Sophie Wörishöffer
Robert des Schiffsjungen Fahrten und Abenteuer auf der deutschen Handels- und Kriegsflotte
Sophie Wörishöffer

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Zwölftes Kapitel

Heimkehr

In Europa waren während dessen die ersten siegreichen Schlachten gegen Frankreich geschlagen worden. Robert ersah aus den Zeitungen, welche in England an Bord kamen, daß die deutsche Armee auf allen Punkten in Vorteil blieb, und sein Herz jubelte laut in der frohen Hoffnung, an diesem glorreichen Kampfe demnächst teilnehmen zu dürfen. Er träumte von schneller Beförderung, von ehrenvoller Auszeichnung, und daß sein Name in Pinneberg mit Stolz genannt werden würde; die Eitelkeit malte ihm ein glänzendes Bild nach dem andern, indes er mit rußgeschwärztem Gesicht und in dem Lederanzug aus Lenchi unten im Kohlenraum die Schaufel schwang.

Unser leidenschaftlicher Freund konnte sich wie wir wissen in alle äußeren Verhältnisse ohne Beschwerde fügen, er ertrug die Hitze und die enge Gefangenschaft des Aufenthaltes unter Deck, ohne sich jemals unglücklich zu fühlen, nur um des Zweckes willen.

Am Bord eines preußischen Kriegsschiffes dem Franzosen gegenüber zu stehen und sich mit ihm auf hoher See im zwiefachen Kampfe des trügerischen Elementes und des Nationalhasses zu messen, – Auge um Auge, Leben um Leben, – welch berauschender Gedanke!

Niemand von seinen Arbeitsgefährten kannte die Pläne, mit denen er sich trug, niemand beachtete den stillen, schweigsamen jungen Mann, der nur seiner Berufspflicht zu leben schien und in den wenigen Freistunden träumend auf das Wasser hinausblickte, immer mächtiger bewegt, immer ernster und bleicher, je mehr sich das Schiff den heimatlichen Gestaden näherte.

Jetzt war Helgoland in Sicht, dann Brunshausen und endlich Kuxhaven. Der Lotse kam an Bord, neue Siegesnachrichten verbreiteten sich unter den Passagieren und Matrosen, das Schiff lief in die Elbmündung, – es war Holsteins Küste, die dort in letzter Abenddämmerung den Blicken des jungen Mannes erschien. Tief erschüttert, feucht von innerer Bewegung, suchte sein Auge das geliebte Land.

Holstein, teurer Name! – er wiederholte sich hundertmal das Wort, er sah wie im Traume die grüne Küste, hinter der, nur so wenige Meilen entfernt, sein Elternhaus lag. Wie er es finden würde, das niedere, alte Dach, – und wie die Menschen darin?

Ein Schauer überlief ihn. Wenn der Vater unbeugsam blieb? Wenn er ihm die Tür zeigte und alle Leute es erfuhren, daß Robert Kroll im Elternhause ein Ausgestoßener war?

Knirschend preßte er die Zähne übereinander. Hastig warfen seine bebenden Hände im Koffer die Wäsche und das Wollenzeug beiseite, um jenes Taschenbuch hervorzuholen, das die Banknoten, seinen höchsten, einzigen Schatz, enthielt. Er befühlte jedes Papier, er atmete tief und erlöst, als ihm keines fehlte. Schlimmsten Falles konnte er seinen Aufenthalt in Pinneberg abkürzen, konnte an einem anderen Orte seine Einstellung in den Seedienst erwarten und den Leuten zeigen, daß er auf eigenen Füßen stand. Etwas beruhigt legte er die Brieftasche in die Kiste zurück.

»Jaguar,« dachte er, »Jaguar, wie danke ich dir. Du hast mir mehr geschenkt als selbst das Leben.«

Und von neuerwachter Festigkeit durchdrungen ging er wieder an die Arbeit, indes der Dampfer die Elbe durchlief und endlich am späten Abend in Hamburg vor Anker ging. Für die Nacht war an eine Ablohnung nicht zu denken und auch am folgenden Vormittag verzögerte sich dieselbe, da mit einem Teil der Mannschaft unterwegs Zwistigkeiten entstanden waren. Erst abends um sieben Uhr konnte Robert, nachdem sich sein silberner Schatz um vierzehn Taler vergrößert hatte, an Land gehen.

Mit welchen Gefühlen er aus der Jolle und die Treppenstufen hinaufsprang, das unterlassen wir zu schildern. Er empfand kaum volles Bewußtsein. Einige Minuten lang stand er im Menschenstrom am Hafen regungslos still, wie um es in sich erst wieder ruhiger werden zu lassen, dann aber er raffte sich auf und ging mit der Kiste auf der Schulter in das nächste beste Logierhaus, um dort sein Hab und Gut in Sicherheit zu bringen, wahrend er selbst neue Kleider und Wäsche kaufte und vor allen Dingen ein Bad nahm, um den Kohlenstaub gründlich von seiner Haut zu vertilgen. Als er wieder zurückkam, so nußbraun und frisch, mit dem kecken Bärtchen auf der Oberlippe, ganz in weiße Wäsche und den neuen kleidsamen Anzug gehüllt, da sah mehr als ein Auge mit unverkennbarem Wohlgefallen auf den hübschen, hochgewachsenen jungen Mann, der so zuversichtlich austrat und so unverkennbar in seinem ganzen Wesen zeigte, daß er unter Sturm und Drangsal aller Art die Übergangsperiode vom Knaben zum Jüngling zurückgelegt hatte.

Für heute war es zu spät, noch nach Pinneberg zu reisen, er mußte daher die brennende Ungeduld, welche ihn beherrschte, wenigstens äußerlich verbergen und so gut als möglich den Rest des Abends hinzubringen suchen, weshalb er in das anstoßende Gastzimmer ging.

Hier wogte Kopf an Kopf eine gedrängte Menschenmasse, die sich hauptsächlich um einige Fremdlinge scharte, von denen Robert auf den ersten Blick erkannte, daß sie französische Gefangene waren, Offiziersburschen, deren Gebieter in Privathäusern Zutritt gefunden hatten, und die man in nahegelegenen Wirtschaftslokale unterbrachte, um sie beständig sowohl zu überwachen als zur Hand zu haben.

Auch einer der Offiziere war zugegen, und zwar saß derselbe am Tisch, anscheinend ohne die lebhafte Unterhaltung der Gäste irgend zu beachten. Er schrieb zuweilen in ein Buch einige kurze Bemerkungen und dann durchlief sein Blick wie zufällig den Kreis der Umsitzenden, zu denen auch jene Gruppe von Bedienten gehörte.

Einer derselben mußte sich sehr langweilen. Er malte bald mit dem Zeigefinger auf der Tischplatte, bald sprach er zu einem fast schwarzen Zuaven hinüber, bald zu dem Kellner, der ihn durchaus nicht verstehen konnte, und in den Zwischenpausen Bild zog er ein französisches Buch aus der Tasche, um einzelne abgebrochene Worte vor sich hin zu murmeln.

Die Stammgäste am Nebentisch besprachen indes lang und breit das Neueste vom Kriegsschauplatz, wo die Armeen der Deutschen standen, die Kriegsschiffe sich aufhielten, welche Küstenplätze man als bedroht ansehen müsse und wo die Gefahr am größten sei.

