses zu richten. Es dauerte eine ganze Weile, bis er von der Gräfin, welche zerstreut umherhorchte, bemerkt wurde. Sie fixierte ihn plötzlich durchs Lorgnon und zeigte ihm ihre tadellosen Oberzähne, sagte aber vorläufig nichts als »Ah –«

Florian verbeugte sich abermals und murmelte etwas von der Ehre, die ihm die gnädige Frau durch ihre freundliche Einladung erwiesen habe.

Die Frau Gräfin konnte sich offenbar nicht entsinnen und sagte etwas unsicher: »Oh, es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, daß Sie gekommen sind. – Sie sind auf der Durchreise hier, nicht wahr? Sie kommen von – Pardon, von wo doch gleich?« –

»Von Bayreuth, Frau Gräfin; aber ich halte mich schon seit drei Jahren hier in Berlin auf.«

»Oh Bayreuth!« versetzte die Gräfin mit einem enthusiastischen Blick nach oben, und dann hob sie abermals das Glas an die Augen und fixierte hoffnungslos den langen, dünnen Jüngling.

»Mein Name ist Mayr,« kam ihr Florian bescheiden zu Hilfe.

Da zog die Frau Gräfin wie erschrocken durch diese Eröffnung die Oberlippe über die Zähne herab und stupste Fräulein Badacs leicht mit ihrem Lorgnon auf den Arm.

Die wandte sich um und beeilte sich, ihrem Freunde aus der Verlegenheit zu helfen, indem sie ihn der Gräfin als den jungen, großartigen Virtuosen vorstellte, welchen sie ihr für ihren heutigen Konzertabend empfohlen habe. Sie fügte noch beteuernd hinzu, daß le jeune maître einer der hervorragendsten Lisztspieler der Gegenwart sei.

Das Gesicht der Gräfin hellte sich wieder auf und sie gönnte Florian von neuem den Anblick ihrer Oberzähne. »Ah, Sie kommen von Liszt?« rief sie in einem Tone, welcher gleichzeitig ein deutliches: »Ja, junger Mann, das ist ganz was andres!« ausdrückte.

Florian neigte den Kopf zur Seite, zuckte die Achseln und versetzte: »Bedaure sehr, Frau Gräfin, ich war noch nicht bei Liszt; aber ich beabsichtige, demnächst mein Glück bei ihm zu versuchen.«

Die Oberlippe verschwand wieder, das Lorgnon sank herab und die Gräfin sagte blinzelnd: »Oh, noch nicht bei Liszt gewesen? Ja, Pardon . . . das heißt, Sie bringen mir wohl Empfehlungen vom Meister selbst aus Bayreuth? Sie sagten doch, Sie kämen aus Bayreuth?«

»Ja allerdings, gnädige Frau,« erwiderte Florian, »ich bin sogar von Bayreuth gebürtig, mein Vater ist dort Lehrer und Organist.«

»Ober bitt' schön, gnädigste Komtesse,« beeilte sich Fräulein Ilonka ihm zu Hilfe zu kommen; »er spielt süperb! Hot mir vorgäspielt, wor ich hingärissen! Frau Gräfin wärden sich überzaigen, wenn er wird spielen den heiligen Franziskus.«

»Aehm – das wird heute schwerlich . . . emnäh – das Programm ist schon festgestellt. Pardon, meine Liebe, ich sehe dort . . .«

Der Rest des Satzes blieb unverständlich. Mit einem merkwürdig verkniffenen Ausdruck blickte sie zwischen der Ungarin und ihrem Schützling hindurch suchend in den Saal hinein und war gleich darauf ihren Blicken entschwunden.

Fräulein Ilonka war kaum minder bestürzt als Florian selbst, aber sie wollte sich nichts merken lassen. Sie lachte ihn freundlich an, ergriff ihn beim Arm und stellte ihn dem jugendlichen Prinzen vor. Der wußte nun aber vollends gar nicht, was er mit Florian Mayr aus Bayreuth anfangen sollte. Nachdem er ihm gegenüber die Behauptung aufgestellt hatte, daß das Klavierspielen jedenfalls sehr schwer sein müßte, da doch die meisten Menschen es versuchten und nur wenige es zur Vollkommenheit brächten, sah er sich außer stande, vorderhand noch mehr Geist an Florian Mayr zu verschwenden, und wandte sich wieder mit Lebhaftigkeit der Ungarin zu, der gegenüber ihm die Berührungspunkte augenscheinlich näher lagen. Da durfte Florian denn doch anstandshalber nicht weiter stören, sondern drückte sich, nachdem er wenige Minuten dumm lächelnd zugehört, still beiseite.

