Sophie Wörishöffer
Robert des Schiffsjungen Fahrten und Abenteuer auf der deutschen Handels- und Kriegsflotte
Sophie Wörishöffer

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Neuntes Kapitel

Nach dem Goldland

Der schwere Bergenfahrer, riesig in allen seinen Verhältnissen, ein neues, tüchtiges Schiff mit guter Besatzung und vortrefflicher Einrichtung, hatte einen beträchtlichen Teil seiner Reise bereits zurückgelegt und war ohne Unfall bis zur Grenze des Stillen Ozeans gelangt. Kap Horn befand sich in Sicht.

Robert stand am Großmast und bewunderte das Schauspiel, welches sich im Licht der sinkenden Sonne seinen Blicken darbot. Während er Ähnliches und noch Großartigeres in Norwegen häufig gesehen hatte, war ihm doch die Art und Weise dieser Klippenbildung ganz neu.

Steil und senkrecht, schwarz und vollkommen nackt, ohne eine einzige lebende Pflanze, erhob sich der über zweitausend Fuß hohe Berg aus dem Meer empor und ragte mit seinem düsteren Gipfel fast bis in die blau und violett umsäumten Wolken hinein. Als letzter Ausläufer des Kordillerengebirges, aus Schiefer bestehend und von überwiegend melancholischem, ernsten Eindruck, bildete das Vorgebirge gewissermassen einen Wall gegen den breiten Gürtel von Brandungen und zischenden Schaumwogen, welche das Meer an seine Steinbrust schleuderte.

In weitem Bogen glitt das Schiff an diesem Zauberring vorüber, wo die Nixen des Ozeans mit tausend Armen hinauflangen an die Oberfläche und den Sterblichen zu sich herabziehen auf den Grund von Schilf und Kieseln. In weitem Bogen vermied es den rasenden Strudel, wo weiße Wellenköpfe mit Kronen von Schaum, urweltlichen Fabelgeschöpfen gleich, den Felsen stürmten und zerstäubten und zersplitternd zurücksanken in die blaue Unendlichkeit, aus der sie entstanden. Bei jedem Windstoß aufspringend, eine die andere überkletternd, furchtbare, bergestiefe Täler bildend und wie hohe, unübersteigliche Mauern sich türmend, so glichen die Wogen einem Heere von gewappneten Kämpen, die sich immer neu ergänzen, der eine aus dem Blute des anderen, unbesiegbar, unerschöpflich, wie der Gedanke der Ewigkeit.

Über dem Gipfel des Berges lag es blaugrau, die Luft war verhältnismäßig kalt und mit Nebel erfüllt, alles Zeichen, daß noch vor Einbruch der Nacht ein Sturm zu erwarten sei und daß die nötigsten Vorbereitungen zum Empfang desselben getroffen werden mußten. Robert war jetzt schon erfahrener Seemann genug, um dies selbständig überblicken zu können, er arbeitete emsig an der Befestigung der Boote, der Ersatzspieren und des Zehnpfünders auf dem Vorderdeck, er kletterte wie ein Seiltänzer hin und her, um die Taue auszuspannen, zwischen denen es den kühnen Besiegern des Meeres einzig möglich ist, während eines heftigen Sturmes festen Fuß zu behalten.

Die Segel wurden gerefft, die leichten ganz weggenommen, und an allen Bändseln eine Musterung gehalten, mit einem Worte, überall nachgesehen, ob das Schiff gerüstet sei, den Kampf mit dem gewaltigen Gegner siegreich zu bestehen. Der Obersteuermann ging prüfend von einer Stelle zur anderen.

»Jetzt kommt's bald,« sagte er, wie halb zu sich.

Robert, dessen liebenswürdige Dreistigkeit ihm überall solche kleine Freiheiten sicherte, die sich im Leben nur der ungestraft herausnehmen darf, welcher die Zufriedenheit seiner Vorgesetzten im hohen Maße besitzt und von dem man weiß, daß er die gebotenen Grenzen des Schicklichen nie überschreitet, – Robert sah sich um. »Woran erkennen Sie das, Steuermann?« fragte er lebhaft.

Der Amerikaner spuckte seinen Tabak in das Meer und schob ein frisches Primchen zwischen die Zähne. Dann deutete er mit der Rechten über das Wasser dahin. »Siehst du diesen schillernden, bald grünlichen, bald weißen Streifen, der wie ein flatterndes Band auf der Oberfläche des Meeres liegt? – Nun, das ist ein Vorbote.«

»Aber die Luft scheint doch noch ganz ruhig, Steuermann.«

Der Alte nickte. »Scheint nur, Bob! Wirst bald das Konzert beginnen hören.«

Und so kam es wirklich. Die Nacht war hereingebrochen, tiefste Finsternis umhüllte das Schiff, am Himmel glänzte kein Stern und durch die Takelage fuhr unheimliches Ächzen. Immer furchtbarer heulte und tobte die Brandung am Felsen, immer stärker wurden die Windstöße und höher die Wogenkämme. Der Schaumstreif hatte sich mit unheimlicher Geschwindigkeit in ganze Berge von Schaum verwandelt.

Der Kapitän, in Ölrock und Südwester, erschien an Deck. Bei Marsfallen und Brassen standen die vom Obersteuermann dorthin befehligten Leute, auch das Großsegel war eingezogen worden und auf dem ganzen Schiff alles fertig, um den schlimmen Gast zu empfangen. Wildes Heulen durchbebte die Luft.

Der Kapitän rückte den Hut tiefer in den Nacken. »Laufen Marssegel!« kommandierte er mit starker Stimme, und dann weiter: »Holt auf Luvbrassen, aus Refftaljen!«

Der Befehl wurde schleunigst ausgeführt, das Schiff legte sich fast gänzlich auf die Seite und flog wie ein Blitz durch die kochenden Fluten. Da ertönte vom Steuerrad her durch die Nacht ein lauter Schreckensschrei. Der Kopf des Ruders war abgesprungen.

Einen Augenblick lang schien es, als sei das Schiff außerstande, dem Druck des Windes zu widerstehen, die Brassen spannten sich, zerplatzten mit lautem, donnerähnlichem Knall und wurden im nächsten Augenblick vom Sturm entführt.

Das Schiff konnte in jeder Sekunde von der Brandung zerschmettert werden.

Der Kapitän war ohne Zweifel kein besonnener Charakter. Er ließ es zum Äußersten kommen, ehe er das letzte, gefährliche Mittel versuchte, – dann aber ermannte er sich.

Keines Menschen Stimme hätte den Tumult der Elemente durchdringen können. Nur Zeichen waren möglich, und diese versammelten alle Matrosen um den Kreuzmast. Dort mußten die noch vorhandenen Segel geborgen werden, oder das Schiff war rettungslos verloren.

Im Logis fand sich niemand mehr. Jeder einzelne hatte ungerufen seine Koje verlassen, um bei der Hand zu sein, wenn Not an den Mann kam. Die Leute wurden gut behandelt, erhielten starke Rationen und täglich Branntwein, daher waren sie zur Stelle wo es galt, sich als tüchtige Menschen zu beweisen.

Das Kreuzsegel konnte zwar nicht gerettet werden, sondern es flog wie ein Fetzen Papier im Sturm den vorangegangenen nach, aber der Zweck des Unternehmens war doch erreicht. Der Stern von San Francisco richtete sich langsam aus seiner gefährlichen Stellung auf, die Zimmerleute konnten das Ruder ausbessern, und das Schiff kam allmählich vor den Wind. Die größte, hauptsächlich durch das unschlüssige Zaudern des Kapitäns herbeigeführte Gefahr schien beseitigt, obwohl der Sturm noch immer forttobte und jeder Mann an Deck bleiben mußte, um für alle Fälle zur Hand zu sein.

»Hast du nun gesehen, wie schnell die Geschichte kam?« fragte der Obersteuermann, nachdem er mit dem Taschentuch das Gesicht abgetrocknet und ein neues Stück Kautabak versorgt hatte. »Ich sagte dir's ja.«

Robert lachte vergnügt. »Das war zur Feier meines Geburtstages, Steuermann. Hätte mir wahrlich nichts Lieberes geschehen können, als so ein tüchtiger Spektakel, der das Blut in Bewegung bringt. Ganz nahe am Tode, – das macht das Leben schön.«

»Bei achtzehn Jahren!« brummte der Alte, halb verdrossen, halb angenehm berührt, wie alle, die mit Roberts frischer und gesunder Natürlichkeit in Berührung kamen. »Na, wenn dein Geburtstag ist, so sollst du auch später eine Extraration haben.«

Robert wandte sich zu dem hinter ihm stehenden Neger. »Und du sollst sie trinken, Mongo!« sagte er. »Das war wieder einmal ein kleines Abenteuer, was?«

In diesem Augenblick tönte durch die Nacht ein Kanonenschuß aus ziemlicher Nähe herüber. Alle horchten auf, wie von einem elektrischen Schlage berührt, alle blickten unwillkürlich in die Richtung des Schalles, obgleich die herrschende Finsternis jedes Sehen unmöglich machte.

Ein Schiff in höchster Not! – –

Das unglücksschwere Wort lief von Mund zu Mund. Aller Herzen schlugen höher. Da folgte vernehmlich ein zweiter Schuß.

Der Obersteuermann war der erste, welcher die Sachlage erfaßt hatte. »Das Schiff treibt uns steuerlos mit dem Wind entgegen,« sagte er. »Der zweite Schuß klang bedeutend näher, und – horch! – dieser noch viel mehr.«

»Steuermann!« rief mit unruhigem Tone der Kapitän, »ist es nicht, als wäre das fremde Schiff genau in unserem Fahrwasser? – Wir können zusammenstoßen.«

»Das verhüte Gott, Sir!« –

Und dann brachten seine ruhigen Kommandoworte den Stern von San Francisco weiter in das Meer hinaus, so daß er gegen den Wind aufkreuzte. Die Kanonenschüsse folgten einander immer schneller, und endlich, nachdem sich der Sturm bedeutend gelegt, wurde auch auf dem Bergenfahrer das Geschütz gelöst, um eine Antwort zu geben.

Ein hundertstimmiger Jubelschrei hallte, alle Herzen erschütternd, über das Meer dahin. Robert ergriff in heftiger Bewegung den Arm des Obersteuermannes.

»Wir müssen helfen, Sir, wir müssen die Boote aussetzen!« rief er.

»Alles zu seiner Zeit, Grünschnabel. Wolltest du mir nichts, dir nichts, in die pfadlose Dunkelheit hinausstürmen, vielleicht an dem bedrohten Schiffe vorbei, vielleicht direkt unter seinen Bug, so daß du übersegelt wärest, ehe sich der Teufel die Schuhe putzt? – Laß nur erst einmal die Leuchtkugeln ihre Schuldigkeit tun.«

Robert gestand sich errötend die Übereilung, welche er begangen. Immer mußten ihn besonnenere Menschen wie ein kleines Kind am Gängelbande halten. Er trat leise zurück und erwartete stumm, was da folgen werde.

Der Steuermann sollte wieder recht behalten. Nach wenigen Minuten schon entfaltete sich ein wundervolles, großartiges Schauspiel. Aus der grabesdunkeln Umgebung des Meeres erhoben sich farbige, meist purpurrote Leuchtkugeln, die in ununterbrochener Reihenfolge einen Schauplatz gräßlicher Verheerung mit ihrem Schimmer überfluteten.

Ohne Masten, ohne Quarterdeck oder irgend einen hervorragenden Gegenstand, lag ein Schiff fast bis zur vollen Höhe seiner Schanzkleidung unter Wasser, in nächster Nähe des Bergenfahrers da. Es trieb kaum noch, weil der Wind eben nichts mehr fand, woran er seinen Grimm hätte erproben können, aber es wurde auch nur noch durch die verzweifelten Anstrengungen der Besatzung etwa drei Fuß hoch über Wasser gehalten. Rastlos arbeiteten die Matrosen an den Pumpen, rastlos folgten einander die Leuchtkugeln und überschütteten mit einem Feuerregen das nächtliche, dunkle Meer.

Es war ein wundervoller, zauberhaft schöner Anblick, die Brandung am Fuße des Vorgebirges, von farbigen Lichtern umstrahlt, hier purpurn, dort azurblau und dann tief violett, – aber niemand fand Zeit oder Ruhe, um sich dem Genuß dieses Schauspiels hingeben zu können. Das bedrängte Schiff heischte die Kräfte und die Besonnenheit aller.

Der unschlüssige Kapitän näherte sich mit blassem Gesicht seinem Untergebenen. «Ein Auswandererschiff,« sagte er, »wo sollen wir alle diese Menschen unterbringen?«

Die Antwort war kurz und bezeichnend. »Wir werden sie nicht alle lebend an Bord bekommen, Sir!«

»Meinen Sie, Steuermann? Aber lassen Sie die Boote herunter. In jedes vier Mann. Ich glaube, das Wasser ist ruhig genug.«

Er verschwand in der Kajütte, und der Steuermann ließ sich zunächst von einem der Matrosen das Sprachrohr bringen. Dann fragte er an, ob man auf dem sinkenden Schiffe noch Feuerwerkskörper genug besitze, um den Rettungsmannschaften die nötige Beleuchtung zu gewähren. Erst als diese Frage bejaht war, wurden die Boote auf das Wasser gesetzt.