Robert beobachtete dies ganze Treiben, ohne demselben irgend ein Interesse abgewinnen zu können. Er wandte sich an den Wirt und fragte ihn, ob in dieser Gegend noch eine Schenke aufzufinden sei, deren Eigentümer Peter Volland heiße, und ob er ihm den Weg dahin genau bezeichnen könne.

Der Mann in Hemdsärmeln schien sich zu besinnen. »Peter Volland?« wiederholte er fragend. »Ach ja doch, nun Hab ich's, Peter Volland! – Der sitzt im Zuchthause, Herr!«

Ein plötzlicher, leiser Ausruf hinter ihm veranlaßte unsern Freund sich umzusehen. Es war ihm, als beuge sich jener Franzose, der so unruhig sprach, noch tiefer als vorhin auf sein Buch herab. Sonst bemerkte er nichts,

»Im Zuchthause?« wiederholte er gegen den Wirt. »Wie ist das möglich?«

Der Mann zuckte die Achseln. »Da passierte vor drei Jahren eine dumme Geschichte,« sagte er. »Es wurde in jenem Hause ein Seemann so schwer verwundet, daß er bald darauf starb, und bei der Gelegenheit kam denn so manches andere mit heraus. Volland hatte noch ein kleines Nebengeschäft als Seelenverkäufer, indem er Jungen vom Lande an allerlei Schiffe brachte, wo geschmuggelt wurde oder gar noch Schlimmeres, Sie wissen schon, – hohe Versicherung, Ladung von Steinen und ein Korallenriff, an dem der Schoner verunglückt. Was gemacht werden kann, wird gemacht, Volland hatte auch noch einen Mitschuldigen, aber der war nicht aufzuspüren.«

»Kerl,« hörte in diesem Augenblick Robert die Stimme eines der Gäste, »Kerl, ich glaube, du verstehst deutsch, – du lauerst auf das, was gesprochen wird!«

Eine Faust schlug derb auf die Tischplatte, einige Flüche folgten diesem ersten Ausruf, und unter den Gästen entstand eine allgemeine Bewegung, während welcher sich jener Offizier vom anderen Tisch unbemerkt entfernte.

»Dieser Kerl versteht deutsch, ich behaupte es,« rief der Gast, auf den mehrerwähnten Franzosen deutend, »er ist bei dem, was er sprechen hörte, bald rot bald blaß geworden.«

Roberts Blicke folgten der allgemeinen Richtung. Da saß der Offiziersbursche und schien unbekümmert zu lesen, wenigstens hielt er das bärtige Gesicht tief gesenkt, obgleich ganz offenbar seine Hände leise zitterten. Die übrigen flüsterten miteinander.

»Du!« rief der Wirt, des Mannes Schulter berührend, »du, verteidige dich, wenn du kannst, oder gib Rede und Antwort wie ein ehrlicher Kerl. Hast du verstanden, was gesprochen wurde?«

Jetzt mußte der Franzose aufblicken. Er tat es, aber nur flüchtige Augenblicke lang ruhte sein Auge auf dem Gesicht des Wirtes, dann kehrte es wie von unwiderstehlicher Macht angezogen zu demjenigen Roberts zurück. Etwas wie eine flehentliche Bitte schimmerte in den eingesunkenen Augen.

Robert erschrak, ohne zu wissen, weshalb. Wo hatte er dies Gesicht schon früher gesehen?

Der Franzose stammelte in seiner Sprache einige Worte, die niemand verstand, die aber einem Blitzschlage gleich unserem Freunde alles erklärten. Nachdem er die Stimme gehört, erkannte er den Mann.

Eine unwillkürliche Bewegung der Hand verriet vielleicht diese Entdeckung, ein Name trat auf die Lippen des jungen Mannes, aber der Blick jener bittenden Augen hielt ihn zurück. Robert konnte nicht zum Verräter werden, auch da nicht, wo ihm sein Widersacher, der Urheber so vielen Unglückes, der Dieb, welcher ihn bestohlen, gegenüberstand. Er dachte nur: »Georg! – Georg!« – aber er sprach es nicht aus.

Und der französische Gefangene las den edelmütigen Entschluß von der Stirne seines einstigen Opfers. Er sah dreister im Kreise umher, er fragte mit lauter Stimme, was man von ihm wolle.

Das Ganze hatte wenige Augenblicke gewährt, es war von niemand bemerkt worden und fand jetzt in Roberts Entfernung seinen Abschluß. Der Wirt schüttelte den Kopf. »Sie irren sich gänzlich,« beruhigte er den früheren Sprecher. »Dieser Mann versteht kein Wort.«

Um Roberts Lippen kräuselte ein Lächeln von Verachtung. So tief war Georg gefallen, daß er dem Landesfeinde diente? – Pfui, das verzieh er ihm weniger als den Diebstahl, zu welchem ihn damals die bittere Not getrieben haben mochte.

Er ging hinaus und verschaffte sich durch einen weiten Spaziergang bis an die Tore von Altona wieder ruhigeres Blut, er dachte nach über die ernste Lehre, welche ihm dieser Abend eingebracht und daß es doch wahr sei, doch wahr, was ihm so viele Stimmen gepredigt, die er alle in den Wind geschlagen, daß jede Schuld auf Erden ihrer Strafe entgegenreift.

Peter Volland im Zuchthause, Georg ein Kriegsgefangener, der sein Vaterland und seine Sprache Schimpfes halber verleugnen mußte, und endlich – er selbst?

Was erwartete ihn vielleicht zu Hause in Pinneberg?

Er beschloß, es zu ertragen wie ein Mann und sich nichts zu vergeben, auch selbst dem Vater gegenüber. Je näher der Augenblick des Wiedersehens heranrückte, desto stärkere Herrschaft erlangte der Trotz, mit welchem er sich auf sein Geld berief.

Wieder in das Logierhaus zurückgekehrt, legte er sich sogleich ins Bett und wollte womöglich die ganze Zwischenzeit bis zur morgigen Abreise ohne Unterbrechung verschlafen. Aber schon nach fünf Minuten wurde er durch einen unerwarteten Besuch gestört. Im Türrahmen stand Georg, mit falschem Bart, wie unten in der Gaststube, aber ohne die kecke Haltung und das angenommene Wesen des Franzosen. Er wagte, gleich einem armen Sünder, keinen Schritt über die Schwelle.