Er kam sich beinahe schon so gut wie hinausgeworfen vor, denn es schien ganz klar, daß die schrecklich vornehme Frau des Hauses durch seine Anwesenheit keineswegs angenehm überrascht war. Den Brief der Badacs schien sie gar nicht beachtet zu haben, ja sie schien sogar das Fräulein selbst noch recht oberflächlich zu kennen. Unter diesen Umständen gehörte allerdings eine ganz ungewöhnliche Dreistigkeit dazu, einen noch weit unbekannteren Menschen so ohne weiteres ungeladen mitzubringen. Florian dachte nicht daran, dem kecken Fräulein diesen sonderbaren Freundschaftsdienst zu danken; im Gegenteil, er war wütend auf die Badacs und beschloß, sich unauffällig davon zu machen, bevor seine Charakterstärke etwa durch ein gut besetztes Büffett auf eine zu harte Probe gestellt würde. Den musikalischen Genüssen glaubte er leichter entsagen zu können.

Er hatte schon fast die Ausgangsthür wieder gewonnen, als er mitten in einer kleinen Gruppe von alten Damen seinen Freund Prczewalsky bemerkte, und unter den Damen war auch eine, deren erwachsene Tochter er bis vor kurzem unterrichtet hatte. Da – jetzt hatte der schöne Antonin ihn gleichfalls bemerkt. Die Damen schielten alle nach ihm hin, und dann steckten sie tuschelnd die Köpfe zusammen und horchten eifrig auf etwas offenbar höchst Interessantes, was der weiche Künstler ihnen zu erzählen hatte.

»Gel du Lump, jetzt fallt's über mich her?« knirschte Florian halblaut vor sich hin. Aber jetzt beschloß er, noch ein wenig zu bleiben, denn es sollte nicht so aussehen, als ob er vor dem falschen Kerl Reißaus nähme.

Wenige Minuten später betrat ein Lakai das Podium in der Mitte der äußeren Längswand des großen Saales und klappte den Deckel des Flügels in die Höhe. Das war das Signal zum Beginne der musikalischen Produktionen. Die ganze große Gesellschaft strömte zusammen, die Damen und älteren Herren nahmen auf den vorgesehenen Stuhlreihen Platz, die jüngeren Herren stellten sich dahinter und zu beiden Seiten auf. Ein junger Pianist, den Florian nicht kannte, gab eine Phantasie aus den Meistersingern, anscheinend eine Improvisation, zum besten, und dann betrat der königliche Kammersänger Betz, ein alter Herr mit einer gewaltigen Platte und einer goldenen Brille vor den äußerst kurzsichtigen Augen das Podium, schlug auf einem Geigenpult den dickleibigen Klavierauszug auf und sang daraus Hans Sachsens Monolog vom Wahn.

Für dramatische Musik, in Frack und weißer Binde vorgetragen, hatte sich Florian niemals besonders zu erwärmen vermocht. Er richtete infolgedessen seine Aufmerksamkeit mehr auf das Publikum als auf die Vortragenden. Da es ihm gelungen war, gleich bei Beginn des Konzertes einen Stehplatz ziemlich weit vorn zu erobern, so bekam er einen recht guten Ueberblick über die Anwesenden. Langsam ließ er seine Augen die Reihen der Sitzenden entlang schweifen. Er entdeckte darunter die bekannten Charakterköpfe einiger hohen Diplomaten, Minister, Professoren und Künstler und sonst noch eine Menge Gesichter, die ihm bekannt vorkamen, ohne daß er ihnen hätte einen Namen geben können – es waren eben die typischen preußischen Assessoren- und Lieutenantsköpfe bei den jüngeren, Hofchargen- und Bureaukratenmasken bei den älteren Herren. Bei den Damen ward er viel Fleisch, aber wenig Schönheit gewahr. Auch unter ihnen entdeckte er außer jener alten Dame, die er schon vorher in Gesellschaft seines polnischen Freundes gesehen hatte, kein bekanntes Gesicht. Doch halt! Hier auf seiner Seite, nur wenige Reihen von seinem Standort entfernt, war das nicht der kleine, dicke Konsul Burmester? Ja wahrhaftig! Und neben ihm die Dame in zitronengelber Seide mit dem Mohnblumenbouquet auf der Schulter, das mußte seine Gattin sein. Er hätte sie nicht erkannt, wenn sie nicht neben dem Konsul gesessen wäre. Wie konnte auch ein Mensch, der die gnädige Frau immer nur »noch nicht angezogen«, das heißt in höchst kleidsamen faltigen Morgengewändern gesehen hatte, diesen gefährlichen, gelbverhüllten Knochenaufbau, mit dem künstlich wild frisierten Kopf darauf, für dieselbe Dame ansehen! Aber wo war Thekla? Hatte sie vielleicht den Eckplatz inne, welchen er wegen der davor stehenden Herren nicht überschauen konnte. Vorsichtig und ganz allmählich zog er sich zurück. Er hoffte, daß ihn die Konsulin noch nicht bemerkt haben möchte, und trachtete schon deswegen, ihr in den Rücken zu gelangen. So, jetzt hatte er's erreicht – und richtig, auf dem Eckplatz neben ihrem kleinen Papa saß Thekla Burmester ganz einfach in weißen Musselin gekleidet, mit einer roten Schärpe um die Taille. Ein bißchen auffallend kindlich war das Kostüm, aber es stand ihr reizend zu dem dunkelblonden Krauskopf mit den üppigen Zöpfen, die sie auch heute, trotz der großen Toilette, schulmädelhaft herunterhängend trug. Die Mama wollte sie wohl absichtlich so jung als möglich erscheinen lassen. Sie hatte sich doch ihr Adoptivkind recht übel gewählt; denn daß dieser halbe Backfisch mit den prachtvollen Armen, dem weichen Nacken und der zarten Fülle der Büste schwerlich ihr eigenes Werk sein konnte, das mußte bei solcher Nebeneinanderstellung doch jedermann auffallen! Auch von dem Konsul war schlechterdings kein Zug in Theklas Angesicht zu entdecken. Sie war ohne Zweifel eines der hübschesten, wenn nicht das hübscheste Mädchen im Saale.