Robert stürzte sich, allen voran, gleich in das erste. Er wollte es keinem seiner Kameraden gestatten, bei dem gefährlichen Rettungswerke ihm voranzustehen, sondern womöglich das schwerste und bedeutendste der Sache selbst tun. Der »Stern von San Francisco« lag jetzt back, und das fremde Fahrzeug trieb kaum merklich in einiger Entfernung an seiner Seite.

Bild

Der Steuermann beobachtete beim Glanz der Leuchtkugeln, daß es tiefer und tiefer versank, daß die pumpenden Matrosen mit der Hast der Verzweiflung arbeiteten. Ein stummes, leichtes Kopfschütteln, ein Seufzer beantworteten die Gedankenfrage, ob es möglich sein werde, alle diese Unglücklichen zu retten.

Die Boote wurden mittlerweile von den Wellen wie Nußschalen hin und her geschleudert. Es verging eine volle Viertelstunde, bis es dem ersten gelang, an das sinkende Schiff heranzukommen. Jetzt entstand ein stummes, grauenhaftes Ringen. Während zwei Matrosen mit Aufbietung aller ihrer Kräfte bemüht waren, das Boot und den niedern Bord des Schiffes aneinander festzuhalten, wehrte der dritte denjenigen Unglücklichen, welche sich, von Verzweiflung getrieben, jählings in das zur Rettung bereite Fahrzeug hineinstürzen wollten, und der vierte endlich nahm die zum Übersetzen bestimmten Gäste in Empfang. Ein Schmerzensschrei begleitete das abstoßende Boot.

Und so wiederholte sich die gleiche Szene noch achtmal. Sämtliche Männer arbeiteten, daß ihnen der Schweiß in Strömen vom Gesicht lief, sie rangen mit heldenmütiger Ausdauer gegen Wind und Wellen, gegen die natürliche Erschöpfung der Kräfte und die Versuche der Auswanderer, sich gewaltsam des Bootes zu bemächtigen. Sie wurden alle von den Kameraden abgelöst, nur Robert nicht, – er ließ keine Müdigkeit an sich herankommen, weil sein begeistertes, starkes Herz die Menschenpflicht über jede andere, namentlich aber über die Rücksicht auf das eigene Wohl, stellte. Und wo die tatkräftige, mutige Seele so gebietet, da gehorcht ihr in den Stunden großer Aufregung, unter dem Druck schwerwiegender Ereignisse der sterbliche Körper. Robert erlag nicht, bis das Werk in seiner Weise erfüllt war.

In seiner Weise.

Nur zu richtig sollte der Obersteuermann prophezeit haben. Ihrer fünfzig Passagiere von dem verunglückten Schiffe waren unter Gefahr und Anstrengung aller Art an Bord des »Stern von San Francisco« gebracht worden, während trotzdem noch über zweihundert Personen ungeduldig der Erlösung harrten. Im tiefsten Dunkel der Nacht, unter Wehklagen, Geschrei, flehentlichen Bitten und Verwünschungen aller Art vollzog sich das Rettungswerk; deutsche Laute der Verzweiflung und des Jubels, deutsche Gebete, deutsche Flüche schallten an Roberts Ohr und spornten ihn zu immer größerer Anstrengung. Er allein auf dem amerikanischen Schiffe verstand die Sprache, er allein arbeitete für bedrohte Landsleute, daher tat er es allen zuvor.

Und dann kam der letzte Akt des schauerlichen Dramas.

Die Matrosen an den Pumpen erkannten die Unmöglichkeit, noch längeren Aufschub zu erzwingen. Sie berieten einen Augenblick lang im Flüstertone und darauf begannen sie schwimmend den kurzen Weg bis zu dem Bergenfahrer zurückzulegen. Mehr als einen verschlang das wogende Meer, mehr als einen trieb es willenlos dahin und zerschmetterte seinen Körper an der furchtbaren Brandung, aber was war das Schicksal dieser einzelnen gegen alle jene Unglücklichen, über deren Füße jetzt das Wasser kalt und kriechend hinlief? Zwanzig zugleich stürzten sich die Männer an die Pumpen, obgleich keine irdische Macht imstande war, das Unglück aufzuhalten. Mit furchtbarer Schnelligkeit sank das Wrack, – nur noch eine Handbreit überragte es das Wasser.

Ganz zuletzt noch drängte sich ein junger Mann an Roberts Boot heran. Bisher hatte er tapfer geholfen, die Frauen und Kinder voranzuschicken, hatte mit vernünftigem Zuspruch den Andrängenden gewehrt und allen Mut eingesprochen – jetzt dachte er an die eigene Rettung. »Laßt mich hinter eurem Boote schwimmen, Landsleute,« bat er, »ich will niemand einen Platz streitig machen, nur gebt mir ein Tau, daß ich in der Dunkelheit den Weg finde.«

Robert lauschte aufmerksam. Schon ehe der Fremde zu ihm sprach, hatte er geglaubt dessen Stimme zu erkennen, jetzt aber nur um so mehr. Er konnte von dem übermäßig gefüllten, kaum seiner augenblicklichen Last gewachsenen Boote keinen einzigen Platz mehr verschenken, und doch erschütterte ihn die bescheidene, im holsteinischen, heimatlichen Deutsch vorgebrachte Bitte des anderen. »Wirst du dich halten können?« fragte er mitleidig. »Die See geht hoch, und dann – es sind Haifische hier!«

Der Fremde seufzte. »Fängt mich einer, so ist die Sache zu Ende,« sagte er. »Aber um meiner alten Eltern willen muß ich mich zu erhalten suchen, bis es nicht länger geht. Nimm mich mit, Landsmann, ich bitte dich.«

Robert löste von seinem Körper den Ledergürtel, dessen eines Ende er am Bootsrand in einem Eisenring befestigte und das er kaum noch früh genug dem Fremden zuwerfen konnte, um ihn vor dem jähen Sturz in das Meer zu bewahren.

Ein »ich danke dir, Landsmann!« verhallte in den Schreckensäußerungen der nun folgenden Szene. Die Leuchtkugeln versagten in den feuchten Händen, grauenhafte Finsternis umgab rings das bewegte Treiben und nahe an zweihundert Menschen versanken mit dem Schiff, auf welchem sie standen, jammernd und wehklagend in die bodenlose Tiefe.

Auf dem »Stern von San Francisco« begannen jetzt abermals die Raketen und Leuchtkugeln ihren Dienst. Erst nachdem von seiten des untergegangenen Schiffes in dieser Beziehung nichts mehr getan werden konnte, gab der vorsichtige Steuermann den Befehl, die Feuerwerkskörper hervorzuholen und abzubrennen. Man besaß also wieder einiges Licht, konnte hier und da ein menschliches Wesen auf den schäumenden Wellen erkennen und ins Boot ziehen, um es, wenn sich noch Leben vorfand, auf das überfüllte Schiff zu bringen, sonst aber mit einem letzten, unausgesprochenen Gebet wieder zurückzuversenken in das Meer. Man konnte mit langen Stangen die Trümmer untersuchen und an Bord die bleichen, geängstigten Menschen zählen.

Robert taumelte fast, als er seine letzte lebende Fracht abgesetzt und als andere Hände das Boot emporzogen. Er sah wie durch eine Art von Schleier das Segelmanöver, wodurch der »Stern von San Francisco« wieder vor den Wind gebracht wurde, und daß neues Leinen, während der kurzen Rast mit Sorgfalt gesetzt, die Taue zwischen den Masten füllte. Das Schiff verfolgte seinen Weg, nachdem alles geschehen, um dem Tode möglichst viele Opfer zu entreißen; es entfernte sich von der Unglücksstätte, Trümmer und Leichen in seinem Kielwasser zurücklassend, selbst beinahe überladen, einem unsicheren Schicksale entgegengehend, der vielen wegen, die jetzt essen und trinken wollten, wo doch für sie nicht gesorgt worden war, als der Bergenfahrer seine Lebensmittel einnahm.

Es blieb nur eine Zuversicht: daß Kapitän und Mannschaft das Ihrige getan, daß sie auf Gott vertrauen durften, der das Böse straft, aber das Gute tausendfach belohnt.

Als den Frauen und Kindern die Kajütte eingeräumt worden, als die Männer im Logis und auf dem Vorderdeck so gut wie möglich untergebracht waren, als endlich jeder ohne Ausnahme eine Ration Grog erhalten, suchte Robert im Schein der heraufziehenden Morgendämmerung unter allen diesen hingestreckten, teils schlummernden, teils dumpf vor sich hinbrütenden Gestalten den jungen Mann, welchen er zuletzt gerettet.

So von jeder Hoffnung, von Hab und Gut entblößt, dem Erbarmen anderer preisgegeben, hatte ihn das Schicksal zweimal an den fremden Strand geworfen – er empfand jetzt ein inniges Mitleid für den Unglücksgenossen, er freute sich der Möglichkeit, so gewissermaßen an die gütige Vorsehung wieder abtragen zu können, was ihm selbst in der Stunde der Not andere getan, nebenbei aber wollte er auch wissen, wo ihm in früheren Tagen diese Stimme begegnet sei.

Die meisten Geretteten saßen aufrecht oder lagen mit gestütztem Kopfe da, ihren schmerzlichen Grübeleien hingegeben, teils leise weinend, teils zusammen flüsternd oder in starrem, trotzigem Verzweifeln die Hände ringend. Niemand aus dieser ganzen Zahl hatte sein bißchen Eigentum gerettet, vielen dagegen waren von der tückischen Flut ihre Lieben entrissen worden, viele hatten das Teuerste, was sie auf Erden ihr eigen genannt, vor sich sterben sehen müssen, ohne selbst irgend etwas zur Verhütung dieses schweren Geschickes tun zu können, und alle ohne Ausnahme sahen sich ihrer Barschaft, ihrer Papiere, ihrer letzten Aussicht auf ferneres Fortkommen im Goldlande vollständig beraubt.

Wenn sie jetzt im Hafen von San Francisco landeten, so waren sie Bettler, anstatt einer erträumten besseren Zukunft entgegen zu gehen. Kein Wunder also, daß nur auf wenige Stirnen der Schlaf sich lindernd herabgesenkt hatte, daß fast alle diese armen Leute starren Blickes vor sich hin sahen, trostlos und erschüttert bis ins tiefste Herz.

Robert suchte, bis er endlich im Hintergrunde des Logis einen jungen Menschen bemerkte, der auf einer Seekiste saß und das Gesicht in der hohlen Hand verbarg. Dieser mußte es sein, Robert erkannte ihn an dem Anzug, welchen er schon in der Nacht gesehen.

»Landsmann,« sagte er, die Rechte auf des Fremden Schulter legend, »sei nicht so mutlos, Freund, mir ist es schon schlimmer ergangen als dir.«

Der Angeredete hob den Kopf und sah auf. Ein plötzliches Erstaunen, eine angenehme Überraschung malte sich in den Zügen beider junger Leute.

»Gottlieb!« stammelte unser Freund, »Gottlieb! du bist es!«

»Robert Kroll!« versetzte der andere. »Ist es möglich? – Robert, der in ganz Pinneberg für tot gilt! Mein Gott, ich glaube zu träumen.«

Robert erschrak. »Gottlieb,« fragte er, zagend wie vor etwas Verhängnisvollem, »Gottlieb, du kommst also aus unserer Heimat? Sprich, ich bitte dich, leben meine Eltern?«

Der junge Holsteiner nickte. »Sie leben beide, Robert, obwohl dein Vater seit deiner Flucht kränkelt. Er ist in sich gebrochen, der alte Mann.«

Unser Freund erbleichte bis in die Lippen. Es war ihm, als schnürte eine ungesehene Hand seine Kehle zusammen. »Kamen denn meine Briefe nicht nach Pinneberg?« stammelte er endlich.

»Einer, Robert. Von New York aus, wie deine Mutter der meinigen erzählte. Die Leute aber glaubten es nicht, weil so viel Abenteuerliches darin stand, und auch dein Vater wollte von dem Brief nichts wissen. ›Es muß erst ganz anders kommen,‹ hat er gesagt, ›Robert muß als reuiger Sünder in das Elternhaus zurückkehren und seine Mutter und mich auf den Knieen um Verzeihung bitten, so gehört sich's nach Gottes Willen und nach der Vater Brauch und Sitte. Er ist von mir zum Schneider bestimmt, und wenn er nicht gehorchen will, so habe ich keinen Sohn. Der Brief bleibt unbeantwortet.‹«

Robert schüttelte unwillkürlich den Kopf. »Immer noch der alte Starrsinn,« dachte er. »O, wie recht hatte ich, nicht ohne Mittel, die meine Selbständigkeit sichern, nach Pinneberg zurückkehren zu wollen. Um Verzeihung bitten werde ich den Vater, ja, aus Herzensgrund, aber ein Stück Brot lasse ich mir von ihm nicht geben und müßte ich verhungern.«

Er lebte sich voll Trotz in diesen Entschluß hinein, aber dennoch tat's ihm weh, dennoch sah er immer im Geiste das Bild des alten Mannes, wie er krank und traurig einherging. Gerade an seinem Geburtstage, in den Stunden, wo zu Hause die alten Eltern voll Wehmut und Sehnsucht ihres einzigen, verlorenen Kindes gedachten, gerade an diesem Tage kam ihm auf so wunderbare Weise die ernste Mahnung an das, was er gesündigt. Mitten im Weltmeer, in der pfadlosen Wasserwüste mußte ihm der Gespiele seiner Kindheit unvermutet begegnen und die alte Wunde des Herzens plötzlich zum Bluten bringen!