Unser Freund, der eben die Lampe verlöscht und sich aufs Ohr legen wollte, unser gutmütiger Freund sah das eingesunkene blasse Gesicht des ehemaligen Seilers, die ganze geknickte Haltung und das Beschämende seiner Lage, – er vergaß einen Augenblick alles andere, stand wieder auf, warf einige Kleider über sich und zog den Unglücklichen bei der Hand ins Zimmer. »Nun,« sagte er, »Georg, was willst du von mir?«

Der Gefangene sank erschöpft auf den nächsten Stuhl. »Robert,« bat er, »willst du mein Geheimnis bewahren? Und – und hast du mir verziehen? Sieh, damals –«

Robert unterbrach den angefangenen Satz. »Laß das gut sein, Georg,« versetzte er. »Ich denke nicht lange an Beleidigungen, die mir persönlich zugefügt werden, ich habe dir alles verziehen, nur nicht, daß du, ein Deutscher, den Franzosen dienst. Das muß dich in den Augen jedes Ehrenmannes unauslöschlich beschimpfen.«

Dunkle Glut schoß über das fahle Gesicht des Seilers. »Ach, du,« stammelte er in kläglichem Tone, »rechne mir das nicht so sehr hoch an. Ich erwarb mein bißchen Brot als Diener des Franzosen, mit dem ich nun in Gefangenschaft geraten bin, – nun, und da kam der Krieg, aber ich habe nie gegen Deutschland gefochten, könnte es ja auch des lahmen Fußes wegen schon gar nicht. Wie unglücklich ich bin, davon machst du dir keinen Begriff.«

Roberts freundliches Herz hatte längst allen Groll vergessen. »Nun,« antwortete er, »das läßt sich als Entschuldigung freilich hören. Warum bist du denn nicht mehr Seiler?«

Der andere seufzte schmerzlich. »Meine Gesundheit erlaubt keine Anstrengungen,« versetzte er. »Ich spucke Blut, die Meister nehmen mich nicht mehr in Arbeit.«

»Du armer Kerl! – Man soll doch nie nach dem Schein urteilen.«

Und Robert schloß die Seekiste auf, nahm aus dem Taschenbuch eine Banknote von zehn Talern und drückte dieselbe in des ehemaligen Seilers Hand. »Jetzt geh, Georg,« sagte er freundlich, »laß uns nicht miteinander gesehen werden. Wenn das rohe Volk, welches hier im Hause verkehrt, den Deutschen in dir entdecken sollte, so wärest du höchst wahrscheinlich vor Mißhandlungen nicht sicher. Mir für meinen Teil darfst du vollkommen vertrauen. Gute Nacht!«

Der Seiler hatte widerstrebend das Geld genommen. Robert sah nicht den tückischen Blick der eingesunkenen Augen, er hörte nicht, wie jener, nachdem er scheinbar demütig gedankt und sich nach einem kurzen Lebewohl entfernt, – draußen einen Fluch in sich hineinmurmelte. Daß Robert nur noch der verzeihende, großmütige Mensch war, aber keineswegs der Freund von ehemals, daß er Barmherzigkeit übte, aber ohne mit dem Dieb und Überläufer eine fernere Gemeinschaft zu wünschen, – alles das sah er ganz deutlich, und aus seinem häßlichen Gesichte sprach ein wilder, boshafter Haß. »Pinsel,« murmelte er in den Bart, »alberner Narr, der doch alles was er geworden ist, mir verdankt. Hat Geld in der Brieftasche, viel Geld sogar, – pah, darauf pocht er und glaubt mich beschimpfen zu dürfen, aber er wird schon sehen, wie weit ihn sein Weg führt –« Er nickte mehrere Male vor sich hin, als wolle er sich einen gefaßten Entschluß recht bestimmt einprägen, und dann verschwand er hinter der Tür seiner Kammer, die nur angelehnt wurde.

Unten im Gastzimmer schwieg allgemach der Lärm, die Türen wurden verriegelt, das Gas ausgedreht, und alles versank in tiefste Stille. Jedermann schien zu schlafen, selbst auf den Straßen war nur noch der Nachtwächter zu hören.

Ins Fenster hinein schien der Mond durch die Spalten herabgelassener Vorhänge, hüpfend tanzten die Schatten durch das Zimmer dahin, und geisterhaft lautlos drehte sich die Tür in ihren Angeln, ganz langsam, Zoll um Zoll, leise und heimlich wie eine Schlange.

Eine Gestalt huscht herein, auf leisen Sohlen schleichend, unhörbar, – sie kauert neben Roberts Kiste, – ein Knirschen, kaum wahrnehmbar, ertönt, es rauscht wie welke Blätter im Wind. – –

Der Mond versteckt hinter einer Wolke minutenlang sein lächelndes Antlitz, ein Seufzer der Befriedigung stiehlt sich aus schweratmender Brust – –

Und eben so lautlos fällt die Zimmertür ins Schloß zurück.

Bild

Am folgenden Morgen steckte Robert nur die Brieftasche zu sich, machte aus einigen unentbehrlichen Wäschestücken ein Bündel, ließ die Kiste in der Obhut des Wirtes zurück und fuhr mit dem Frühzug nach Pinneberg. Er hatte sich auf dem Vordersitz den Platz am Fenster erwählt und lehnte nun mit der Stirn am Holzwerk, um die Landschaft zu überblicken. Von fünf Minuten zu fünf Minuten tauchte immer mehr Bekanntes, Altgewohntes aus dem Einerlei der Torfmoore und Heideflächen empor. Zuerst Eidelstädt, dann der kleine, bescheidene Turm von Rellingen, wo er konfirmiert worden, wo er vom Chor herab mit Gottlieb und den anderen Schulgenossen so oft gesungen, wo er das Abendmahl erhalten und als der Beste aus der öffentlichen Prüfung hervorgegangen war.

Das Bild des Sonntagsgottesdienstes im stillen Dorfe entrollte sich unbewußt vor seinen Blicken. Er sah die Decke der Kirche mit Engelchören und Blumengewinden, sah die andächtige Gemeinde und die Sonnenstrahlen, wie sie spielend über das Altarbild dahinglitten. Er hörte die Stimme des Kantors und seine eigene und die rauschenden Orgelklänge – –

Jetzt nur noch über die Brücke, dann verdunkelte sich in der engen Umgebung von Bäumen der helle Sommertag, die altbekannte Signalglocke unter dem Torweg wurde gezogen, und langsamer, immer langsamer drehten sich die Räder.

Roberts Herz schien still zu stehen. Als sei er hier gestern zuletzt gewesen, so unverändert war die ganze Umgebung, so altgewohnt die Menschen und Dinge ringsumher. Konnten wirklich drei lange Jahre verflossen sein, seit er heimlich in sturmdurchtobter Herbstnacht von hier fortging, dem Ungewissen Schicksale entgegen? Hatte er fiebernd, einsam unter glühendem Himmel auf tropischem Sande dagelegen, bewußtlos und todkrank; hatte er unter Räubern gelebt und das Heidenopfer in der Eiswüste des höchsten Nordens zum Himmel emporsteigen sehen, hatte er träumend im Vollgenusse eine kurze Zeit lang unter den Comanchen verbracht, jagend und im leichten Spiel das rote Gold erwerbend, von guten Menschen umgeben, fraglos glücklich – seit er diesen Fleck Erde verließ?

Eine Hand legte sich auf seine Schulter. »So wahr mir Gott helfe, das ist Robert, der durchgebrannte Robert!«

Robert sah aufschreckend in ein wohlbekanntes Gesicht. Der junge Mann in der Uniform der Bahnbeamten, einige Jahre älter als er selbst, war auch ein Schulkamerad und im Augenblick natürlich voll Neugier, über die Abenteuer des Ausreißers alle erdenklichen Einzelheiten zu vernehmen, aber Robert schüttelte den Kopf. »Später, Emil, später,« preßte er hervor. »Ich bleibe einige Tage lang hier und werde auch dich besuchen. Jetzt sag mir nur –«

Er konnte nicht weiter sprechen, aber der andere half gutmütig ein. »Ob deine Eltern leben? meinst du. Darüber beruhige dich, sie sind gesund und wohl.«

Robert drückte herzlich die dargebotene Hand seines Schulfreundes. »Ich danke dir, Emil. Und frage jetzt nicht weiter. Ich kann nichts Ruhiges überlegen, bevor ich mit meinem Vater gesprochen habe.«

Emil zuckte leicht die Achseln. »Soll ich zuerst hingehen, du?« fragte er gutmütig. »Soll ich die erste Bresche schießen?«

Robert ermannte sich gewaltsam. »Auf Wiedersehen, Emil, – tausend Dank, aber ich muß das selbst tun. Leb wohl!«

Er drehte sich ab und ging quer durch das Gehölz, um womöglich nicht so häufig erkannt zu werden. Je eher sich die Sache entschieden hatte, desto bester.