Florians Herz klopfte stärker. Er war stolz auf seine Thekla. Jetzt mußte er dableiben. Er mußte eine Gelegenheit suchen, sie von ihren Eltern wegzulocken, um dies gute, dumme Köpfchen geschwind wieder zurecht zu setzen, falls die verwünschte Marie mit ihrem Geschwätz etwa doch einige Verwirrung darin angerichtet haben sollte. Florian wußte ja gar nicht mehr, wie er zu Thekla stand, denn natürlich hatte er ihr nicht mehr schreiben können.

Thekla kümmerte sich ebensowenig um die Musik wie er. Sie schien heute ihren ersten Ausflug in die große Welt zu thun, denn mit demselben Neulingseifer wie die seinen flogen auch ihre Augen hin und her. Florian wagte es nicht, sich ihr bemerklich zu machen, aus Furcht, daß ihn dann auch die Eltern bemerken könnten, aber er blieb dicht hinter ihr stehen, damit sie ihm nicht entwischen könne beim allgemeinen Aufbruch. Nie hatte ihn Musik so gelangweilt wie heute, trotzdem fast durchweg wirklich Künstlerisches geleistet wurde. Das Programm war bezeichnend für die Gesellschaft, der es geboten wurde: Wagner, Liszt, Tschaikofsky, Chabrier – von vortrefflichen Künstlern vorgetragen – und dazwischen ließen sich einige hocharistokratische Dilettanten mit Liedern im leichteren französischen Salongeschmack oder auch eigenen Erzeugnissen hören, welche in einem recht merkwürdigen Gegensatz zu dem hohen Stil der übrigen Kompositionen standen. Und gerade diese letzteren Leistungen fanden den allerlebhaftesten Beifall. Zum Beschluß des ersten Teiles sang ein schlesischer Graf mit einer allerdings prächtigen Tenorstimme einige Lieder, die ein andrer schlesischer Graf komponiert hatte. Er fand damit so starken Beifall, daß er sich zu einer Zugabe genötigt sah. Er wählte dazu Schumanns »Ich grolle nicht«, mit dem hohen  C

»Isch grolle nicht
Und wenn das Herz auch brischt –«

sang der schöne, hochgeborene Herr. Und immer kühner strebte er hinan, immer röter wurde sein Antlitz – und jetzt – hurra! – mit kühnem Schwung hinauf:

»Isch sah die Schlang',
Die dir am Häwärzen fri–wißt,
Isch sah, mein Lieb, wie sähr du ähh–lend bischt –
Isch grolle nischt.«

Tosender Beifall. Die Gesellschaft vergaß vollständig, daß sie sich ja unter der Fahne der Zukunftsmusik hier zusammengefunden und daher eigentlich kein Recht hatte, sich für derartige Kraftleistungen besonders zu begeistern – in einer Gesellschaft noch dazu, in welcher eine laute Begeisterung für Kunstleistungen überhaupt schon als unschicklich zu gelten pflegt. Aber was ist da zu machen? Ein hohes  C schlägt eben auf die Nerven wie jede andre Monstrosität auch. Alles sprang wie elektrisiert von seinen Plätzen, und die näheren Bekannten des Grafen stürmten das Podium, um ihn zu seiner phänomenalen Leistung zu beglückwünschen. Natürlich hatten gerade diese näheren Bekannten ihn schon des öfteren »Isch grolle nischt« mit dem hohen  C singen hören, aber es blieb doch immerhin merkwürdig, daß ihm auch diesmal wieder nichts dabei geplatzt war – und so etwas verdient Anerkennung. Antonin Prczewalsky, der den Grafen am Flügel begleitet hatte, wurde durch den Ansturm der Gratulanten geradezu vom Podium heruntergedrängt.