Eine Pause, von Gottlieb durch ernstes Schweigen geehrt, folgte dieser Unterhaltung. Beide junge Leute fühlten zu tief die Bedeutung der Stunde, als daß sie es versucht haben sollten, dieselbe hinwegzuscherzen. Auch der Auswanderer, dem das Meer alles geraubt, stand ja an einem Wendepunkte seiner Zukunft, die jetzt düsterer als früher vor ihm lag.

»Wie kommt es, daß du Europa verlassen, Gottlieb?« fragte endlich Robert, »und wohin ging deine Reise?«

Der andere seufzte tief. »Ich wollte nach Kalifornien, um Gold zu suchen, Robert,« antwortete er tonlos.

»Du? Und ich glaubte immer, daß dir dein Geschäft alles sei, daß du in deines Vaters Kundschaft hineinwachsen möchtest und auf einer und derselben Erdscholle leben und sterben. Du weißt wohl, bei unseren Kriegs- und Räuberspielen im Gehölz machtest du meistens den Zuschauer, aber wenn wir einmal einen Laden errichteten oder bei den kleinen Mädchen in der Puppenwirtschaft zu Gast waren, so fühltest du dich in deinem Fahrwasser.«

Gottlieb nickte. »Du hast ganz richtig gesehen, Robert. Ich wäre nur zu glücklich gewesen, den kleinen Krämerladen meiner Eltern eines Tages auf eigene Rechnung übernehmen zu können, aber das Schicksal wollte es nicht. Wir brannten ab, als das Haus bis unters Dach mit unversicherten Waren gefüllt lag; mein alter Vater wurde schwer krank und erblindete gänzlich. Was sollte ich nun beginnen? Mit dem Gehalt als Gehilfe in anderer Leute Lohn und Brot konnte ich die Eltern nicht ernähren, also mußte ich das Glück auf dem Wege des Zufalls zu erringen suchen. Schon so viele vor mir hatten in den Goldminen Schätze gesammelt – ich wollte es auch. Aber jetzt freilich –«

Die innere Bewegung erstickte des jungen Menschen Stimme. Er fuhr mit der Hand über die Stirne, ehe er weiter sprach. »Jetzt muß ich in San Francisco eine Stelle als Hausknecht oder Kellner suchen,« setzte er endlich seufzend hinzu. »Gott wollte nicht, daß aus mir ein Goldgräber wurde, – ich sehe es ja.«

»Du paßt sicherlich nicht dazu,« warf Robert ein.

»Das fühle ich selbst, aber meine Pflicht steht doch höher als alle Wünsche der Welt. Ich muß mich vergessen lernen und werde es.«

Robert errötete vor den schlichten Worten seines ehemaligen Schulkameraden. Ohne Klage, ohne Sträuben hatte Gottlieb verlassen, was ihm auf Erden das Teuerste war, um sich in die fremde, geräuschvolle, ihm so verhaßte Welt hineinzustürzen, nur weil er in dieser Selbstverleugnung den alten Eltern diente und seine Sohnespflicht treu erfüllte. Das war mehr als er, Robert, jemals hätte über sich gewinnen können.

»O Gottlieb,« sagte er, »wie wunderlich spielt das Leben mit uns Menschen herum. Immer muß man, was man nicht möchte.«

»Ja, wenn man's nur noch gleich ausführen könnte,« versetzte der bescheidene junge Mensch, »dann ginge wohl alles. Aber solche Querstriche, die das Schicksal zieht, solches Unglück macht ganz verzagt.«

Robert klopfte ihm auf die Schulter. Sein großmütiges Herz hatte schon längst beschlossen, den Jugendfreund zu retten. »Mach dir keine Sorgen, Gottlieb,« sagte er, »ich habe genug Geld im Besitz, um dir helfen zu können. Fünfzig Dollar gibt es doch, wenn ich abmustere, und damit kommst du bequem ins Goldland.«

Gottlieb streckte gerührt die Hände aus. »Bist immer noch der alte Robert Kroll!« rief er, »der Gute, der Ungestüme. Bist noch der, welcher sein Butterbrot teilte und für den schuldigen Kameraden die Tracht Prügel hinnahm, ohne zu plaudern. Gott segne dich, Freund!«

»Ach, Paperlapapp, wollen wir nicht gleich lieber Tränen vergießen, du?«

Aber während er die Worte sprach, umarmte er doch in seiner heftigen Weise den anderen, und unter seinen Wimpern schimmerte es feucht. Dann zwang er den unerwartet Gefundenen sich schlafen zu legen, und trat selbst die Morgenwache an, frisch und kräftig wie immer.

So hoch da oben in den Tauen, fast unterm Flaggenknopf, wo es heute viel zu tun gab und wohin er allen voraneilte, da zogen verschiedene Gedanken an seiner Seele vorüber, ernste und heitere, Bilder der Vergangenheit und Hoffnungsträume einer glücklichen Zukunft, – da fühlte er tiefer als je das Gewicht seiner Schuld und nahm sich vor, noch einmal, noch dringender und herzlicher den Vater um Verzeihung zu bitten. »Mag er im Unrecht sein,« dachte unser junger Freund, »mag er im irrtümlichen Eifer mein Glück da gesucht haben, wo es nicht zu finden war, – ich muß ihm alles vergeben, weil er mein Vater ist, und muß ihm das Unrecht, welches ich begangen, kindlich abbitten. Bei der nächsten Reise werde ich Vollmatrose, dann gibt es bessere Heuer und dann kann ich um so leichter eine kleine Summe sammeln, damit mir die Eltern nichts zu schenken brauchen. Mag der Vater unerbittlich bleiben, wenn ich mich ihm zu Füßen werfe, – ich will es doch tun, um meines eigenen Bewußtseins willen.«

Und als er dann, leichter im Herzen durch diesen Entschluß, bei seiner Arbeit mit heller Stimme das »Schleswig-Holstein meerumschlungen« hinausjubelte in die sonnige Morgenfrische, da übertrug sich der Segen seiner freieren, besseren Stimmung auch auf die armen Auswandererfamilien da unten im Schiff. Der sie bei Nacht und Unwetter so gnadenvoll erhalten hatte zu neuem Dasein, der würde ja auch Mittel und Wege finden, das doppelt geschenkte Leben im fremden Lande fristen zu können.

Besonders Gottlieb sang, in Roberts Koje wachend, unhörbar alle die Verse mit. Die unerwartete Begegnung hatte seine Hoffnung neu gehoben, das liebe, vertraute Gesicht des Schulkameraden war ihm wie ein Stern in der Finsternis erschienen, – er fühlte es nicht, daß sich unmerklich seine Wimpern senkten, daß ihn die Klänge des Heimatliedes in Schlummer wiegten.

Golden und glänzend schien die Sonne herab, weiter und weiter zog das Schiff seine Bahn – hinweg über Trümmer und zerschellte Pläne, unaufhaltsam dem wechselnden Leben entgegen. Sorge und Freude, Schmerz und Lust, alles schläft, alles ruht. Die Träne ist versiegt und das Lächeln still, – all die Geretteten schlafen.

 

In der Kajütte des Kapitäns stand der Obersteuermann und sah sehr ernsten Blickes seinem Vorgesetzten ins Auge. »Wir müssen, Herr Kapitän,« sagte er mit großer Entschiedenheit.

Mr. Barrow strich sich das Haar aus der Stirn, kratzte hinter den Ohren, wiegte den Kopf und war offenbar unschlüssiger als je. »Bis zur Insel Juan Fernandez könnten wir doch vielleicht kommen, Steuermann,« antwortete er endlich.

Dieser schüttelte den Kopf. »Ganz unmöglich, Sir.«

»Auch nicht, wenn die Rationen halbiert werden?«

»Auch dann nicht.«

»Verfluchte Geschichte! Wie soll ich's vor der Reederei verantworten?«

»Daß wir schiffbrüchige Menschen retteten, Sir? Kein Gericht der Welt kann Ihnen Strafe dafür zuerkennen.«

»Aber wenn das Schiff in der Magelhaensstraße zu Grunde geht? Niemand wählt den Weg durch diese Klippen.«

Der Obersteuermann zuckte die Achseln. »Entweder – Oder!« versetzte er. »Wir haben eine Überzahl von sechzig Köpfen an Bord und müssen also folgerichtig in etwa acht Tagen ohne Wasser sein. Befehlen Sie, daß wir weiter segeln, so –«

»Nein, o Himmel nein, das wäre ja noch weit schlimmer. Aber solches Mißgeschick! Die erste Reise als Kapitän und gleich ein Wagnis auf Leben und Tod.«

Der Steuermann schwieg. Was sein Vorgesetzter sagte, war vollkommen richtig, aber die vielen Klagen hätte er sich ersparen können.

»In Gottes Namen denn,« seufzte endlich Mr. Barrow. »Geben Sie die nötigen Befehle, daß wir in die westliche Durchfahrt der Magelhaensstraße hineingelangen. Es wird ja noch gerade früh genug sein.«

»Bis auf eine Stunde, Sir!«

Und der Steuermann betrat erleichterten Herzens das Deck. Er mußte den jugendlichen Kapitän überall da, wo es schnelle Entschlossenheit und praktischen Blick galt, vollständig ins Schlepptau nehmen, das wußte er schon, aber es war ihm immer wieder gleich unangenehm. »Der wird noch schön jammern,« dachte er, »wenn ihm Kindergeschrei in die Ohren klingt, so oft er arbeiten will, und wenn diese zwanzig Weiber in der Kajütte ans Waschen kommen, oder sich untereinander zanken. Na, auch die längste Fahrt hat ein Ende, und das Bewußtsein, sechzig Menschen vom Tode errettet zu haben, ist schon einige Beschwerden wert.«

Er gab der Mannschaft die nötigen Befehle für den veränderten Kurs, und nachdem der Eintritt in die Magelhaensstraße bewerkstelligt worden war, ging es an ein verdoppeltes Arbeiten, um alle die hundert kleinen Schäden der letzten Nacht wieder auszubessern. Das Deck war schmutzig und naß, die schöne weiße Ölfarbe mit den Spuren von hundert Füßen übersäet, die Wanten und Pardunen zum Teil zerrissen, die Türen ausgehängt, die Segel unordentlich verstreut, und die Kombüse, weil fortwährend gekocht worden, in einer heillosen Verwirrung.

Während die jüngere Mannschaft, in den Pferden stehend, oben alle Hände voll zu tun hatte, mußten die älteren Leute an Deck arbeiten, so daß, als sich später Frauen und Kinder zu zeigen begannen, ein buntes Jahrmarktsbild daraus wurde. Es gehörte alle Geduld, alle Ruhe des erfahrenen Seemanns dazu, um hier eine erträgliche Ordnung der Dinge wieder herzustellen.

Wer es weiß, wie beschränkt auf Kauffahrteischiffen der Raum gemessen ist, dem wird eine unerwartete Überzahl von sechzig Köpfen als verhängnisvoll erscheinen, und das war sie auch in der Tat.

Kajütte, Vorderraum, Wandschränke, ja selbst der Gang hinter der Kajütte, jeder Zollbreit Boden war mit altem Segeltuch und Decken belegt, um über vierzig Personen, Frauen und Kindern, als Schlafstelle zu dienen. Das kleine Völkchen ergoß sich jetzt wie ein Bienenschwarm auf das Verdeck, und angstvolle Mütter eilten schreiend nach, mit einem Worte, es war eine neue babylonische Verwirrung hereingebrochen. Zudem sprach die Mannschaft englisch, und die ungeladenen Gäste bestanden sämtlich aus Deutschen, so daß an ein wirkliches Gespräch gar nicht gedacht werden konnte, und daß Robert fast nichts anderes mehr tat als Übersetzen und Befehle vermitteln.

Der Kapitän saß in seiner kleinen Schiffskajütte wie ein gefangener Löwe im Käfig, und so oft eines der Kinder neugierig die Tür öffnete, floh es erschreckt vor der finsteren Miene, welche ihm entgegenblickte. Es war aber auch wirklich zum Haarausreißen, wie Mr. Barrow meinte, man konnte keinen Fuß mehr vor den andern setzen, konnte sein eigenes Wort nicht verstehen und nirgends zu seinem Rechte gelangen.