Jetzt tauchten die Umrisse des Elternhauses vor seinen Blicken empor, dann sah er weiße Wäsche auf der Leine und das Traubengeländer an der Giebelwand. Vor der Haustür im Sonnenschein lag ein grauhaariger, alter Hund – Pickas! –

Er hatte es unbewußt laut ausgesprochen, das letzte Wort, er war schneller hinzugesprungen und fing in seinen Armen das Tier, welches mit allen Anzeichen von Hundeliebe und Hundefreude auf ihn zustürzte, an ihm emporzuspringen versuchte, seine Hände und sein Gesicht leckte und sich dann wieder winselnd und jubelnd ihm zu Füßen warf.

»Pickas!« sagte er halblaut, »Pickas!«

Von der Tür her tönte ein halberstickter Schrei. Da stand mit ausgebreiteten Armen, weinend und lachend das Mütterchen, da sah Robert in die Augen, welche seinen ersten Schlummer behütet, sein erstes Lächeln erspäht, und alles vergessend, stürzte er sich an die Brust der schluchzenden, alten Frau. »Mutter,« stammelte er nur, »meine liebe, liebe Mutter!«

Minuten vergingen, ehe eines von beiden seine Sprache wiederfand, dann sah die alte Frau ängstlich zur Tür des Wohnzimmers, »Robert,« flehte sie, »Robert, mein Herzenskind, sei recht demütig! Tu' einen Fußfall, mein Junge, damit er dir vergibt.«

Es wehte wie ein kalter Hauch über Roberts Herz hin. Seine Stirn umwölkte sich, seine Lippen preßten sich aufeinander. »Mutter,« sagte er mit einem tiefen Atemzug, »das verstehst du nicht. Aber laß mich mit dem Vater sprechen – je eher, desto lieber. Auch von dir muß ich noch erfahren, was du mir nach Lenchi hin nicht geschrieben. Was war es, liebste Mutter? Ich habe die halbverständlichen Anspielungen auf etwas, was du mit deinem Erbteil freundlich und liebevoll ausgleichen wolltest, wahrhaftig niemals deuten können.«

Die arbeitsharte Hand der alten Frau hob sich mahnend empor. »Robert,« sagte sie mit leisem, bittendem Tone, »mein Robert, sei nicht so verstockt. Wenn du gegen den Vater in diesem Tone auftreten willst, dann geht die Sache nimmer gut,«

»Ach Gott,« setzte sie erschreckend hinzu, »ach Gott, da kommt er selbst.«

Die Tür des Wohnzimmers öffnete sich, und auf der Schwelle erschien Meister Kroll, den das laute Gebell des Hundes und das Gespräch auf dem Flur neugierig gemacht hatten. Bei dem unerwarteten Anblick seines Sohnes, den er augenscheinlich sogleich erkannte, wurde der alte Mann blaß wie eine Leiche. Taumelnd, mit bebenden Lippen lehnte er sich gegen den Türpfosten. – kein Wort des Willkommens begrüßte den heimgekehrten Sohn.

Frau Kroll wandte sich stehend mit gefalteten Händen von einem zum anderen. »Vater,« sagte sie schluchzend, »Robert, – ach Gott, gebt euch doch ein gutes Wort!«

Robert streckte die Rechte dem alten Manne entgegen. »Willst du mich in deinem Hause nicht als dein Kind willkommen heißen, Vater?« klang es kaum verständlich von seinen Lippen. »Willst du mir nicht den unüberlegten Knabenstreich verzeihen?«

Aber der Alte ließ seines Sohnes Hand unbeachtet. Er schüttelte grollend den Kopf. »Ist das die Sprache eines zerknirschten Herzens?« fragte er. »Darf ein ruchloses Verbrechen verziehen werden, ohne –«

Robert unterbrach ihn mit lauter Stimme. Totenblässe bedeckte im Augenblick das braune Gesicht, die Augen stammten, der Atem keuchte und die Hände waren geballt. Die ganze wilde Leidenschaftlichkeit seiner Natur trat zutage. »Was sagst du?« zischte er, indes sich die geängstigte alte Frau laut weinend zwischen den Mann und den Sohn warf, »was sagst du? – Auch mein Vater darf mich nicht ungestraft beschimpfen!«

Der Alte lachte spöttisch. »Hättest am anderen Ende der Welt bleiben sollen,« versetzte er, »hättest vor dem Hause deines Vaters, der sich immer noch berechtigt hält, dich mit der Elle zu züchtigen, mindestens so viel Achtung bewahren können, daß du es mit deiner Gegenwart verschontest. Jetzt geh, – die Krolls hielten niemals Gemeinschaft mit Dieben!«

Das fürchterliche Wort, das eine unter allen, welches nicht verziehen wird, war gesprochen, und es schien, als habe es die ganze Angelegenheit plötzlich beendet, als sei jede weitere Frage abgeschnitten; und alle Heftigkeit, alles Anteilnehmen zu Eis erstarrt. Beide totenbleich, unnatürlich ruhig, sahen Vater und Sohn einander ins Auge. Nur die Mutter hatte das Gesicht mit der Schürze bedeckt und betete laut, daß Gott Barmherzigkeit üben möge.

»Du und ich,« begann nach längerer Pause der Sohn, »du und ich sind seit dieser Stunde für immer geschieden, Vater, zuvor aber will ich dir mit Zins und Zinseszins jene Summe zurückzahlen, die ich damals, um mich auszustatten, aus deiner Kasse nahm. Etwa sechzig Taler waren es, wogegen du deren hundert von mir als Ersatz erhältst. Damit bist du hoffentlich bezahlt, sollte das jedoch nicht der Fall sein, so stelle ich dir für den Rest einen Wechsel aus.

»Vater im Himmel,« schluchzte die alte Frau, »behalte ihm die Sünde nicht.«

Robert legte die Hand auf ihren gesenkten Scheitel. »Stille, Mutter,« sagte er ruhig und kalt, »stille – auch dein Sohn ist ein Mann.«

Er wollte bei diesen Worten das Taschenbuch hervorziehen, aber der Alte hielt ihn zurück. »Einen Augenblick,« sagte er gebieterisch. »Laß die Komödie mit den sechzig Talern, du machst dich dadurch nur noch immer verächtlicher. Aber sag, wo du vor drei Jahren die Schmucksachen deiner Mutter verkauft hast, damit ich versuche, ob möglicherweise eines oder das andere wieder zu erlangen ist.«

Robert stand sprachlos. »Die Schmucksachen meiner Mutter?« wiederholte er.