Florian benutzte die Verwirrung des allgemeinen Aufbruchs, um in einem Augenblicke, als der Konsul und seine Gattin sich gerade angelegentlichst mit Herrschaften, die vor ihnen standen, unterhielten, Fräulein Thekla ein ganz klein wenig an einem ihrer langen Zöpfe zu zupfen. Sie wandte sich rasch um und quiekte vor Schreck leise auf.

»Kommen Sie g'schwind, ich muß Sie sprechen,« flüsterte ihr Florian rasch zu, und dann drückte er sich hinter einen Knäuel von Herren, damit ihn Burmesters beim Vorbeigehen nicht entdecken könnten.

Die ganze Gesellschaft begab sich jetzt unter Vorantritt Seiner Excellenz des Grafen Tockenburg, welcher die alte Fürstin Hatzfeld am Arme führte, in den anstoßenden Speisesaal, woselbst auf zwei langen Tafeln allerlei leckere kalte Gerichte aufgestellt waren. Florian blieb dicht hinter Burmesters und folgte langsam dem Strome bis zum Eingang in den Speisesaal. Dort wagte er es abermals, Thekla am Arme zu berühren, und als sie sich umwandte, haschte er geschickt nach ihrer Hand und hielt sie fest. Er hatte Glück. Die Eltern schritten weiter, ohne Theklas Stehenbleiben zu bemerken, und nun zog er sie aus dem Menschenstrome hinaus hinter eine der Säulen, welche die Thür flankierten.

»Lassen Sie mich los. Herr Mayr, bitte,« flüsterte Thekla ängstlich; »ich darf nicht mit Ihnen sprechen.«

»Mama hat's verboten, nicht wahr?« gab Florian ironisch lächelnd zurück. »Aber das ist mir ganz egal, ich muß Sie sprechen – ich muß wissen, was die dumme Person, die Marie, Ihnen von mir gesagt hat, und ob Sie's geglaubt haben. Gel Fräulein Thekla, Sie ham's net 'glaubt? Ich war an dem Morgen so elend und hatte meine Gedanken gar net beisammen, sonst hätt' ich Ihnen wahrhaftig gleich a bißl was zum Trost g'schrieb'n, aber die dumme Person is ja gleich im größten Zorn davon, bloß weil ich's wegen ihrem dummen G'schwätz einen Affen g'schimpft hab'. Geln S' Fräulein Thekla, Sie wissen doch aus Erfahrung, daß ich leicht amal mit Gäns und Affen um mich werf, wenn ich gereizt werde? Des thut doch meinem Charakter weiter keinen Abbruch?«

Theklas ängstlich gespanntes Gesicht hellte sich zusehends auf. Ganz vertrauensvoll schlug sie die Augen zu ihm empor und sagte: »Ach nicht wahr, Herr Mayr, Sie sind doch kein schlechter Mensch – ich habe mir es gleich gedacht.«

»So is recht, des is g'scheit!« rief Florian vergnügt. »Also seien wir wieder gut mit'nander.« Damit streckte er ihr einladend seine Rechte entgegen.

Thekla wagte nicht einzuschlagen, weil es ja die Leute alle sehen könnten, worauf Florian ihr vorschlug, sie möchte sich in das Zimmer auf der andern Seite des Saales flüchten, er würde etwas für sie beide zu essen holen, und dann wollten sie sich's wohl sein lassen, und sie müßte ihm haarklein berichten, was sie seit ihrem letzten Zusammentreffen alles erlebt habe. Ohne ihre Antwort abzuwarten, ließ er sie stehen, ging in den Speisesaal und drängte sich zum Büffett durch, um zwei Teller voll Hummermayonnaise und einen Haufen belegter Weißbrotschnittchen, in rautenförmige Bissen zugeschnitten, für sich und seinen Schützling zu holen.