Zum Glück blieb das Wetter vortrefflich, so daß über das Quarterdeck ein Sonnensegel gezogen und den Frauen befohlen wurde, sich während des Tages dort aufzuhalten. Die Schiffsjungen mußten fortwährend putzen und scheuern, die Kinder blieben auf bestimmte Grenzen angewiesen, und alles ging, nachdem es zur Gewohnheit geworden, leidlich, nur des Steuermanns Stirn umwölkte sich mehr und mehr, je schneller er den Fleischfässern oder den Brotkisten auf den Grund sah.

Was half aber alles Sträuben? Die Decksluken mußten geöffnet und ein Teil der aus trockenem Kabliau bestehenden Ladung verzehrt werden. Alle diese Hungrigen wollten ja leben.

Robert diente als Vermittler, als Adjutant und Dolmetscher. Er schloß während dieser Zeit eine neue und reifere Freundschaft mit dem jungen Auswanderer, den er einst als Knabe gekannt und von dessen Natur die seinige so grundverschieden war. Gottlieb schauderte, so oft er an die Zukunft dachte.

»Das sollen da in den Goldminen lauter Räuber und Totschläger sein,« sagte er einmal. »Ich glaube, sie tragen alle Waffen.«

»Das tut man in ganz Amerika, Freund, und sei es in der volkreichsten Stadt.«

Gottlieb entsetzte sich. »Wie wird mir's ergehen,« seufzte er. »Ich mag gar nicht daran denken. Ja, wenn du bei mir wärst, Robert!«

Unser Freund lachte. »Ich sollte täglich zwölf Stunden lang in der Erde herumwühlen und Goldstaub waschen? Das wäre für meiner Mutter Sohn zu langweilig!«

»O!« seufzte Gottlieb, »langweilig? Das ginge schon an, wenn man nur arbeitet und etwas vor sich bringt. Aber die schlechte Gesellschaft, das Trinken und Raufen, – brr, mir graut davor. Weißt du, ich kann nicht so mit den Leuten fertig werden, wie du. Im Laden ist man höflich und bescheiden, man spricht über dieses oder jenes und kann sich nett sauber halten, – aber da in den Minen soll es ja hergehen wie bei einem Jahrmarkt, wenn die Messer aus den Taschen gezogen werden und einer über den andern stolpert. Denkst du, daß ich mein Glück auf diesem Wege finde, Robert?«

Unser Freund sah die kleine, schwächliche Gestalt seines ehemaligen Schulkameraden, und half sich mit einem: »Nun, warum denn nicht?« über den unangenehmen Gegenstand hinweg. »Gewiß wäre es besser, du hättest einen erfahrenen Freund neben dir, Gottlieb,« setzte er dann hinzu, »aber ich selbst spüre gar keine Lust, der See Lebewohl zu sagen. Will in San Francisco auf einem Hamburger Schiff für Hin- und Herreise heuern, denke ich, so daß vielleicht vier oder acht Tage zum Urlaub nach Pinneberg übrig bleiben. Es ist besser, daß ich bereits gebunden bin, ehe ich dorthin komme, und daß ich mich auch nicht lange aufhalten kann, sonst möchte der Krieg mit meinem Vater nur erst wieder nutzlos beginnen. Genug Geld, um in Pinneberg auf acht Tage im Wirtshaus leben zu können – wenn's not tut – verdiene ich ja während der Heimreise.«

Er seufzte heimlich bei diesem Gedanken. Der Boden brannte ihm, wie man zu sagen pflegt, unter den Füßen, seit er wußte, daß sein alter Vater krank war und vielleicht sterben würde, ohne ihm vorher verziehen zu haben.

Gottlieb wiegte den Kopf. »Da tätest du doch am klügsten, in den Minen ein hübsches kleines Kapital zu sammeln und mit diesem zu den Eltern zurückzukehren,« antwortete er. »Es geht ja schneller, denke ich, als durch die magere Monatsheuer.«

Robert lachte. »Du willst mich ködern, Schelm,« sagte er, »aber das gelingt nicht so leicht. Vor der Hand werde ich mich einstweilen mit an Land schicken lassen, um Wasser einzunehmen. Ich freue mich schon ordentlich auf einen kleinen Spaß mit den Patagoniern.«

»Herr des Himmels, das sind ja Wilde!«

»Natürlich, du friedsame Seele, gerade darum. Möchtest du denn nicht gern einmal so ein Dorf aus Zelten im Naturzustande mit ansehen, Gottlieb.«

»O lieber Himmel, um keinen Preis! Aber du liefst ja dergleichen schon als Knabe nach, Robert. Erinnerst du dich wohl, als einmal im Pinneberger Dorf die Zigeunerbande lagerte?«

»Und ich drei Tage lang die Schule versäumte!« lachte unser Freund. »O diese Hiebe werden in meinem Gedächtnis fortleben, so lange ich lebe. Du warst nicht mit hinauszulocken, weder durch Bitten noch irgend ein anderes Mittel.«

»Nein gewiß nicht. Was sieht man denn auch an schmutzigen, zerlumpten Menschen?«

Robert schüttelte den Kopf. »Du bist eine echte Landratte und ein Stockphilister dazu,« lachte er. »Willst dann also höchstwahrscheinlich nicht mit uns auf die Wasserjagd gehen?«

Gottlieb sah schaudernd zu dem fernen, dunklen Streifen, wo das ersehnte Land mit seinen Quellen und Flüssen lag, hinüber. »Wenn's nicht sein muß, Robert, dann laß mich an Bord bleiben,« versetzte er. »Die Patagonier sind Räuber, haben Pferde und eiserne Waffen.«

»Nun,« rief Robert, »du Hasenfuß, sind wir etwa schlimmer daran?«

»Pferde haben wir doch nicht im Besitz!«

»Um Reißaus zu nehmen, meinst du! – Na, laß es nur gut sein, du kannst in der sicheren Kajütte bleiben. Ich begreife nur nicht, woher du bei dem Untergang eines Schiffes den Mut nahmst, bis zuletzt an Bord auszuharren und den kopflosen Auswanderern einen ruhigen, vernünftigen Widerstand entgegenzusetzen!«

Gottlieb errötete. »Du,« versetzte er, »was gerade notwendig geschehen muß, das kann ich auch und tue es ohne Weigern, aber – nicht gern. Lieber gehe ich meinen Weg in Frieden, so wie früher, als das niedere, alte Haus noch stand und ich von sechs Uhr früh bis zehn Uhr abends hinter dem Ladentische hantierte. Meine Wagschalen waren immer so sauber und Tüten im voraus geklebt auf ein Vierteljahr, – ach, wie gut hatte ich es damals!«

Robert schüttelte den Kopf. »Mein Gott,« dachte er, »mein Gott, warum ist nicht dieser stille, harmlose Freund des Alltagslebens und des täglich wiederkehrenden Einerlei als der Sohn meines Vaters geboren worden, und ich dagegen als der, welcher hinaus mußte in die fremde, verlockende Welt, eben um einer heiligen Pflicht zu genügen? Wie glücklich wären wir dann beide, und wie tief wird der innere Zwiespalt dagegen unter den bestehenden Verhältnissen von beiden stündlich empfunden!«

Er brach die Unterhaltung plötzlich ab. Ihm fiel wieder ein, was Mongo gesagt, da oben in der nordischen Eiswüste unter den Zeltdecken der Lappen. »Daß es der Mensch lerne sich selbst zu überwinden ist der Zweck des Lebens.«

Und er mußte sich eingestehen, daß eigentlich das, wonach die Seele leidenschaftlich verlangt, was alle Wünsche stürmisch begehren, – doch zu leicht ausgeführt wäre, als daß es eine ernste Aufgabe genannt werden könnte.

»Gottlieb und ich wollen einander ergänzen,« dachte er. »Ich glaube, es würde gar nicht schaden, wenn ich ihn auf ein paar Monate in die Minen begleitete. Glückt es mir, mit einem hübschen Vorrat von Goldstaub nach Pinneberg zurückzukehren, so bin ich imstande, ganz als mein eigener Herr aufzutreten, und kann dem Vater zeigen, daß ich auch ohne die Nähnadel immer noch würdig bin, seinen unbescholtenen Namen zu tragen und von ihm Sohn genannt zu werden. Ich will –«

Ein plötzlicher Befehl unterbrach seinen Gedankengang. Die grünen Ufer der Küste waren schneller, als es Robert für möglich gehalten, zu ganzen Wäldern und Gebirgsketten herangewachsen; sie lagen jetzt so nahe, daß für ein demnächstiges Anlaufen schon Vorbereitungen getroffen werden mußten.

Wie schlug sein Herz, als er das Ufer sah. Weiße Kiesel, im Sonnenschein glänzend, dichte Buchenwälder und dazu ein reicher, mannigfaltiger Blumenschmuck, alles erinnerte ihn mehr als jeder andere Strand, den er bis jetzt betreten, an die teure deutsche Heimat. Wie stolz und schön strebten die festen Buchenstämme empor in das Blau des Morgens, wie rauschte es so bekannt und so traut in den Laubkronen – –

Und dazwischen blühten Fuchsien von allen Farben, allen Größen und Schattierungen. Nicht wie bei uns in Deutschland als Sträucher und Zwergpflanzen, sondern als schlanke Bäume, auf deren üppigen Zweigen sich Singvögel wiegten, und die rings mit Tausenden und Abertausenden ihrer glockenförmigen Blüten übersäet waren. Von reinstem Weiß bis zum tiefsten Purpur fanden sich alle verschiedenen Arten vertreten, während der Moosboden des Ufers mit breitblätterigen Schlingpflanzen bedeckt und die ersten Höhenzüge mit einem sanften Grün überhaucht waren.

Auf den Abhängen weidete eine Herde von Guanacos, während mehrere kleine Pekaris die sandigen Stellen der Uferbank aufgewühlt hatten und im Sonnenschein ahnungslos schlummerten.

Alles zusammen bot die Insel mit ihren lebenden und unbelebten Geschöpfen das farbenreiche Bild eines echt ländlichen Aufenthaltes von überwiegend nordischem Charakter. Freilich flatterten zwischen den Gebüschen einige kleine Papageien, aber im allgemeinen fehlte doch der schmeichelnde Reiz des Südens, den Robert durchaus nicht liebte.

Die Buchenkronen, die bekannten, lieben, unter deren Schatten er groß geworden, die grünen wallenden Blatter berauschten sein Herz. Weder auf Kuba noch in Norwegen hatte er diesen Baum angetroffen, war er so an Deutschland gemahnt worden, wie eben hier. Es ging ihm viel zu langsam, bis endlich die Boote auf dem Wasser lagen.

Keiner von der ganzen Besatzung des Schiffes war jemals an dieser Stelle gewesen, keiner wußte, ob und wo hier Quellen zu finden waren, aber an ein längeres Zögern konnte um so weniger gedacht werden, als sich der Wassermangel bereits in den letzten Tagen sehr empfindlich bemerkbar gemacht hatte. Der jugendliche Kapitän gönnte sich weder am Tage noch in der Nacht eine längere Ruhe, sondern spähte beständig bald auf der Karte, bald auf dem Wasser nach Klippen, an denen sein Schiff zerschellen konnte, er fürchtete seit dem Abenteuer mit dem sinkenden Fahrzeug alles mögliche Böse und dachte jetzt sogleich an einen Überfall der Patagonier. »Diese Stamme führen beständig untereinander Krieg,« sagte er seufzend, »sie leben erklärterweise vom Raube, also muß mit der größten Sorgfalt verfahren werden. Zwanzig Mann sollen sich bis an die Zähne bewaffnen und unter jeder Bedingung zusammenhalten, so daß keine Streifpartien in einen Hinterhalt gelockt werden können. Bei der ersten Quelle wird Halt gemacht, und der ganze Ausflug so schnell als nur möglich beendet. Die Schiffsjungen bleiben an Bord.«

Als alle diese Befehle vollzogen worden waren, trat er noch einmal an das Fallreep. »Leute, wagt nichts,« rief er. »Scheint hier kein Wasser zu sein, so findet sich's auf einer andern Insel. Es sind deren leider nur allzuviele vorhanden.«

Der Untersteuermann als Führer der kleinen Truppe antwortete mit einem » All right, Sir,« (alles in Ordnung, Herr!) und dann stießen die Boote ab. Robert sah zu seinem größten Erstaunen, daß Gottlieb mit hineingesprungen war. »Nun,« rief er, »wozu das, Freund? Bleib doch auf dem Schiff, da du an solchen Dingen keinen Gefallen findest.«

Der junge Auswanderer schüttelte den Kopf. »Sprich nicht so laut, Robert,« flüsterte er, errötend wie ein Mädchen. »Alle Leute sehen mich an. Ich will mit dir gehen, weil du mich sonst für feige halten würdest, und das bin ich doch nicht. Wenn es not tut, so stelle ich meinen Mann.«