»Ja. Die du zugleich mit den tausend Mark, – nein, nur neunhundertdreiundsechzig – welche der Geldkasten enthielt, gestohlen hast.«

Robert sah von seiner Mutter zu dem Alten und wieder zurück. »Ich?« fragte er, »ich? Wer behauptet solchen Wahnsinn?«

Die alte Frau faltete in ausbrechender Freude ihre Hände. »Vater, Vater,« rief sie jubelnd, »siehst du denn noch nicht, daß er unschuldig ist?«

Meister Kroll schien sie nicht zu hören. »Sag mir, wo du die Gegenstände verkauft hast,« wiederholte er.

»Ich weiß von alledem nichts, ich habe keinen Wertgegenstand, habe nicht mehr als sechzig Taler genommen und diese will ich zurückstellen.«

Robert sagte es mit dem festen Tone der Wahrheit, aber doch durchblitzte ihn im gleichen Augenblick ein Verdacht, der zu nahe lag, als daß er ihn hätte übersehen können. Hohe Röte flammte in seinem Gesichte, er sah nicht auf, er schien in der Tasche das Buch nicht zu finden.

Sollte Georg den Diebstahl begangen haben? Sollte doch, wenn auch er selbst von der Sünde ganz rein war, der Verbrecher durch seine Schuld in das Haus gekommen sein?

»Sieh, Mutter, sieh, wie er zittert und errötet,« sagte im schmerzvollen Tone der Alte. »Ist das die Sprache der Unschuld, arme Frau?«

Robert wollte nicht mehr antworten, sondern erst den ehemaligen Seiler zur Rechenschaft ziehen, bevor er über diese Angelegenheit auch nur ein einziges Wort weiter sprach. »Es ist gut, Vater,« sagte er kalt, »bleib einstweilen bei deiner Meinung. Ich reise noch heute nach Hamburg zurück, und wohne dort wo meine Kiste steht, Vorsetzen No. 1000, im richtigen Ankergrund. Betrachte mich, wenn ich dein Haus nicht wieder betreten kann, um mich zu rechtfertigen, als tot, denn dann sehen wir einander im Leben nie wieder. Einstweilen aber ist hier dein Geld.« –

Er hatte während dieser Worte das Taschenbuch hervorgezogen und auseinandergeschlagen. Im Begriff, die Banknoten herauszunehmen, sah er, daß es vollständig leer war.

Ein Schrei von seinen Lippen unterbrach die tiefe Stille. »Mein Geld!« rief er, »mein Geld! – O, Gott im Himmel, ich muß bestohlen worden sein.«

Meister Kroll sah ihn halb traurig, halb verächtlich an. »Laß die Possen,« sagte er kalt, »laß die Possen und bitte ehrlich und demütig, wie es sich für dich geziemt, um Verzeihung, – dann soll sie dir zuteil werden.«

Auch die Mutter rang ihre Hände. »Robert, Robert, um Gotteswillen, gib ein gutes Wort. Gestehe die Wahrheit, mein armes Kind, mehr verlangt ja der Vater nicht!«

Robert knirschte mit den Zähnen. »Vater,« rief er, »du glaubst mir also nicht? Du denkst wohl gar, daß auch meine Behauptung, das Geld gehabt zu haben, eine Lüge war?«

Der Alte nickte. »Lüge, wie alles, was du sagst. Wer stiehlt und seinen Eltern den Gehorsam kündigt, weshalb sollte der nicht lügen?«

Robert kehrte sich erbleichend ab. »Es ist gut, Vater,« sagte er. »Es ist alles zu Ende. Ich gehe von Hamburg aus, wohin ich mich freilich zunächst begebe, gradewegs in den Krieg, und wünsche, daß mich die erste Kugel treffen möge, damit mir mein Vater verzeihen kann, was ich niemals verschuldete. Und für die Stunde, welche vielleicht noch diesseits des Grabes die ganze Sache in ihrem wahren Licht zeigt, nimm heute schon meine Vergebung. Leb wohl!«

Er küßte seine schluchzende Mutter, steckte das Taschenbuch wieder zu sich und ging mit festen Schritten aus der Tür, ohne im Elternhause weiter als bis auf den Flur gekommen zu sein. Nur der Hund wollte ihn begleiten, nur diesem mußte er wie damals mit strengem Tone befehlen, ihn allein hinausziehen zu lassen in die Fremde.

 

Die helle Herbstsonne schien auf die stillen Dächer, einige Sperlinge hüpften über die Straße und Kinder spielten, wie überall, wo Menschen leben und – leiden.

Robert stand draußen, die Tür seines Elternhauses hatte sich für ihn auf immer geschlossen, der Traum einer Aussöhnung mit dem greisen Vater war dahin und eine entsetzliche Öde bemächtigte sich seines Herzens. So hatte der Jaguar gefühlt, als er in die regennassen Wälder hungernd und krank zurückfloh, so war Mohr durch das ganze, lange Leben gegangen, ohne Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Es lief ihm eiskalt über den Rücken herab. Zum erstenmal war er gebrochen an Leib und Seele. Ohne alle Mittel, verfolgt von dem Zorne des Vaters, ungerecht beschuldigt und freundlos – wozu sollte er noch leben?

Mongos schwarzes Gesicht erschien vor seinen Blicken. – Ach, hätte er ihn in seiner Nähe gehabt, hätte er dem Neger vertrauen können, was das Herz zum Sterben schwer belastete.

Langsam ging er weiter. Überall saubere Gärten und helle Fenster, überall jener Wohlstand, den das gesegnete Holstein in seinen Landgegenden durchweg aufzuweisen hat. Er sah die beladenen Ackerwagen, das wohlgepflegte Vieh und die netten Gehöfte, sah Menschen bei der Arbeit, die sie einfach und redlich nährte, und fühlte, daß es wie eine kalte Faust an sein Herz griff.

Das alles hatte er verscherzt auf immerdar.

Aber fort, fort von hier, wo es Menschen gab, die ihn kannten. Sollte auch jemand erfahren, daß er das Haus seines Vaters nicht mehr betreten durfte?

Fast laufend durcheilte er, nachdem ihm einmal dieser Gedanke gekommen, den kleinen Ort, dabei unwillkürlich die Straße nach Hamburg verfolgend. Er war ohne einen Groschen, also blieb ihm nur übrig, den Weg zu Fuß zurückzulegen und vor allen Dingen erst einmal mit dem Seiler Abrechnung zu halten, dann freilich mußte die Seekiste verkauft werden, um nur das Allernotwendigste zum Leben zu erlangen, und darauf wollte er sich bei dem nächsten besten Reservebataillon einstellen lassen, um wenigstens, da er kein Kriegsschiff erreichen konnte, dem bedrohten Vaterlande doch nach Möglichkeit zu dienen.

Aber alles das wiederholte er sich, wie man wohl dem Gedächtnis eine Sache einprägt, die uns ganz kalt läßt. Er war zerschlagen an Leib und Seele, selbst die Vaterlandsliebe, die er bisher so lebhaft empfunden, schien wie ausgestorben.

Die Sonne versengte ihm das Hirn und erregte einen qualvollen Durst, den er nicht befriedigen konnte, die Füße versagten schon jetzt bei Beginn der Wanderung den Dienst und am Himmel zog ein schweres Gewitter herauf.

»Möchte mich der Blitz treffen!« dachte der unglückliche, junge Mensch. »Möchte mich die Erde verschlingen!«

Und weiter ging er, immer weiter, und die Tropfen fielen erst langsam, dann schneller herab auf seine heiße Stirn. Er bemerkte es kaum, er sah nicht, daß sich der Himmel in ein Feuergewand hüllte und daß ganze Schauer von Regen aus den Wolken stürzten. Als ihm mitleidige Menschen in Rellingen ein Obdach anboten, da schüttelte er nur stumm den Kopf und ging weiter.