In seinem Eifer hatte er gar nicht bemerkt, daß er dabei in die unmittelbare Nähe des Herrn Konsuls Burmester geraten war, welcher an dem gleichen Büffett damit beschäftigt war, den Teller seiner Gattin zu füllen, die hinter ihm stand, um seine Wahl zu leiten. Die beiden Herrn erkannten einander, indem sie, im Begriffe, gleichzeitig in dieselbe Schüssel zu langen, mit ihren Löffeln kollidierten und sich dafür gegenseitig entschuldigten.

»Ah, Herr Mayr, Sie hier!«

»Ja, grüß Sie Gott, Herr Konsul! Bitte, bedienen Sie sich nur.«

»Bitte sehr, nach Ihnen,« stotterte der kleine Herr in seiner Verlegenheit. Und dann wandte er sich nach seiner Gattin um und machte sie flüsternd auf Herrn Mayrs Anwesenheit aufmerksam.

Kaum hatte Frau Olga den bösen Feind erblickt, als sie so laut, daß trotz des herrschenden Lärms die Zunächststehenden es wohl hören konnten, in komisch erschrockenem Tone ausrief: »Wo ist Thekla? Ich bitte dich, Willy, wo ist Thekla?«

Florian bemerkte viele lächelnde Gesichter, und da trieb ihn der Schalk, mit liebenswürdiger Unschuldsmiene sich an den Konsul zu wenden: »So, also Ihr Fräulein Tochter haben S' auch mitbracht? Warten S', ich geh's gleich suchen.« Und ehe noch der Konsul und seine Gattin etwas zu erwidern vermochten, schlüpfte er mit seiner Beute geschmeidig durch das Gedränge hindurch. Dicht bei der Flügelthür stand ein Lakai mit einem Präsentierbrett voll Biergläsern. Davon erwischte er im Vorbeigehen noch eins und dann schlitterte er, die beiden Teller in der Linken, das Bierglas in der Rechten, über das glatte Parkett des Musiksaales dem gegenüberliegenden Drawingroom zu.

So ganz ohne Aufenthalt sollte er jedoch nicht dahin gelangen. Fräulein Badacs schlenderte eben in Begleitung des prinzlichen Husarenlieutenants dem Speisesaale zu und rief ihm entgegen: » Tiens, liebär Fraind, suchen Sie mich? Bringen mir wos Schens zum essen?« Dabei ergriff sie ein Leberwurstschnittchen und ließ es sofort in ihrem großen Munde verschwinden.

Mit einer raschen Bewegung brachte Florian die Teller aus ihrem Bereich und sagte: »Nix da, mein Fräulein, des gehört net für Sie!«

»Ah! Wie finden Durchlaucht?!« wandte sich Fräulein Ilonka an ihren Begleiter. »Ain schener Kavalier, der Härr Mayr! Moi je l'ai introduit ici – et par conséquence il fait la cour à une autre! Que c'est drôle n'est-ce pas?«

»Beruhigen Sie sich nur, gnädiges Fräulein,« knarrte der Prinz im preußischen Gardeton: »Ich werde versuchen, Ihnen den herben Verlust zu ersetzen.«

Florian überhörte absichtlich die Ironie und sagte gutmütig lachend: »Sehr angenehm, Euer Durchlaucht, nix für ungut, liebe Kollegin; aber ich hab' eine ältere Freundin hier getroffen, gar so ein armes Hascherl, die muß ich erst einmal versorgen.« Damit schlitterte er davon, ohne sich weiter aufhalten zu lassen.