Unser Freund handhabte kräftig das Ruder. Aus seinen blauen Augen und dem ganzen Ausdruck des sonnenbraunen Gesichtes lachte die kecke Zuversicht der Jugend. »Du bist ein guter Kamerad, Gottlieb,« rief er, »ich will dir deine Treue vergelten, darauf darfst du bauen. Schau hin, sieht das nicht ganz so aus, wie die Inselgruppe und die Gehölze hinter unserem Pinneberger Mühlenteich?«

»Wahrhaftig,« antwortete Gottlieb, »ich dachte in diesem Augenblicke das gleiche.«

Robert hatte sich von seinem Sitz erhoben und zeigte jetzt mit dem Ruder auf die Waldung vor dem Boote. »Weißt du's noch,« rief er jubelnd, »wie wir bei unsern Kriegsfahrten die größte Insel immer Patagonien nannten, und des Müllers Kühe die Patagonier – den schwarzen Stier aber den Kaziken? – Brombeeren, Himbeeren, hauptsächlich Nüsse, das alles war die Beute, und der Ruheplatz unter den Buchen, wo wir regelmäßig ein Feuer anmachten, unser Biwak. Die Gefangenen wurden auf einer ganz kleinen kahlen Insel ausgesetzt, und oft trotz ihrer Bitten am Abend nicht wieder an Bord genommen, wobei –«

»Dann die ganze Geschichte an den Tag kam!« schaltete Gottlieb ein. »Das unbefugte Betreten des fremden Grund und Bodens, das Feuer, die kleine Rache an einem Kameraden, alles wurde dem Rektor hinterbracht und trug seine sauren Früchte.«

»Hast du nicht gesehen!« lachte Robert. »Hätte ich so viele Taler, Gottlieb, wie ich Hiebe bekommen habe, – du könntest dein Haus wieder aufbauen und deine Tüten in Frieden weiterkleben. Aber schadet nicht, die wildesten Jungen werden die tüchtigsten Männer.«

Während dieser kleinen Erinnerungsfeier der beiden Schulkameraden hatte das Boot den Strand erreicht, und Robert sprang an allen vorüber in hohem Bogen auf die Kiesel, über deren glänzendes Weiß ein Schaumwasser dahinbrauste. Er warf die Mütze in die Luft und fing sie wieder auf, unbekümmert um alle Gefahren der Welt.

»Schnell!« rief er. »Der Steuermann ist unser General und wir sind die Landungstruppen. Komm heraus, Kazike von Patagonien, wenn du den Mut hast!«

Das war aber weislich in deutscher Sprache ausgerufen und niemand verstand es, als nur Gottlieb allein. »So sei doch ruhig,« mahnte er, »das sind ja andere Gegner, als die harmlosen Kühe, welche du, damals in die Flucht schlugst.«

»Oho, der gehörnte Kazike war wahrhaftig nicht zu verachten. Er hat einmal mich mit noch drei andern über sein ganzes Gebiet gehetzt, bis wir mehr tot als lebendig in unser Boot plumpsten, und selbst dahin wollte er uns noch nachlaufen. Ich sage dir, der Anblick war urkomisch. Bis an die Brust im Wasser stehend, halb erschreckt, pustend und zornig, das dumme Gesicht uns entgegengestreckt, so brüllte er aus Leibeskräften, während wir ihn verhöhnten, mit dem Ruder stießen und immer nahe vor ihm umherfuhren, bis er endlich Reißaus nahm. Ich muß heute noch lachen, wenn ich daran denke.«

Gottlieb schüttelte den Kopf. » Wie kann man aber auch einen Stier necken!« sagte er. »Du versuchst doch wahrhaftig das Unglaubliche.«

»Ich versuche alles und fürchte nichts. So, jetzt nimm diesen Sarras, da du doch mit dem Gewehr nicht umgehen könntest.«

Bild Der ganze Zug setzte sich in Bewegung. Jeder Mann trug Waffen und außerdem einen Eimer – Pütze genannt – mit der Inschrift: Stern von San Francisco. Ohne ein lautes Wort, ein überflüssiges Geräusch, und in dichtgeschlossener Reihe drangen die Seeleute vor, indes ihnen vom Bord des Schiffes der Kapitän durchs Fernrohr nachblickte, und unruhig wie ein Tiger im Käfig an der Schanzkleidung auf und ab ging.

»Wenn keiner zurückkommt, Steuermann, was beginnen wir?« »Noch ist's ja nicht so schlimm, Sir.«

Dann verstummte auch an Bord das Gespräch und ebenso still wie im Walde die Matrosen, gingen dort die Zurückgebliebenen nebeneinander her. Alle fünf Minuten sah der gefolterte Kapitän auf die Uhr.

Robert und Gottlieb marschierten Seite an Seite, beide entzückt von dem Schatten der Buchen und dem Samt des Rasens, auf welchen sie traten. Seit Jahr und Tag hatte unser Freund keine grüne Landschaft mehr gesehen, keine Blume, keinen Singvogel in den Zweigen. Das alles war ja in Norwegen nur höchst spärlich und vereinzelt vorgekommen, hatte keine so rechte Art gehabt und zeigte fortwährend die Nähe des ewigen Eises. Hier aber gedieh und blühte es auf jedem Zollbreit Bodens, hier duftete es wie deutscher Sommer, und sang und jubilierte zwischen allen Blättern.

Nur von einer Quelle oder einem Fluß zeigte sich nichts.

»Ob wir uns doch in mehrere Abteilungen teilen?« meinte der Steuermann. »Möglicherweise zieht sich dieser Wald Gott weiß wie weit fort, ohne in ein Tal auszumünden. So zwischen den Stämmen können wir auf keine Quellen hoffen.«

»Aber der Alte hat es verboten!« meinte einer.

»Der Alte ist ein Hasenfuß, sage ich euch. Haben wir irgend ein Lärminstrument, eine Pfeife oder dergleichen bei uns?«

Es meldeten sich mehrere, die schon aus Vorsicht eine kleine Zinkflöte mit schrillem, durchdringendem Tone zu sich gesteckt hatten, und dann ließ der Steuermann regelrecht abstimmen, wer für Teilung sei, und wer nicht. »Bedenkt, was ihr tut, Leute,« sagte er, »auf euch selbst fallen die Folgen zurück. Der Kapitän hat uns, da wir in diesem Augenblick nicht auf seinem Schiffe stehen, auch keine Gesetze zu geben; wir sind es, die ihre Haut zu Markt tragen, und wir selbst müssen über unser Handeln entscheiden. Also wie ist es, teilen oder zusammenhalten?«

»Teilen!« klang fast von Mund zu Mund der Bescheid der Matrosen. »Was sollte uns denn auch weiter begegnen? Die Kerle hier herum sind keine Menschenfresser.«

Und dann wurden je fünf Mann mit einer Alarmflöte versehen, man verabredete, daß auf das erste Zeichen alle dem bedrohten Punkte zueilen sollten und daß man sich an dieser Stelle wiedertreffen wolle. Wer Wasser entdeckt hatte, mußte sogleich ein Zeichen geben.

Die vier kleinen Trupps verteilten sich nach allen Himmelsgegenden, und rings umher wurde es stille wie zuvor. In Roberts Zug befand sich Gottlieb als Freiwilliger, daher waren hier im ganzen ihrer sechs Männer versammelt. Der Weg, welchen sie verfolgten, führte augenscheinlich in eine Niederung, da er wenig Baumwuchs zeigte und zuweilen plötzlich tief abfiel, aber dennoch hörte oder sah man keinerlei Gewässer.

Über eine halbe Stunde lang mochten die Matrosen vorwärts gegangen sein, als durch die stille Morgenluft ein ganz unerwarteter Ton zu ihren Ohren drang. In nächster Nahe wieherte ein Pferd. – Im Nu hemmten alle ihre Schritte.

»Es wäre doch hübsch, wenn hier hinter den Bäumen ein Dorf läge!« raunte einer der Seeleute. »Dann sehen wir unser Schiff nicht wieder.«

Robert winkte den übrigen. »Wir müssen uns der Pferde bemächtigen!« flüsterte er. »Haben wir diese und unsere Schußwaffen, so mag der Stamm sein Bestes tun, – er wird nicht verhindern können, daß wir die Sieger bleiben.«

»Wahrhaftig,« meinte der Steuermann, »das ist ein guter Gedanke. Aber wir kommen nur nicht ungesehen so weit heran, um die Tiere ergreifen zu können.«

»Laßt mich als Kundschafter den Weg suchen!« drängte Robert. »Gebt mir die Pfeife, damit ich euch im Notfall benachrichtigen kann und bleibt in der Nähe. Letzteres müßt ihr ohnehin, denn da wo Pferde sind, wohnen gewiß Menschen, und ebenso sicher ist bei den Hütten derselben auch Wasser anzutreffen.«

Die Schlußfolgerung erschien den fünf Männern als so vollkommen richtig, daß niemand dagegen eine Einsprache erhob, nur Gottlieb berührte Roberts Arm und flüsterte halblaut: »Laß mich mit dir gehen, ich bitte dich.«

»Nein, auf keinen Fall. Du bleibst bei den übrigen, hörst du, Gottlieb. Mir macht die Geschichte großen Spaß, – dir wär's ein Opfer.«

Gottlieb schüttelte den Kopf. »So laß mich doch, Robert. Du hast mir das Leben gerettet, also will ich für dich nicht weniger tun.«

Auch Mongo drängte sich an Roberts Seite. »Vier Augen sehen heller als zwei, du junger Spitzbube, daher nimm mich mit dir.«

»Nichts da!« entschied unser Freund. »Setzt euch ins Moos und verzehrt ein Frühstück, damit ihr bei Kräften bleibt. Lebt wohl!«

Seine schlanke Gestalt verschwand zwischen den Bäumen, und die Zurückgebliebenen konnten in der Tat nichts anderes vornehmen, als was er ihnen geraten, eine Rast auf dem schwellenden Moos. Nur zu essen vermochte niemand, und als die fünf eine Flasche mit Rum von Hand zu Hand gehen ließen, da bemerkten sie, daß Gottlieb fehlte. Der junge Auswanderer war heimlich davongeschlichen, ohne daß ihn die anderen beobachtet hätten.

Mongo schmunzelte wohlgefällig. »Er wird sich schon durchschlagen,« sagte er, von Robert sprechend, »mir ist um ihn nicht bange. Habe den Feuerkopf lieb, als wäre er mein eigener Sohn, das könnt ihr glauben, Leute, aber doch laufe ich ihm nicht nach. Er ist vorwitzig, hört auf keinen vernünftigen Rat und hält allemal seine eigene Meinung für die richtige, – das muß er sich noch abgewöhnen. Laßt ihn nur tüchtig in die Klemme geraten.«

Während dieser Worte horchte der alte Mann ganz angestrengt und vermochte keinen Tropfen Rum über die Lippen zu bringen. Immer war es ihm, als höre er in der Ferne Roberts Stimme.

Dieser kroch indessen wie eine Schlange weiter. Noch zeigte sich vor seinen Blicken nichts als das Unterholz und hier oder da eine freie Fläche, dann jedoch wurden letztere häufiger, bis endlich ein tiefes Tal sich offen ausbreitete und mehr als zehn weidende Pferde auf der Ebene erschienen. Zur Seite des grünen saftigen Rasens lagen aber auch etwa zwölf bis zwanzig Zelte aus Fellen, und zahlreiche Kinder jeden Alters spielten an den Ufern eines silbernen Flüßchens, das talwärts über Kiesel und weißen Sand bis zum Meeresufer hinablief.

Robert sah die blaue Fläche der See zwischen den Baumstämmen schimmern; das Dorf lag also unmittelbar am Strande, und das Wasser wäre von der entgegengesetzten Seite her mit leichter Mühe zu erreichen gewesen, während es kaum möglich schien, jetzt bis an den Fluß zu gelangen. Ob er wagen durfte auf den Rasen zu treten und die Pferde vor den Augen ihrer Eigentümer zu entführen?

Zaum und Lederzeug schien hier ein unbekannter Luxus, die Tiere liefen gänzlich fessellos umher, aber sie schienen sehr zahm, da sie den Lockrufen der kleinen, rotbraunen Kinder wie Hunde gehorchten. Robert versuchte ein ähnliches Mittel, aber ohne Erfolg.

Hätte ich doch einen Lasso! dachte er ärgerlich. Und wieder rief er leise, ohne indessen einen günstigeren Erfolg zu erzielen; die Tiere weideten in ungestörter Ruhe fort, die Sonne schien hell vom Himmel herab und die kleinen Kinder spielten ganz wie ihre weißen Altersgenossen mit Kieseln und Sand.

Aber etwas mußte geschehen. Die Zeit verging, die Kameraden warteten, der Kapitän war gewiß schon ganz außer sich, also alles drängte zur Eile.

Robert hielt noch einmal scharfe Umschau. Aus den oberen, spitzzulaufenden Gipfeln der Hütten drang stellenweise ein leichter bläulicher Rauch hervor, auch einige Haustiere, wie Schweine und Hunde, liefen umher, aber kein erwachsener Mensch ließ sich blicken. Vielleicht war der Stamm auf einem Kriegszuge abwesend, und nur ein paar alte Frauen beaufsichtigten die Kinder, – vielleicht glückte es, mit einem geschickten Griff die Pferde zu entführen, und dann hatten die Seeleute das Spiel gewonnen.