Und einmal hörte er hinter sich die Stimme einer Bäuerin. »Mein Gott, ist das nicht Robert Kroll, den ich schon gekannt habe, als er noch nicht über den Tisch hinwegsehen konnte? – Lauft ihm doch nach, der arme Junge muß ja krank sein, er sah ganz verstört aus.«

Die Worte waren wie glühende Nesseln, und Robert fühlte ihr Brennen, zuckte unter ihren Schlägen. Er lief, als habe er ein Verbrechen begangen.

Weiter! Weiter!

Die Regenfluten durchnäßten ihn bis auf die Haut, und seine Zunge klebte am Gaumen. Sollte er betteln, fremde Leute um einen Bissen Brot bitten?

Nein, du harter Vater, so will dich dein Sohn nicht beschimpfen. Leichter wird's sein, sich hinter die Hecke zu legen und dort zu sterben. Warum auch nicht? Heiße, tobende Verzweiflung erfüllte sein Herz, er wünschte nichts sehnlicher als den Tod.

Der Ertrag der Kiste – das Bündel hatte er in Pinneberg vergessen – reichte vielleicht für drei Tage, dann mußte er dem Kommandeur, welcher ihn einstellte, bekennen, daß er keinen Taler habe, kein Stück Wäsche, nichts, gar nichts. Und würde es dann nicht sogleich heißen, daß diese eifrige Vaterlandsliebe nur eine Faulheitsbrücke sei, daß das Soldatenspielen und sich von der Regierung füttern lassen ungleich leichter scheine als die Arbeit?

Robert lachte laut und bitter. »Wahrlich,« dachte er, »man ist nie ärmer als da, wo alle Schätze der Zivilisation bereit liegen, um sich mit der Hand erfassen zu lassen, aber wo das Geld fehlt, der Nerv, welcher alle Lebenstätigkeit regelt. In der Wüste töte ich das nächste beste Tier und trinke sein Blut und wärme mich unter seinem Pelz, aber hier würde mir schon der Bettelvogt auf dem Nacken sitzen, wenn ich nur einen Apfel vom Zweig brechen wollte.«

»O Gott, Gott, warum hast du zugelassen, daß mir so furchtbares Unrecht geschah? Warum durfte der Dieb entschlüpfen, als er mir alle meine Hoffnung, meine ganze Zukunft stahl?«

Er setzte sich auf einen Stein am Wege und stützte den Kopf in die hohle Hand. Der Regen flutete ohne Unterbrechung vom Himmel herab, kein Faden an seiner Kleidung war trocken, kein Glied, das nicht schmerzte. Unwillkürlich dachte er des Tages von Lenchi, als er mit den beiden Gefährten so dasaß auf dem gestürzten Baumstamm, auch von Kopf bis zu den Füßen durchnäßt, auch ohne jegliche Aussicht, aber doch so ganz, ganz anders zu Mute als heute.

Wo lag denn im Grunde der Unterschied?

Eine prickelnde Hitze überströmte bei dieser Frage das Gesicht des unglücklichen, jungen Mannes. Noch nie hatten ihn äußere Fährlichkeiten niederbeugen können, und das würden sie auch heute nicht können, ohne die schlimmste von allen seelischen Qualen, die Reue, – aber eben gerade diese konnte er unmöglich verbannen. Wie er gemessen hatte, so war ihm gemessen worden, wie er berechtigte Hoffnungen zerstört und fremdes Eigentum ohne Erlaubnis an sich genommen, so war es ihm jetzt in vergeltender Schicksalsgerechtigkeit von anderen geschehen.

Von anderen? – –

Heißer und heißer rann das Blut durch seine Adern. Es war Georg, der ihm damals half, den Vater zu betrügen, und es war ohne Zweifel auch Georg, der ihm jetzt das Geld aus der Tasche gestohlen. Er ballte nicht die Faust, wie er sonst wohl getan haben würde, sondern er senkte, von unsichtbarer Hand gebeugt, den Kopf noch tiefer herab, und gab sich immer mehr seinen trostlosen, bitteren Gefühlen hin.

Daß es gerade Georg war, daß er unmöglich die Stimme der mahnenden, ewigen Wiedervergeltung in dieser ganzen Verkettung überhören konnte, – ach, das schmerzte so tief, das lastete so entsetzlich schwer.

Er rührte kein Glied, er saß wie eine leblose Figur im Regen auf dem Stein und kümmerte sich um nichts. Nur eins dachte er: »Schade, daß nicht anstatt des blühenden Hochsommers der Januarsturm mich umtobt, schade, daß nicht Eis und Schnee mich hier erstarren können, ehe ich zurückkehren muß in den Kampf, der für mich keinen Lohn mehr bringt.«

Viertelstunde auf Viertelstunde verrann, da tönte Hufschlag auf der durchnäßten Landstraße. Robert fuhr erschrocken empor, er horchte und spähte durch die Gebüsche. Wenn zufällig ein Gendarm oder Polizist des Weges kam, so mußte er, namentlich in jetziger Kriegszeit, darauf gefaßt sein, nach dem »Woher« und »Wohin« gefragt, und da er gänzlich ohne Papiere war, vor die nächste Behörde geführt zu werden. Einige schnelle Schritte, ein rascher Sprung, und er stand hinter dem Baum.

Der da vorüberritt, im schwarzen Regenrock, mit langen, wasserdichten Schäftenstiefeln, den Helm auf dem Kopf und den Pallasch an der Seite, dieser Mann, der das Gesetz vertrat und so bewußt, so sicher im langsamen Schritt seines wohlgepflegten Tieres die Landstraße zog, – ach, welchen schrecklichen Gegensatz bildete er zu der Lage des bedauernswerten, jungen Matrosen, der sich keines Unrechtes bewußt war, und der doch wie ein gehetztes Tier, ohne alle Möglichkeit bürgerlicher Existenz, vor den Blicken der Menschen sich flüchten mußte. Seine trostlose Geschichte anderen erzählen, das konnte er nicht, also was blieb ihm übrig, als nur das Versteck unter den tropfenden Zweigen?

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Nachdem der Gendarm vorüber war, ging Robert des Weges weiter, immer weiter, bis er die Umgegend von Altona erreicht hatte. Es dämmerte jetzt bereits, seine Schläfen brannten und der Mangel an aller Nahrung machte sich sehr stark fühlbar, er war wie abgestorben, und nur wie im Traume setzte er seinen Marsch durch die Stadt fort.

»Wenigstens heute kann ich mich ruhig zu Bette legen, »dachte er, »die Kiste sichert ja dem Wirt das Geld, welches ich ihm für ein Abendbrot und für die Schlafstelle schuldig werde. Ich vermöchte nicht mehr, jetzt noch zu einem Trödler zu laufen und um einige Groschen zu feilschen. Auch Georg kommt morgen erst an die Reihe – er ist ja ein Gefangener, kann mir nicht entfliehen.«

Und Schritt um Schritt, angestarrt von den Begegnenden, scheuen Blickes gemieden von den Kindern, musternd angesehen von jedem Polizisten, erreichte er endlich nach vielen Irrungen und Umwegen das Hafentor. Jetzt war er seinem Ziele nahe, hatte die Aussicht, bald in das Bett zu kommen und vorher etwas zu genießen, daher wurde es unwillkürlich in ihm ruhiger, als mindestens für den Körper einige Erholung in Aussicht stand.