Richtig – die kleine Thekla war folgsam gewesen und harrte seiner mit bangem Herzklopfen im Drawingroom der Frau Gräfin. Sie waren hier ganz ungestört, denn es lag durchaus nicht in der Absicht der Gastgeber, daß in diesem Raume gespeist werden sollte. Es waren vielmehr zu diesem Zwecke in einer an den Speisesaal anstoßenden Galerie kleine Tische aufgestellt. Florian setzte Speisen und Getränk auf einem der japanischen Lacktischchen ab, schob dieses vor eine schwellende Causeuse und nötigte Thekla, neben ihm Platz zu nehmen. Das arme Kind naschte nur ein wenig von den belegten Schnittchen, die beiden Portionen Hummersalat mußte Florian ganz allein aufessen. Sie nippte auch nur, ihm zu Gefallen, ein klein wenig an dem Biere, den Rest trank er auf ihr Wohl in einem Zuge aus. Und während er mit gutem Appetit vom Hummer schmauste, erzählte ihm die Kleine die Geschichte ihrer häuslichen Leiden während der letzten Wochen. Die Frau Mama sei thatsächlich der Werbung des polnischen Künstlers günstig gesinnt, besonders seit er dem ältesten polnischen Adel anzugehören behauptete, wofür er jedoch bisher noch nicht die geringsten Beweise beigebracht hatte. Glücklicherweise aber mochte ihr Vater den Mann gar nicht leiden, wodurch sie sich vor seinem Drängen einigermaßen geschützt fühlte. Aber es war schon unangenehm genug, daß der Waschlappen so oft ins Haus kommen durfte. Klavierstunden hatte sie trotz ihrer Weigerung sich von ihm geben lassen müssen. Da sie jedoch nicht regelmäßig zu stande kamen, so sollte sie nun anfangen, Geige zu lernen, wozu sie erst recht keine Lust hatte. Ihr Papa hatte jetzt auch nicht mehr die Energie, den Wünschen der Mama länger zu widerstreben, denn der lange Kampf hatte ihn schon ganz mürbe gemacht. Sie fühlte sich nun völlig verlassen, besonders seit ihr durch die Weigerung der Zofe, weiter für sie Botendienste zu verrichten, die Möglichkeit abgeschnitten war, sich bei dem Freunde Rat und Trost zu holen. Sie hatte übrigens trotz der strengen Aufsicht es doch mehrmals fertig gebracht, nach postlagernden Briefen zu fragen. Da aber nie eine Zeile von ihm für sie vorhanden gewesen, war sie schließlich doch nahe daran gewesen, den Verleumdungen Prczewalskys und ihrer Marie Glauben zu schenken. »Ach, lieber Herr Mayr, nun müssen Sie mir sagen, was ich thun soll,« schloß das arme Ding, indem es in drolliger Hilflosigkeit seine Hände im Schoße faltete.

Florian war sehr gerührt; aber er kaute immer noch an seinem Hummersalat, und darum klang es nicht sonderlich gerührt, was er jetzt zur Antwort gab: »Hm, hm, was machen wir jetzt da? Ja, mein Gott, haben Sie denn nicht irgend einen rechten netten Lieutenant oder so was, womit S' durchbrennen möchten?«

»Aber pfui, Herr Mayr, wie können Sie so was sagen! Sie wollten doch selbst . . .«

Florian blickte sie erstaunt an. Er legte die Gabel hin, schluckte den letzten Bissen hinunter und dann nahm er ihre rechte Hand weich zwischen seine beiden und fragte leise: »Aber Fräulein Thekla, sind S' mir denn wirklich so gut, daß S' mit mir durchgehen möchten? Mit so einem groben Kerl, wie ich bin, mit so einem Musikanten, der nichts hat und nichts ist?«

Sie antwortete nicht, sondern ließ nur tief errötend das hübsche Köpfchen sinken.

Florian spielte eine kleine Weile mit ihrer warmen weichen Hand, dann seufzte er tief auf und sagte, indem ihm das Wasser in die Augen trat: »Nein, mein liebes Fräulein, schaun Sie, dazu bin ich Ihnen nun wieder viel zu gut, als daß ich Sie zu solchen Dummheiten verleiten sollte. Wenn Sie einen Wauwau brauchen, der Ihnen unangenehme Leut' wegbeißt, so werden Sie mich immer bereit finden, aber – in anderem Sinne dürfen Sie nicht an mich denken. Uebrigens vor dem Bubilausky brauchen Sie fein nicht Angst zu haben. Hier haben Sie ein Papier, das bewahren Sie sich sorgfältigst auf – und wenn der Kerl net auslaßt mit seine damischen Heiratsgedanken, dann geben S' Ihrem Herrn Papa nur des Autograph da, mit einem schönen Gruß von mir.« Er zog sein Taschenbuch hervor und entnahm ihm ein mehrfach zusammengefaltetes Stück Papier, welches er mit wichtiger Miene dem erstaunt und enttäuscht dareinblickenden Mädchen überreichte.

Thekla war noch beschäftigt, das Papier, nachdem sie es ganz klein zusammengefaltet, in ihrem Busen zu verbergen, als eine ganze kleine Gesellschaft aufgeregter Menschen innerhalb der offenen Flügelthüren sichtbar ward, nämlich Herr und Frau Konsul Burmester, Antonin Prczewalsky, die drei älteren Damen, die sich heute besonders an ihn attachiert zu haben schienen, und zum Schluß die Frau des Hauses selber mit dem Lorgnon vor den Augen, den feinen Hals gespannt vorgestreckt. Frau Olga Burmester machte sofort einen Vorstoß bis dicht vor das Pärchen, während die andern Herrschaften noch in der Nähe der Thür stehen blieben.