Gedacht, getan. Robert trat hinaus auf das freie Feld und näherte sich dem ersten Tier, das ihn ruhig herankommen ließ. Sein Herz schlug höher, als er eine mitgebrachte Leine aus der Tasche hervorzog und sie um den Hals des Pferdes legte. Zu zwei und zwei konnte er die Tiere seinen wartenden Kameraden überliefern und auf diese Weise die Wilden waffenlos machen.

Da tönte aus ziemlicher Entfernung durch die Waldesstille das verabredete Zeichen. Robert horchte. Es waren drei kurze gellende Pfiffe, also Wasser gefunden und der Zweck der ganzen Expedition erreicht. Höchstwahrscheinlich hatten die Kameraden denselben Fluß, nur etwas weiter hinauf, entdeckt und schöpften jetzt den nötigen Bedarf, während sie für die mühevolle Arbeit von Augenblick zu Augenblick den Beistand der übrigen erwarteten.

Von zwei Seiten schallte Antwort, aber Robert schwieg weislich. Der laute Ton hätte ja ganz gewiß alle etwa vorhandene Wilde aus ihren Schlupfwinkeln hervorgelockt. Er schwang sich auf eines der Pferde und wollte eben davonsprengen, als ein lauter, mehrstimmiger Ausruf zu ihm emporschallte. Sich umdrehen und unten zwischen den Hütten eine Anzahl von zehn bis zwölf Patagoniern erblicken, war die Sache eines Augenblicks.

Zugleich wurde das Pferd bei seinem Namen gerufen, machte eine plötzliche Schwenkung und eilte mit dem erschrockenen jungen Menschen geradeswegs in das Dorf hinab. Robert wäre schon nach wenigen Minuten inmitten der Wilden angelangt und von diesen unfehlbar gefangen worden, wenn ihn nicht seine ruhige Geistesgegenwart bewogen hätte, sich noch rechtzeitig ins Gras fallen zu lassen. Mit langen Sätzen sprang er in das Gebüsch hinein.

Die Wilden folgten ihm, zehn an der Zahl. Ihr lautes Kriegsgeschrei mischte sich mit den Tönen der Pfeife und mit den antwortenden Stimmen der Matrosen. Wie wenn der Marder im Taubenschlag erscheint, so geriet binnen wenigen Minuten die ganze stille, friedliche Umgebung in Aufruhr. Von fernher schallten die Pfeifen, Mongo rief mit lautem, angstvollem Tone immerwährend Roberts Namen, die Pferde galoppierten stampfend und schnaubend auf dem Rasen, die Hunde bellten und die Wilden heulten.

Eine Art von Wurfspieß oder Lanze, plump aus Eisen hergestellt, flog haarscharf an Roberts Kopf vorüber, – wenigstens zwanzig Wilde hatten sich nach und nach den ersten Verfolgern zugesellt, und diese ganze heulende und schreiende Menge wälzte sich wie ein Schwarm höllischer Geister dem fliehenden jungen Matrosen nach. Mit Mänteln von Pferdeleder und Schuhen aus der abgestreiften Haut des Pferdefußes, an der noch die Hufe unverändert geblieben, mit greller Malerei im Gesicht und sonderbar heraufgebundenem, mit Federn durchflochtenem Schopf, sahen sie aus wie die leibhaftigen Teufel, während ihr Kriegsgeschrei auch den Beherztesten hätte mit Entsetzen erfüllen müssen.

Roberts Pfeife entsandte in diesen Tumult hinein ihre schrillen Klänge, die vier Matrosen schossen aufs Geratewohl in die Luft, um womöglich den Feind zu erschrecken, und von fernher gaben die Kameraden das Antwortzeichen, kurz, es war ein Lärm, als solle die alte Erde aus den Fugen gehen.

Allen voran sprang Mongo. Im Laufen zielte er und als der Schuß verhallt war, lag einer der Wilden in seinem Blute am Boden. Die übrigen stutzten doch unwillkürlich. Vielleicht erfaßte sie angesichts der halb unbekannten Feuerwaffe ein heimlicher Schreck, vielleicht hatten sie gehofft, nur mit einem Gegner kämpfen zu müssen, und wurden irre, als jetzt die Matrosen von allen Seiten dem Kampfplatze zueilten.

Schuß auf Schuß krachte. Mehr als ein Wilder fiel, mehr als ein Weißer wurde getroffen und immer heftiger kämpften die erbitterten Gegner. Die Patagonier hatten den ersten lähmenden Schreck überwunden, sie schlossen sich fester aneinander, drangen in Massen gegen ihre Widersacher vor und schienen durch den vereinten starken Anprall fast das Übergewicht zu erlangen. Ihre stumpfen, schweren Waffen schlugen empfindliche Wunden, ihre bis zur Höhe von fünfzig Köpfen angewachsene Zahl brachte die Matrosen zum augenblicklichen Weichen:

»Wir müssen fliehen,« rief mit lauter Stimme der Steuermann. »Zieht euch mit vorgehaltenem Gewehr bis an den Strand zurück, Leute, diese Wilden haben keine Kähne.«

Aber der Befehl verhallte ungehört, und schon in der nächsten Viertelstunde wären die Patagonier Herren der Lage gewesen, wenn nicht ein unvorhergesehener Zwischenfall die ganze Sachlage urplötzlich verändert hätte.

Seitwärts vom Kampfplatz ertönte ein gellendes Pfeifen und zugleich das Stampfen einer größeren Anzahl von Pferden. Alle Wilden horchten und hielten im Angriff inne, denn wirklich erschien auch schon in der nächsten Minute das galoppierende, jagende Geschwader von sämtlichen aneinander gekoppelten Pferden, deren erstes ein Reiter am Zaum hielt, während er selbst ein lediges Tier ritt.

Brausend und lärmend verschwand der Zug ebenso schnell wie er gekommen, aber schon der bloße flüchtige Anblick hatte die Wilden von dem Kampf mit den Weißen vollständig abgelenkt. Ihr einziger Reichtum, ihre Tiere, war in Gefahr und dafür ließen sie alles im Stich.

Mit gellendem Geschrei dem einzelnen Reiter und seiner Beute folgend, setzten sie den Pferden in das Unterholz nach, so daß sich unsere Freunde plötzlich allein sahen. Nur der Schwerverwundete lag ächzend auf dem Gras, und mehrere andere hinkten mit zerquetschten oder zerschossenen Gliedern schwerfällig davon.

»Schnell,« rief der Steuermann. »Um Gottes willen, schnell. In fünf Minuten können die roten Teufel zurück sein.«

»Wer war der kecke Reiter?« fragte einer, indes die Schar eilfertig zum Strande zurücklief. »Er hat uns das Leben gerettet, aber höchst wahrscheinlich wird er dafür das seinige hingeben müssen. Wir dürfen ihn nicht im Stich lassen!«

Robert überflog prüfenden Blickes die Reihen. Was er schon während jenes flüchtigen Augenblicks zu sehen geglaubt, das bestätigte sich ihm jetzt. Es war Gottlieb, welcher zu der plötzlichen List gegriffen und der nun den Händen seiner erbarmungslosen Feinde überliefert blieb. Robert stand auf dem Punkt, umzukehren und ihn aufzusuchen.

»Mongo!« rief er, »geh mit mir. Ich kann den armen Burschen nicht umkommen lassen, ohne das Meinige für ihn zu tun.«

Der Neger schüttelte den Kopf. »Kommt er nicht durch seine Schlauheit davon, so ist für ihn keine Rettung möglich,« sagte er. »Wir alle hätten ins Gras beißen müssen – Aha, der Kapitän hat schon Angst, wie ich höre!«

Ein Kanonenschuß donnerte vom Wasser herüber und die Mannschaft antwortete durch lautes »Schiff ahoi« – nur Robert folgte mit äußerstem Widerstreben. Den armen Gottlieb so zu verlassen, schien ihm Feigheit, und doch mußte er die Unmöglichkeit ihm zu helfen selbst einsehen. Seufzend schüttelte er den Kopf.

Jetzt war der Strand erreicht, und die bei den Booten zurückgebliebenen Leute jubelten laut, als sie ihre verloren geglaubten Kameraden wiedersahen. An Bord ging noch immer der Kapitän wie ein Verzweifelter auf und ab.

Dieselbe Stille von vorhin lag wieder über der ganzen Umgebung. Man konnte meinen, daß das alles ein Traum gewesen, eine plötzliche schreckliche Erscheinung, so schnell war es gekommen und so schnell vorübergegangen. Die Matrosen fragten und erkundigten sich erst jetzt untereinander nach dem eigentlichen Verlaufe des ganzen Unternehmens.

Bei Roberts Hilferuf hatten alle das gefundene Wasser sofort im Stich gelassen und waren zu seiner Unterstützung so schnell als möglich dem Schalle nachgeeilt. Daraus folgte denn jetzt freilich die schlimme Tatsache, daß alle Mühe umsonst und die ganze Fahrt vergeblich gewesen. Niemand hatte auch nur einen Tropfen des ersehnten Stoffes gerettet.

Robert winkte den übrigen. »Laßt das alles gut sein,« sagte er traurig. »Ich habe die Stelle entdeckt, wo wir ganz bequem mit dem Boote so viel Wasser einnehmen können, als nötig ist, aber – das gibt uns nur den armen Gottlieb nicht zurück! – Wo er jetzt sein mag? Vielleicht gemartert und mit teuflischer Bosheit von den Rothäuten zwischen Tod und Leben erhalten!«

Rechts von ihm teilte sich in diesem Augenblick das dichte Gebüsch. Ein Kopf kam zum Vorschein, ein verlegen errötendes Gesicht blickt durch die Zweige und der ganze, schüchterne Gottlieb schlüpfte heraus, völlig unversehrt, aber mit zerrissenem Rock und ohne Mütze.

»Ach,« sagte er, »ihr seid alle da. Das ist wirklich ein Glück.«

Robert glaubte kaum seinen Augen trauen zu dürfen. »Gottlieb!« rief er, »Gottlieb, wie war das möglich? Wie bist du den Wilden entkommen?«

Der bescheidene junge Mensch flüchtete sich, um nicht so angestarrt zu werden, an die Seite seines ehemaligen Schulkameraden und drängte diesen zum schleunigsten Aufbruch. »Laß uns nur eilen, Robert,« sagte er, »das sind wahre Menschenfresser, diese Kupfergesichter.«

»Aber Gottlieb, Gottlieb, wie bist du ihnen entronnen?«

Der junge Pinneberger winkte mit der Hand. »Mach kein solches Aufhebens davon, Robert,« sagte er. »Ich ließ mich, als der ganze Schwarm vom Kampfplatz eine tüchtige Strecke weit fortgelockt war, einfach zu Boden gleiten und verbarg mich im dichten Gebüsch, das ist ja gar nicht der Rede wert – jeder andere hätte es auch getan.«

Robert drückte gerührt die Hand seines anspruchslosen Freundes. Dann übersetzte er das, was Gottlieb berichtet, den Matrosen, und diese gaben ihr Wohlgefallen ebensosehr durch kräftige Schläge auf die Schulter ihres Retters, als durch laute Ausrufungen kund. »Frage ihn doch, wie er eigentlich zu dem guten Gedanken kam, Bob!« drängte der Steuermann.

Robert tat es, und Gottlieb lächelte verlegen. »Ja, siehst du,« antwortete er, »etwas mußte ich doch auch leisten. So einer zum Zuschlagen und Dreinfahren bin ich nicht, also schien es mir das beste, mit List die Feinde von uns fernzuhalten. Ich koppelte die Pferde, nahm sie an die Leine und ritt im sausenden Galopp an euch vorüber, weil ich gleich dachte, daß die Kupfergesichter zunächst ihrem Eigentum nachjagen würden. Das übrige weißt du.«

Robert übersetzte auch diese bescheidenen Worte, und nach erneutem lebhaftem Danke, dem sich Gottlieb errötend zu entziehen suchte, wurde endlich die Einschiffung bewerkstelligt. Der Kapitän raufte sich fast die Haare aus, als er sah, daß mehrere Matrosen für längere Zeit arbeitsunfähig geworden waren. Einer hatte sogar den Arm gebrochen, ein anderer hinkte schwer und der dritte hatte eine tiefe Wunde an der Schulter.

Mr. Barrow war so außer sich, daß der Obersteuermann zum zweitenmal als Alleinherrscher ihn vertreten mußte. Der »Stern von San Francisco« wurde gedreht und an der andern Seite der Insel dem Strande so nahe gebracht, daß seine Kanone bequem die schmale Flußmündung bestreichen konnte. Ein Boot mit sechs Mann fuhr soweit hinauf, als nötig schien, um das Wasser unvermischt zu erhalten, dann füllte man die Tonnen, ohne einen Wilden zu Gesicht zu bekommen. Robert und Gottlieb sahen noch einmal das Dorf von der anderen Seite, ehe die Reise fortgesetzt wurde.