Endlich schimmerten die Buchstaben des Schildes seinen Blicken entgegen. Der »richtige Ankergrund« war noch offen, obwohl bereits die zehnte Stunde seit geraumer Zeit den schwatzenden und trinkenden Gästen entschwunden, und obgleich draußen auf der Straße im strömenden Regen kaum noch hin und wieder ein einzelner Mensch vorübereilte.

Gerade an der Biegung des Fahrweges, unweit des Gasthauses, öffnete sich der Blick auf das Wasser. Im Dämmergrau des Abends und der nassen Luft ragte der Mastenwald unheimlich bis zu den Wolken empor, alles knarrte und knisterte im Wind, während hier eine vergessene Flagge an den Mast schlug und dort eine Jolle gegen das Unwetter kämpfte, um noch verspätete Matrosen an Bord zu bringen. Mehrere Söhne des feuchten Elementes, Arm in Arm, offenbar stark angeheitert, lavierten singend über die ganze Breite der Straße dahin.

»Lieb Vaterland magst ruhig sein, –
Fest steht und treu die Wacht am Rhein.«

Es griff wie Krallen in Roberts Herz. Alles war für ihn dahin, alles verloren. Wenn er diese Schiffe ansah, diese Matrosen, wenn er das Lied voll Begeisterung anhörte, dann schien es ihm, als könne er nicht länger leben, ohne wahnsinnig zu werden. An die Mauer gelehnt, umtobt von den Schauern des Regens und des Sturms, blickte er über den Hafen dahin. Wo war sein Stolz, wo die ängstliche Scheu, seiner jungen Mannesehre auch nur das geringste zu vergeben?

Jetzt wußte er es. Was ihn gehalten in aller Not, was ihn so keck gemacht und zuversichtlich, das war immer der Gedanke, sein ferneres Schicksal selbst gestalten zu können, das war die Überzeugung, mit einem einzigen guten Wort die ganze Vergangenheit zunichte zu machen. Heute dagegen hatte er Vater und Mutter auf ewig verloren, heute war er aus dem Elternhause fortgewiesen, ein heimatloser, freudloser Bettler.

Der ganze Schmerz des Alleinseins überflutete das junge Herz. Er dachte sich's so schrecklich, das Leben ohne geistigen Anhalt, dies Losgerissensein von allen natürlichen Banden. Den Kopf in die Hand gelegt bemühte er sich, die Tranen zu ersticken, welche der Schmerz und die getäuschte Hoffnung dreier ganzer Jahre unwiderstehlich heraufgelockt aus dem innersten Herzen.

 

Ein Schatten kreuzte die Straße. Aus dem Dunkel des nächsten Torweges trat eine Gestalt in langem, altmodischem Rocke, den derben Stock in der Hand, das graue Haar vom Regen an die Schläfen gepreßt, das bleiche Gesicht voll Gram und Angst. Langsam näherte sich der Alte dem weinenden jungen Menschen, – wie Geisterlaut klang es, kaum vernehmbar, durch das Getöse des Wetters: Robert! –

Er taumelte auf, er glaubte, daß sich die Erde drehe, daß er träumen müsse oder daß ihn ein Spuk auf offener Straße quäle. Beide Arme vorgestreckt, starrte er in das Gesicht des vor ihm Stehenden. Kein Laut, kein einziger, kam über seine Lippen.

Da fragte der Alte noch einmal. »Robert, willst du mir nicht antworten?«

Das klang so ernst, so traurig, das rührte das verzweifelte Herz des Sohnes, daß es bebte unter diesem Eindruck.

»Vater!« flüsterte er, nur mit halbem Bewußtsein, »Vater – du hast mich Dieb genannt!«

Und mit dem Schmerzensschrei dieses schrecklichen Wortes war alles gesagt, was ihn quälte, war der ganze Jammer der letzten Stunden offen enthüllt. Er fragte nicht, wie sein Vater hierhergekommen, warum er des verstoßenen Sohnes Zufluchtsstätte aufgesucht und was diese Begegnung bringen werde, – er sprach es nur unwillkürlich, das anklagende, traurige »Vater, du hast mich Dieb genannt!«

Der Alte zog ihn an der Hand zur nächsten Gaslaterne. »Robert,« sagte er, »schau mich an und gib der Wahrheit die Ehre, sie sei, welche sie wolle. Hast du die Schmucksachen deiner Mutter – von dem Gelde will ich nicht einmal reden – wirklich nicht genommen?«

Robert sah aus wie ein Sterbender, seine Lippen zuckten krampfhaft. Fast unfähig zu sprechen hob er die Rechte gen Himmel. »Bei dem Gott, an den wir beide glauben,« stammelte er kaum hörbar, »ich habe es nicht getan und nichts davon gewußt.«

Der Alte sah ihn an, lange, unbeweglich, und wie es schien, erlöst von schwerem Druck. »Das kann mein Sohn nicht lügen,« antwortete er endlich. »Robert – willst du jetzt deine Bitte von heute morgen noch einmal wiederholen? Willst du –«

Robert ließ ihn nicht ausreden. Mit beiden Armen seinen Hals umschlingend, warf er sich schluchzend an die Brust des alten Mannes. »Vater,« quoll es von seinen Lippen, »lieber Vater, vergib mir, ich bitte dich tausend – tausendmal.«

Auch die Stimme des eigensinnigen, alten Meisters war seltsam weich geworden. »Es ist gut,« versetzte er, »alles gut. Komm du nur, daß wir die Mutter beruhigen, sie war ja fast außer sich heute morgen und nannte mich einen Rabenvater, der sein Kind in den Tod treiben wolle. Komm, wir müssen eilen, um eine Droschke zu erhalten.«

Robert atmete wie neu belebt. »Vater,« sagte er, »das geht nicht, ich muß vorher mit Georg sprechen, muß ihn fragen –«

Der Alte schüttelte den Kopf. »Ich kann dir alles das genau erzählen, Robert, er aber könnte es nicht mehr. – Laß uns eilen, mein Sohn.«

Robert gehorchte, und als wenige Schritte weiter beim Hafentor eine Droschke gefunden worden, da gingen beide Reisende erst in ein Wirtshaus, um sich zu stärken, und dann, nachdem das Fuhrwerk mit ihnen durch Altona hinweg, desselben Weges wieder zurückrollte, den unser Freund unter so ganz anderen Verhältnissen eben erst gekommen, da erzählte Meister Kroll dem atemlos horchenden Sohne, daß am heutigen Morgen der ehemalige Seiler einen Fluchtversuch gemacht habe, indem er sich bemüht, ein im Hafen liegendes französisches Kauffahrteischiff zu erreichen, und daß er bei dieser Gelegenheit wieder ergriffen und tödlich verwundet worden sei.