»Ah,« rief die erzürnte Mutter ganz außer Atem: »Also ist es wirklich wahr! Thekla, Thekla, wie ist es bloß möglich? Du entfernst dich von der Gesellschaft – mit – diesem Herrn – o!« Und sie streckte gebieterisch ihre Hand nach dem Töchterchen aus, das sich zitternd erhoben hatte. Den Florian Mayr würdigte sie keines Blickes.

Der Konsul dagegen glaubte es seiner Würde schuldig zu sein, mit dem Verführer ein ernstes Wort zu reden. Hocherhobenen Hauptes, das wohlhäbige Bäuchlein vorgestreckt, trat er auf ihn zu und sagte: »Darf ich Sie vielleicht um Aufklärung bitten, mein Herr, zu welchem Zwecke Sie meine Tochter hierher gelockt haben?«

Die Entrüstungsattitüde der versammelten Gesellschaft vermochte Florian Mayr keineswegs bange zu machen; im Gegenteil, er fand die Situation hervorragend komisch und erwiderte, indem er mit liebenswürdigem Lächeln auf den kleinen Herrn Burmester zuging: »Sein S' nur stad, Herr Konsul! Sie sind ja gar net so schlimm, wie Ihre Frau Gemahlin ausschaut, ha, ha, ha! Aber des können S' mir schon glauben: Ihr Fräulein Tochter is nirgends so sicher. wie unter meinem Schutz. Und letztens und hauptsächlich war ich mir's auch schuldig, die günstige Gelegenheit zu ergreifen, um mich vor dem Fräulein zu verteidigen gegen die gemeinen Verleumdungen, die der schöne Herr da gegen mich in Umlauf gesetzt hat.« Dabei wies er mit ausgestrecktem Zeigefinger auf den Kollegen Prczewalsky, der hinter dem Schutzwall der drei älteren Damen mit höhnischer Siegermiene den peinlichen Auftritt verfolgte.

Die Anwesenden standen sprachlos, und nur der gekränkte Tonkünstler äußerte eine halblaute Verwünschung, indem er die geballte Faust vorsichtig zwischen den Köpfen seiner beiden ältesten Freundinnen hindurchstreckte.

Da schritt die Gräfin Tockenburg auf Florian zu und sagte, ihre Augen fast völlig zukneifend, mit dem Ausdruck äußerster Geringschätzung: »Ich habe drüben für meine Gäste decken lassen, Herr Mayr. In meinem Privatsalon speist man nicht.«

Jetzt wurde Florian aber doch verwirrt. Er machte eine ungeschickte Verbeugung und stotterte: »Bitte vielmals um Entschuldigung, Frau Gräfin, ich – kenn' mich halt noch net recht aus dahier. Wenn man zum erstenmal in so ein vornehmes Haus kommt . . .«

»Ich kann mich auch nicht erinnern, Sie eingeladen zu haben, Herr Mayr,« unterbrach ihn die Gräfin in eisiger Ruhe.

Ein allgemeines »Ah« des Erstaunens und der Entrüstung. Der schöne Antonin lachte höhnisch auf und wagte sich sogar hinter seinen Beschützerinnen hervor. Die Konsulin murmelte: »Das setzt doch allem die Krone auf!« Und Thekla schmiegte sich mit ganz verängstigter Miene an ihres Vaters Arm.

Florian bekam einen dunkelroten Kopf. Es schnürte ihm die Kehle zu, und er vermochte nur mühsam ein paar Worte hervorzubringen: »Frau Gräfin ich bin . . . das muß ein Irrtum . . . Fräulein Badacs sagte mir doch, sie kriegte bestimmt eine Einladung für mich – – ich sollte den heiligen Franziskus . . . Gestatten Frau Gräfin vielleicht, daß ich Ihnen den heiligen Franziskus vorspiele?«

Die Gräfin führte das Lorgnon vor die Augen und fixierte Florians immerhin gut gewichste Stiefel mit einem geradezu vernichtenden Blick, während sie ihm antwortete: »Um sich in meinen Soireen hören zu lassen, bedarf es denn doch gewichtigerer Empfehlungen – das Fräulein Badacs ist etwas sehr voreilig gewesen.«

»Entschuldigen Frau Gräfin, das konnt' ich net wissen,« versetzte Florian mit leicht bebender Stimme. »Unter diesen Umständen will ich natürlich nicht länger – lästig fallen. Ich habe die Ehre, Frau Gräfin.« Damit verbeugte er sich und verließ langsam das Zimmer.