Du,« sagte ersterer, »es wäre dir ja lieb, mich in die Minen mitzunehmen, nicht wahr? – Gut, hier hast du mein Versprechen. Wir wollen wie Brüder zusammenhalten.«

Gottliebs Freude war so groß, daß es ihm nicht gelang, sie zu verheimlichen, obwohl er das Opfer seines Freundes aus Bescheidenheit abzulehnen wünschte. Robert ließ ihn gar nicht erst zu Worte kommen. »Du bist ein guter Kerl,« sagte er, »kannst dich selbst verleugnen um anderer Menschen willen, das macht dich mir so lieb, weil's meine eigene schwache Seite ist.«

»Ach, du närrischer Robert!« –

Mehr wurde über den Gegenstand nicht gesprochen, aber die Sache selbst war fest beschlossen. Die Matrosen schafften so viel Wasser an Bord, als irgend untergebracht werden konnte, und dann ging die Reise weiter. Als das Schiff die vordere, vorspringende Ecke der Insel umsegelte, sahen die Matrosen hinter allen Gebüschen die roten Gesichter der Wilden. Wenigstens ihrer hundert grimmige, kriegerische Gestalten ballten in ohnmächtiger Wut gegen das stolze Fahrzeug die Fäuste, während ein Hagel von Steinwürfen durch das Takelwerk sauste.

»Paßt auf Kinder,« rief der Steuermann, »jetzt sollen es die Halunken haben!«

Er ließ das Ruder so drehen, daß die Kanone den gähnenden Schlund für Augenblicke gegen das Ufer kehrte. Dann krachte der Schuß donnernd und widerhallend durch die stille Morgenluft, natürlich nur blind, aber doch den Wilden zur heilsamen Warnung.

Der Erfolg war so komisch, daß die ganze Schiffsbesatzung mit Einschluß des ängstlichen Kapitäns in ein schallendes Gelächter ausbrach. Am Lande lagen die Rothäute, als habe der Pulverdampf über fünfzig Köpfe zugleich abgemäht, flach und ihrer ganzen Länge nach auf dem Erdboden. Einige verbargen die Gesichter im Sande, so daß der Schopf mit Federn und Schnüren im Wind flatterte, andere lagen auf dem Rücken und wagten nicht, sich umzudrehen.

»Noch eins!« rief belustigt der Steuermann, »noch eins!«

Und wieder krachte der Schuß. Halb schnellten die liegenden Gestalten vom Boden empor, wie im lebhaften Wunsche, zu fliehen, aber das war nur ein leichter Ruck. Die Todesangst hielt alle an ihre Plätze gebannt.

Der Kapitän hatte unterdessen die Verletzten in ärztliche Behandlung genommen, und das Schiff steuerte seinen früheren Kurs weiter. So lange die Matrosen das Ufer überblicken konnten, sahen sie die entsetzten Wilden regungslos wie Leichen daliegen.

»Ganz wie der Pinneberger Stier!« lachte Robert. »Nur daß dieser mit gesenktem Kopfe davonsprengte, während die Rothäute sich mit dem Umfallen begnügen. Wären nicht die armen Kerle verwundet worden, so könnte ich die ganze Geschichte einen guten Spaß nennen!«

»Von dem wir aber doch keine Fortsetzung brauchen,« schaltete der Steuermann ein. »Durch die Magelhaensstraße zu reisen, ist allemal der bitterste Ernst.«

»Sind Sie bereits früher glücklich hindurch gelangt, Mr. Thompson?« fragte Robert.

»Einmal schon, und noch dazu mit Passagieren. Vor etwa zwölf Jahren wanderte ja alles in die Goldminen, um dort das Glück zu suchen.«

Robert winkte heimlich seinem Schulkameraden. »Und doch wohl auch häufig zu finden, Sir, nicht wahr?« fragte er.

»Häufig? – Das eben nicht, mein Junge. Wem ein Gewinn in den Schoß fällt, der pflegt ihn eben so schnell wieder zu vergeuden und noch obendrein auf das gute Glück hin Schulden zu machen. Die ›Digger‹ sind ein leichtlebiges Völkchen.«

Robert lächelte. Er wußte, daß er es verstand, mit seinem Eigentum sparsam und ordentlich umzugehen, und daß er daher zu den wenigen gehören würde, die tatsächlich imstande sind, in den Minen ihr Glück zu machen. »Was gehört eigentlich zur Ausrüstung eines Goldsuchers?« fragte er den Steuermann, dessen Freundlichkeit es gern gestattete, mit ihm zu passender Zeit ein paar überflüssige Worte zu sprechen. »Ist die Geschichte sehr teuer?«

Der Steuermann zuckte die Achseln. »Das kommt darauf an, Bob, oder vielmehr, es geht mit dieser Sache so, wie mit jedem Geschäft, das man anfängt. Je mehr einer hineinstecken kann, desto mehr kommt auch wieder heraus. Also wer Pferd und Karre besitzt, eine entferntere Stelle aufsuchen will und die Sache im großen betreibt, der hat mehr Aussicht für sich, als ein anderer armer Teufel, der sich nur mit Spaten und Hacke daran begibt. Es sind freilich auch solche schon zu Vermögen gekommen, aber wie ich sagte, sie werfen am Sonntag wieder weg, was die mühevolle Arbeit der Woche eintrug.«

Robert und Gottlieb sahen einander verstohlen an, als wollten sie sagen: das passiert uns gewiß nicht! – Dann aber fragte der erstere weiter und lockte aus dem erfahrenen Steuermann so ziemlich alles heraus, was ihm zu wissen nötig war. Die Hauptfrage war freilich die: »Kann ein fleißiger, sparsamer Mann als Goldsucher sein Brot mit ziemlicher Sicherheit zu finden hoffen?«

Der Steuermann nickte. »Mit vollkommener sogar. In den Goldstädten wird mehr Staub auf ebener Erde von den Wäschern verloren, als hinreichen würde, um einen vernünftigen Menschen zu ernähren. Wer täglich seine zehn bis zwölf Stunden arbeiten will, der kann sagen, daß er es bei einigem Glück zum wohlhabenden Mann bringen wird, obgleich vielleicht kaum unter einigen Tausenden jedesmal wirklich einer das erträumte Vermögen findet, welches ihn in den Stand setzt, nach kurzer Mühe als reicher Mann in den Schoß der Zivilisation zurückzukehren. Es gibt nirgends im Leben so viele Wechselfälle, als gerade in den Minenstädten.«

Robert übersetzte das alles seinem Freunde, der sich zwar während des kurzen Beisammenseins schon so viel englisch angeeignet hatte, daß er einigermaßen verstand, was gesprochen wurde, dem aber doch sehr dringend daran lag, gerade hier vollständig auf den Grund zu sehen. Er fand die erhaltene Auskunft äußerst befriedigend und hoffte in seiner bescheidenen Auffassung aller Dinge, daß es ihm doch vielleicht schon bald gelingen werde, monatlich sechzehn bis zwanzig Dollar nach Pinneberg zu senden. »Davon können die Eltern schon leben,« sagte er. »Sie haben ja auch noch etwas Land und ein paar hundert Taler in der Sparkasse.«

Robert sah ihn voll Erstaunen an. »Aber dabei wirst du nie ein kleines Vermögen sammeln, Gottlieb,« versetzte er.

»Wenn ich nicht mehr zu erübrigen vermag, als für meine alten Eltern erforderlich ist, – nein. Aber ich bin auch schon glücklich, sobald mir nur das gelingt.«

»Und du wolltest zu diesem Zweck fortdauernd in den Minen bleiben?«

»So lange es nicht anders geht, ja. Der Gedanke, Vater und Mutter im Armenhause zu wissen, wäre mir viel schrecklicher als alle äußeren Entbehrungen und Strapazen.«

Robert atmete auf, als er diese Worte hörte. Seine Eltern waren ja wohlhabende Leute, er hatte wenigstens nichts getan, das sie um ihre berechtigten Hoffnungen, um den Frieden ihrer alten Tage betrügen konnte. Gottlieb fühlte und handelte besonnener, als er, aber ihn leiteten auch zwingendere Gründe.

»Ich bleibe bei dir, bis du dich hineingelebt hast,« versprach er ihm. »Vier bis fünf Monate kann ich dir immerhin schenken, namentlich da deine Kaltblütigkeit nicht allein das Leben der ganzen Schiffsmannschaft, sondern ganz besonders auch das meinige gerettet hat, wofür ich dir den Dank nicht schuldig bleiben möchte. Wenn ich nur in San Francisco einen Brief aus der Heimat vorfände, – ach, ich wäre zu glücklich.«

»Wie lange reisen wir noch?« fragte Gottlieb.

»Dreißig Tage etwa. Ich wollte, daß sie vorüber wären.«

»Lehre mich Englisch, Robert, und die Zeit vergeht uns beiden schneller.«

Unser Freund seufzte. »Und du, lehre mich Geduld!« versetzte er. – »Aber freilich, etwas besser ist es ja schon geworden, also muß man die Hoffnung nicht aufgeben. Sieh, dort tauchen wieder neue Inselgruppen aus dem Meere hervor.«

Gottlieb stieß ihn heimlich mit dem Ellbogen. »Du, was tut der Steuermann jetzt?« fragte er.

Robert sah hin. »Ach, er lotet, oder mit anderen Worten, er macht Tiefmessungen. Der Kapitän hat also wieder Todesangst, daß wir auflaufen.«

Die beiden traten, da Robert gerade Freiwache hatte und solche Stunden am hellen Mittag nur bei sehr schlechtem Wetter zu verschlafen pflegte, – an die Seite des Obersteuermannes, der mit dem damals erst kürzlich erfundenen Patentlot einen Versuch anstellte. Auch der Kapitän war zugegen, und die Stirn dieses ruhelosen Herrschers zeigte tiefe Falten.

»Steuermann, haben Sie auf etwa 7500 Fuß Tiefe gerechnet?« fragte er. »So viel Wasser müssen wir hier herum vermuten.«

» All right, Sir. Die Leine läuft noch weiter aus.«

Das eigentümlich gestaltete, interessante Lot wurde jetzt über die Schanzkleidung des Schiffes herabgelassen, und Robert und Gottlieb hatten auf diese Weise Gelegenheit, es genau kennen zu lernen. Weder auf der »Antje-Marie« noch auf dem »Vogel Greif« war jemals gelotet worden, unser Freund kannte daher von der Sache so wenig wie irgend einer, und sah voll Vergnügen, wie sich das Verfahren vor seinen Augen entwickelte.

Das Patentlot hatte am äußersten Ende einen kleinen scharfen Spaten, dessen Fläche ein Deckelkästchen bildete. So lange der Steuermann die Leine ablaufen ließ, erklärte er, würde dieser Deckel offen bleiben und sich erst später beim Heraufziehen schließen, um dann diejenige Masse, welche vom Boden des Meeres in das Kästchen gelangt, festzuhalten und an die Oberfläche des Wassers zu befördern. Das schien auf den ersten Blick fast unglaublich, und Robert erwartete mit lebhafter Ungeduld das Ergebnis. Endlich stand die Leine, also war der Grund des Meeres erreicht.

»Wie viel Fuß Leine hatten wir?« fragte schnell der Kapitän.

»7800 Fuß, Sir.«

Ein Seufzer der Erleichterung folgte diesen Worten. »Ach dann ist eine hübsche Tiefe vorhanden!« meinte Mr. Barrow. Und darauf sich an Robert wendend, fügte er hinzu: »Meßt einmal, Kroll, da Ihr Euch doch für die Sache sehr zu interessieren scheint.«

Robert sprang sofort herzu, und während der Obersteuermann mit Hilfe eines Matrosen das Lot wieder heraufzog, maß er die trocken gebliebene Leine. »Sechshundert Fuß, Sir,« meldete er bald danach. »Also eine Tiefe von 7200 Fuß.«

»Ich dachte es wohl,« nickte der Kapitän. »Jetzt nur noch ein günstiges Ergebnis der Untersuchung des Grundes, und ich bin für heute zufrieden,«

Er hatte aber kaum die Worte ausgesprochen, als auch schon ein »O weh!« denselben folgte. Das Kästchen war heraufgezogen, und zeigte, nachdem es geöffnet, daß der Grund des Meeres an dieser Stelle felsig sei, denn auch kein noch so kleines Teilchen Schlamm oder Erde hatte sich festgesetzt, nur einige wenige scharfe und feste Körper befanden sich in dem inneren Raume, und der Kapitän nahm seufzend diese spitzen Zäckchen in die Hand. »Da haben wir's,« sagte er. »Es sind Koralleninseln in der Nähe.«

»Man sieht sie über dem Wasser, Sir!« erlaubte sich der Steuermann zu bemerken. »Viele haben Baumwuchs, alle aber dienen zahllosen anderen Geschöpfen als Wohnung. Solche kleine Welt von Krebsen, Muscheln, Schnecken, Seeigeln, Seesternen und einer Menge Wasserpflanzen macht sich bis zur Höhe der Oberfläche, mindestens aber doch so weit hin sichtbar, daß ihr Dasein in einiger Entfernung deutlich zu erkennen ist.«

Der Kapitän nickte. »Das weiß ich wohl, Steuermann,« antwortete er, »aber um zu sehen braucht man bekanntlich Licht. Wenn unser Schiff in der Nacht auf solche Koralleninsel stößt, ist es verloren.«

Der Steuermann antwortete nicht, aber er gestattete sich zu denken, daß sein Kapitän für einen Stubengelehrten ungleich besser gepaßt haben würde, als für den Lenker eines Schiffes, also für einen Posten, bei dem Tatkraft, Geistesgegenwart und furchtlose Entschlossenheit die notwendigsten Bedingungen sind. Er war froh, als sich Mr. Barrow wieder in seine enge Schlafkajütte zurückgezogen hatte, um auf der Karte und in wenigstens zehn Hilfsbüchern zum hundertstenmal die Eigentümlichkeiten dieses Teiles des Stillen Ozeans genau zu erforschen.