»Der Bursche verlangte sterbend nach dir, mein Sohn,« schloß der Alte seinen Bericht, »er wollte durchaus, daß du ihm verzeihest, ehe er diese Welt verlassen müsse, und ist endlich ohne Frieden und Versöhnung hinübergegangen. Gott sei seiner armen Seele gnädig.«

»Amen!« antwortete tief erschüttert unser Freund, der sich in den plötzlichen Umschwung aller Verhältnisse noch durchaus nicht zu finden wußte. Dann aber fragte er den Vater, woher er diese Einzelheiten kenne, und Meister Krull nannte ihn den Wirt zum »Richtigen Ankergrund« als seinen Gewährsmann. »Es ist auch der Behörde ein Päckchen zugestellt worden,« sagte er, »das der Sterbende für dich bestimmte, und dem Aufzeichnungen beiliegen, die er kurz vor seinem Tode noch diktierte. Jetzt aber, mein Junge, – laß uns von dir sprechen,« schloß er, »und was du über deine Zukunft verfügt hast. Ich will den Seemann in dir anerkennen, da du doch zum Schneider ganz und gar verdorben zu sein scheinst. Das stößt mir freilich fast das Herz ab und spricht allen meinen Wünschen ein Todesurteil, aber wenn sich die Welt dahin geändert hat, daß die Söhne eigenmächtig über ihr Schicksal gebieten dürfen, nun, dann muß ich mich eben wohl oder übel mit den Verhältnissen ändern. Ein Rabenvater bin ich doch nicht, – das soll mir die Mutter noch abbitten.«

Robert lachte zum erstenmal wieder. Er hatte es ja schon längst geahnt, daß die liebe, alte Mutter dem starrköpfigen Manne so lange zugesetzt, bis er endlich mürbe geworden, in den langen Rock gefahren und davongeeilt war, dem zum zweitenmal flüchtigen Sohne nach. Nun hatte sich ja alles zum besten gewendet, und während der ganzen Fahrt berichtete Robert vom Vergangenen und Zukünftigen, erkundigte sich Meister Kroll nach allen Einzelheiten so genau und wurde so lebhaft gesprochen, daß der Wagen vor dem kleinen, alten Häuschen in Pinneberg Halt machte, ehe noch seine beiden Insassen ahnten, daß wirklich schon drittehalb Meilen Weges zurückgelegt sein könnten.

Mütterchen wachte noch, Mütterchen hatte heißen Kaffee fertig, und frische Semmeln herbeigeholt, und auf dem Tisch stand Roberts Teller von früher her, seine Tasse, sein Besteck, – und viele Worte wurden nicht gesprochen, aber es war wie Weihnachten im Hause, wie eine Feier, bei der die Herzen überflossen, still und weich im selten errungenen Menschenglücke.

Und dann mußte sich Robert in das Bett legen, wo er als Kind geschlafen, die beiden alten Leute aber schlichen leise auf den Zehenspitzen umher, ganz leise, als habe ihnen eben erst der Storch das Püppchen ins Haus gebracht und sie dürften es ja nicht wecken.

Mütterchen hantierte geräuschlos in der Küche, wie wenn eine ganze hungrige Kompanie bewirtet werden solle, und Meister Kroll saß mit gekreuzten Beinen auf dem uralten Throne seiner Väter und nähte emsig. Das Maß zum neuen Anzuge aber hatte er an Roberts Kleidern genommen.

Und dieser selbst, unser unbändiger, junger Freund? – – Er schlief, und im Traume erblickte er ein liebes, bekanntes Gesicht Der Geisterseher von der »Antje-Marie« beugte sich über ihn herab, aber jetzt nicht mehr ernst und trübsinnig wie früher, sondern lächelnd, heiter lächelnd.


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Nach wenigen Stunden wußte ganz Pinneberg, daß Robert Kroll wieder da sei. Man umdrängte ihn, er wurde der Held des Tages, man staunte und hörte zu mit allen Ohren, wenn er von seinen wunderbaren Erlebnissen sprach. Jetzt hatten all diese guten Leute vorausgesehen, daß das so kommen müsse, niemand hatte je an des Ausreißers Wiedererscheinen und an seiner Tüchtigkeit gezweifelt, sondern jeder erinnerte sich, gerade dieses glückliche Ende mit Sicherheit vorausgesehen zu haben. Unser Freund erhielt Einladungen über Einladungen, die er aber fast alle ablehnte, bis auf einen Besuch, den er wahrhaft gern machte.

Als die Hamburger Polizeibehörde das für Robert bestimmte Päckchen des gestorbenen französischen Gefangenen nach Pinneberg zur Weiterbeförderung abgesandt, und als es in die Hände des rechtmäßigen Eigentümers gelangt war, da fand sich nicht allein das ganze Geld, sondern auch ein umfassendes, reumütiges Geständnis des ersten und zweiten Diebstahls, so daß Robert in den Augen seiner Eltern vollständig gerechtfertigt dastand. Es blieb nur die eigentliche Flucht, sowie die Zwangsanleihe von jenen vermeintlichen sechzig Talern, die unser Freund niemals zu Gesicht bekommen hatte, – beides aber wurde ihm und war ihm längst von Herzen verziehen.

Meister Kroll wickelte die Banknoten wieder in das Papier. »Da, mein Junge,« sagte er, »geh hin und bringe das Geld den Eltern deines Freundes. Die armen Leute haben im Armenhause eine böse Zeit verlebt, so daß ihnen die Erlösung aus solchen Verhältnissen wohl zu gönnen ist. Wir können's ja tun, und nebenbei – – ich mag auch das einmal Gestohlene, woran Blut und Tränen kleben, gar nicht besitzen. Der Georg war ein Spion, weiter nichts, er hatte sich mit Absicht zum Gefangenen machen lassen, um hier mit Beihilfe seines ehemaligen Gebieters die Lage und Stärke der Armee auszukundschaften und alles den Feinden zu hinterbringen. Mit solchen Dingen wollen wir nichts zu schaffen haben.«

Robert nahm dankerfüllt das Geld und ging hinaus vor den Ort, um es im Armenhause Gottliebs alten Eltern zu überliefern. Er sagte aber, daß es von ihrem Sohne komme, und sparte in dieser Weise den armen Leuten das schwere Wort des Dankes. Als er zurückkehrte, fiel zufällig sein Blick auf die Weiden hinterm Mühlenteich, das Patagonien seiner Knabenjahre. Und die Gedanken spannen ihre Faden weit hinaus, von jenem ehemals bekämpften schwarzen Stier bis zu den Feuerländern in der Magelhaensstraße, bis zu allen jenen Stürmen und Drangsalen, die hinter ihm lagen, zu den Hoffnungen, die glänzender als je an seinem Horizont emporgestiegen.

Zu Hause fand er den Schein des Landwehrbezirkskommandos, der ihn sofort nach Kiel berief, um von dort aus mit einem, für den Schutz der Kauffahrteischiffe nach dem Mittelmeer bestimmten Dampfer an Bord des »Meteor« gebracht zu werden. Dies Kanonenboot lag im Hafen von Havana, und der Befehlshaber desselben, Kapitänleutnant Knorr, hatte kürzlich telegraphisch um etwa zehn Mann Verstärkung gebeten, wozu auf seine Meldung hin auch Robert gesandt wurde.

Der Abschied von den Eltern war zwar schwer, aber er war, wie alle fühlten, das, was man einen »gesunden Schmerz« nennt, und wurde deshalb, namentlich im Hinblick auf die große, nationale Sache gern und willig ertragen. Acht Tage später befand sich Robert, bestens ausgestattet und wohl mit Geld versehen, von den Segenswünschen seiner Eltern begleitet, wieder auf hoher See.

 


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