Die kleine Gesellschaft schloß sich flüsternd zusammen und folgte ihm fast auf dem Fuße. Florian hatte scharfe Ohren. Er vernahm ganz deutlich, wie Prczewalsky ganz laut zu seinen drei Damen sagte: »Ist doch eine kolassale Unverschämtheit von dieser Badacs, ganz sans façon ihren Liebhaber mitzubringen, in eine solche vorrnehme Gesellschaft!«

Florian drehte sich auf dem Absatz herum und mit wenigen großen Schritten stand er dicht vor dem erschrocken rückwärts strebenden Antonin, packte ihn mit festem Griff bei beiden Frackaufschlägen zugleich und beutelte ihn gelinde hin und her. »Was hast g'sagt, Lump, elendiglicher?« zischte er ihn leise an. »Wegen dem, was d' über mich für gemeine Lügen aufbracht hast, kriegst scho sicher noch deine Prügel – willst jetzt noch eine anständige Dame beleidigen, infamer Lapp du?«

Es waren bereits nicht wenige Herrschaften in den Musiksaal zurückgekehrt. Die unerhörte Scene konnte natürlich nicht unbemerkt bleiben. Mehrere jüngere Herren stürzten herzu, um Tätlichkeiten zu verhindern, und suchten den wild gewordenen Florian von seinem Opfer loszumachen. Auch zahlreiche Damen, unter ihnen Ilonka Badacs, strömten neugierig herzu, um den aufregenden Vorfall wenigstens von weitem zu beobachten.

Die Gräfin Tockenburg war empört. So etwas war in ihren Salons noch niemals vorgefallen. Sie wandte sich an einen jungen Offizier, der ihr just in den Wurf kam, und ersuchte ihn, dafür zu sorgen, »daß dieser Herr« sofort den Weg aus ihrem Hause fände.

Der junge Gardelieutenant faßte Florian unter dem Arm und flüsterte ihm zu: »Kommen Sie, mein Herr, wir können ja die Angelegenheit draußen erledigen.«

»Ha, ja, versteh' schon – komm' schon,« versetzte Florian, indem er mit einem letzten leichten Stoß den zitternden Antonin fahren ließ und willig dem jungen Offizier folgte. Nach ein paar Schritten aber wandte er sich nochmals um und rief ganz laut über alle Köpfe hinweg: »Ach, Fräulein Burmester, sein S' so freundlich und geben S' doch Ihrem Herrn Vater gleich das bewußte Papier. Der Herr Konsul ist vielleicht so freundlich und liest's den Herrschaften vor.« Er hatte noch die Genugtuung, zu sehen, wie die gehorsame Thekla sich beeilte, seinem Wunsche nachzukommen. Dann folgte er dem energischen Drucke des Gardeoffiziers und bewegte sich der Ausgangsthür zu.

Dort holte ihn Fräulein Ilonka ein und begehrte aufgeregt zu wissen, was vorgefallen sei.

»Nix Besonderes,« versetzte Florian ruhig, »ich hab' dem Lumpen, dem Prczewalsky, a bißl d' Wahrheit gesagt, weil er behauptet hat, ich wär' Ihr Schatz und Sie hätten die Frechheit gehabt mich hierher mitzubringen. Frau Gräfin laßt mich soeben hinauswerfen.«

»Hej! Wos is dos, teremtete!« rief die Badacs mit zornfunkelnden Augen. »Warten Sie, liebär Fraind, geh' ich auch hinaus – das haißt, komm' ich gleich nach, wann ich werde vorgespielt hoben Rhapsodie. Erwarten Sie mich im Restaurant Krczywaneck!« Und fort war sie. –

Der Konsul Burmester nahm neugierig das Papier aus Theklas Hand entgegen, faltete es auseinander und las es mit erstauntem Kopfschütteln still für sich durch. Frau Olga war natürlich höchst begierig, den Inhalt kennen zu lernen, aber der Konsul war nicht dazu zu bewegen, ihr das Papier zu überlassen. Erst als sie wieder daheim und Thekla zu Bett geschickt worden war, eröffnete er der Gattin seinen festen Willen, den Herrn Antonin Prczewalsky nicht mehr in seinem Hause verkehren zu lassen. Herr Mayr sei nur ein Grobian und ein jugendlicher Brausekopf, den edlen Polen aber halte er für einen recht jämmerlichen Charakter und außerdem für einen gefährlichen Burschen.

Bis Mitternacht saß Florian Mayr bei Krczywaneck mit seinem gerechten Groll allein beim Pilsener Bier. Das Fräulein Ilonka kam nicht. Sie hatte allerdings, ihrem Versprechen gemäß, die Soiree der Gräfin Fifi verlassen, sobald sie ihre Rhapsodie gespielt – aber nicht allein, sondern in Gesellschaft der jugendlichen Durchlaucht, als welche die Lokalitäten des Herrn Dressel denen des Herrn Krczywaneck vorgezogen hatte.


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