»Herr Obersteuermann,« fragte Robert, »was ist eigentlich eine Koralleninsel?«

»Das werden wir früh genug sehen, mein Junge,« war die Antwort. »Noch vor Abend begegnen uns sicherlich mehrere.«

»Gut aufgepaßt!« rief er dann dem Matrosen am Ausguck zu. »Ihr kennt hoffentlich die Bewegung des Wassers, wo sich Korallenriffe befinden?«

» Well, Sir!« scholl es zurück. »Noch nichts zu sehen.«

Der ganze Tag verging wirklich ohne das geringste Zeichen von Gefahr, und schon erschien wieder an Deck das sorgenvolle Gesicht des Kapitäns, der in jeder Minute seinen Unstern verwünschte, und der jetzt völlig überzeugt war, sogleich bei Beginn der Dunkelheit auf ein verstecktes Riff zu geraten. »Hier herum sind drei Koralleninseln,« seufzte er, »ich habe bis auf eine halbe Meile herausgerechnet, wo wir uns befinden, und bin meiner Sache vollständig sicher.«

Der Steuermann nickte. »Ich wußte es aus Erfahrung, Sir,« versetzte er. »aber nur zwei von diesen Riffen liegen auf unserem Wege, das dritte berühren wir nicht.«

Der Kapitän fuhr mit der Hand durchs Haar und wanderte rastlos auf und ab. »Erst sechzig Menschen mehr an Bord,« dachte er, »alle Bequemlichkeit, alle Ruhe dahin, die halbe Ladung verzehrt, fünf Kerle umsonst gefüttert und bezahlt, – jetzt noch ein paar hundert Dollar Reparaturkosten oder gar ein Grab für Schiff und Mannschaft, wahrhaftig, das heiße ich einen guten Anfang!«

»Korallen in Sicht!« rief in diesem Augenblick vom Ausguck her der Matrose. »Eine langgestreckte Insel an Backbord!«

Gedankenschnell sprang der Kapitän an seine Seite. Gottlob, die gefährliche Stelle lag ein paar hundert Fuß aus dem Fahrwasser des Schiffes. Er konnte ruhig daran vorübersegeln, ohne den Kurs verändern zu müssen.

»Genau beobachten, ob der Lauf des Riffes etwa nach links ausbiegt!« schärfte er dem Matrosen ein. »Oder besser noch, laßt zwei Mann Wache halten. Kroll, Ihr stellt Euch dorthin und paßt auf! – ich glaube, daß Ihr zuverlässig seid, daher wird Euch die verantwortliche Sache übertragen!«

Robert errötete vor Vergnügen. Er wußte, daß ihm dieses Lob von Rechts wegen gebührte, daß er niemals eine ihm anvertraute Pflicht fahrlässig verwaltet oder gar versäumt hatte, und aus diesem Grunde nahm er den Platz am Ausguck wie eine Art von Ehrenposten ein, der ihm doppelte Freude versprach.

Den Blick auf das Wunder der Tiefe gerichtet, sah er über die Schanzkleidung herab ins Meer. Bei fast ganz stiller, regungsloser Luft glitt das Schiff langsam durch die blaue Flut dahin, während hoch oben am Himmel die Sonne ihre letzten Strahlen entsandte und dadurch die klare Durchsichtigkeit des Wassers noch bedeutend erhöhte. Fern vom Lande durchdringt überall der Blick bis zu einer Tiefe von vielleicht zwanzig Fuß die kristallne Oberfläche des Meeres, hier aber begann schon zollhoch unter derselben das Schauspiel, welches Roberts Augen begierig tranken.

Es war eine kleine Welt für sich, dieses Korallenriff in den zwei Millionen Flächenmeilen des Großen Ozeans, ein sogenanntes »Atoll,« das in einer Tiefe von höchstens 120 Fuß unter dem Wasserspiegel begann und bis zur Höhe desselben sich fortsetzte. Robert sah zahllose niedere, schmale Inselchen, alle umschlossen und verbunden durch einen festen, Jahrhunderte alten Wall von Korallengeschlechtern, wo eine Generation nach der anderen sich festgesetzt, abgestorben und nun emporgewachsen, unzähligen Mitgeschöpfen als Wohnstätte und Nahrung diente. Während das Meer in seiner unaufhaltsamen Strömung die Seiten dieser langgedehnten Festung umspülte, bildete im Innern derselben das Wasser jene stillen malerischen Seen, die man zuweilen tief im Binnenlande findet, die durch keine Welle bewegt sind, und die klar wie weißes Glas in ewiger Ruhe daliegen. Mochte vielleicht in wilder stürmischer Novembernacht das Meer seine haushohen Wogen donnernd und brausend darüber hinwälzen, mochte der schäumende Gischt an den Grundfesten der alten Wälle rütteln, – bei stillem Wetter lagen die kleinen Seen inmitten des Ozeans, wie die Oase in der Wüste, unberührt und ruhig da, von einem höchstens zwei Fuß emporragenden Gürtel umschlossen, nicht selten auch nur bis zur Oberfläche des Wassers durch diesen beschützt. Von Insel zu Insel führten Wasserstraßen, Lagunen, wie der Steuermann sagte, und auf manchem dieser festen Punkte hatten sich sogar Pflanzen angesiedelt. Robert sah die Schößlinge des Pandanus, des Brotfruchtbaumes und viele verschiedene Schlinggewächse, deren Samen von Vögeln oder durch den Sturm hierhergeführt worden war. An einer Stelle strebte sogar das schlanke Stämmchen einer Kokospalme zum Licht empor.

Schöner als alles aber stellte sich die Tierwelt dar auf dem breiten zackigen Ring, der das Ganze umgab. Von den Strahlen der Sonne vergoldet, spielten zahllose kleine, in allen möglichen Farben prangende Papageifische zwischen den Zacken der Korallen, während neben und über ihnen hundert andere, teils halb, teils völlig belebte Geschöpfe sich tummelten oder festsitzend ihren Platz behaupteten. Myriaden von Schnecken, besonders das schöne farbenschillernde Meerrohr, krochen langsam daher, ganz kleine Fischchen schossen wie glänzende Streifen dahin, große Wasserspinnen segelten im Zickzack, schwarzbraune Egel und die verschiedensten Muscheln hatten sich angeklammert. Jeder Wassertropfen schien belebt, jeder Fleck des vielzackigen Bodens bewohnt. Und auch der rastlose Krieg der großen Welt auf fester Erde setzte sich im kleinen hier wieder fort. Einer der Papageifische lag tot auf dem Rücken – zehn bis zwölf andere waren emsig bemüht, ihn zu zerfleischen.

Unheimlich langsam, rastlos und einförmig, belebt und doch gefangen, doch ohne das Vermögen der Fortbewegung, reckten sich und streckten tausend Arme die schönen rosenartigen Polypen. Bald hellgelb, bald violett und an dritter Stelle rosenrot, wie weitaufgeblühte Blumen, lagen und hingen die einzelnen seltsamen Geschöpfe, denen alle Tierähnlichkeit fehlt und die doch wirklich leben. Aus dem Mittelpunkt der bunten Kapsel erhoben sich Hunderte von fadendünnen, gliederlosen Strängen, die anstatt des Kopfes ein dunkles Pünktchen aufzuweisen hatten, und alle diese einander sich vollständig gleichenden Arme regten und bewegten sich ohne Aufenthalt wie sehnsüchtige Gefangene, die um jeden Preis dem engen Kerker entfliehen möchten und denen doch starre Eisenstäbe ein ewiges Halt gebieten.

Dazwischen wuchs bald die schwarze, bald die rote Edelkoralle mit ihren fußhohen und fingerdicken Stämmchen, dann folgten weite Strecken der weißen Koralle, und auch sogar ihre wüsten Flächen, ihre Kirchhöfe so zu sagen, schien die unterseeische Inselwelt zu haben. An einzelnen Stellen ragten verkalkte, graue und unbewohnte Zacken etwas aus dem Wasser hervor, Sand und Schlamm füllten die Spalten, vermodertes Schilf lag aufgeschichtet und kein Tier zeigte sich dem Blick. Warum gerade hier alles Leben entflohen, warum die Spitzen der Korallen gebrochen und ihr Werk verdorrt schien – wer könnte das ergründen?

Vielleicht durchschnitt im Sturmgeheul der Herbstnacht ein Schiff diesen uralten Wall und zerstörte mit seinem feindlichen Eindringen das Stillleben der kleinen, harmlosen Welt, vielleicht ragten noch jetzt wie gespenstische Arme aus der Tiefe die Eisentrümmer des versunkenen Fahrzeuges hinein in den Bau der Halbtiere, und vertrieben das Gedeihen, verscheuchten die Gäste, welche nur an vollbesetzter Tafel sich niederzulassen pflegen.

Aber nein! Auch diese grauen, verhärteten Zacken hatten noch ihren Daseinszweck. Die Bohrmuschel, häßlich und farblos wie das Gestein selbst, formte sich mit rastloser, unausgesetzter Tätigkeit bis tief in das Herz der Klippe hinein ihre Gänge. Robert sah die engen, gewundenen Wege zu Hunderten übereinander.

Und so wechselte fortwährend die Landschaft. Bild nach Bild entrollte die unendliche Mannigfaltigkeit des Naturlebens, Bild nach Bild zeigte dem Auge des entzückten Beschauers neue Wunder, neue Beweise von dem verschwenderischen Reichtum der Schöpfung sowohl als von der Sparsamkeit, mit welcher dieselbe jeden Raum und jeden Stoff zu verwerten weiß, daß kein Atom des großen Ganzen unbenutzt bleibt, daß auch das kleinste Würmchen so gewiß und so sicher zu seinem Rechte gelangt, wie auf Erden der reichste Fürst, wie das bedeutendste, anscheinend unentbehrlichste Geschöpf des Daseins.

Es war unserem Freunde, als stehe er in einer Kirche und als sei ihm von Gottes Allmacht nie so vernehmbar gepredigt worden wie in dieser Stunde. Ganz versunken in andächtige Bewunderung sah er hinab über den Schiffsrand.

Noch immer währte das Korallenriff, obgleich schon die Sonne am Himmel zu erlöschen begann und der Abendwind mit kalten Schwingen über das Wasser dahinfuhr. Mehr und mehr verschwammen die Umrisse der unterseeischen Bauten, dunkler und dunkler wurde die Luft.

»Meinst du nicht, daß sich das Riff nach links zu biegen beginnt?« fragte Robert den Matrosen, welcher am Ausguck seine Wache teilte.

»Mich deucht es seit einigen Minuten. Mach lieber die Meldung, Bob!«

Das geschah und der Kapitän erschien sofort an Deck. »Ob ich's nicht gedacht habe!« winkte er dem Steuermann. »Wir müssen das Schiff backlegen und bis Tagesanbruch vor dem Wind treiben.«

Mr. Thompson nickte. »Ist gut, Sir,« antwortete er, »hat aber auch seine Gefahren. Wir können an den Strand geworfen werden.«

»Verdammt! Verdammt! – Steuermann, wozu raten Sie?«

»Ich würde die Sache wagen, namentlich da uns jeder Zeitverlust von größtem Nachteil ist.«

»Der Ladung wegen? Wir können froh sein, wenn das Schiff nur noch Ballast genug behält, um überhaupt segelfähig zu bleiben. Herr des Himmels, womit habe ich diese Heimsuchung verschuldet?«

Der Steuermann stand immer noch wartend da. Es war jetzt vollständig dunkel geworden und ein bestimmter Entschluß notwendig.

»Lassen Sie das Schiff backlegen, Steuermann,« rief endlich halb verzweifelt der Kapitän. »Es gibt eine helle Sternennacht, und ich will lieber diese paar Stunden verlieren, als vielleicht mit voller Fahrt in das Riff hineinlaufen. Um vier Uhr früh ist es Tag.«

» All right, Sir.« –

Und Mr. Thompson gab die notwendigen Befehle, infolge welcher der »Stern von San Francisco« seine rasche Bewegung bis zum sanften Schaukeln mäßigte. Nach einer Stunde erschien am Himmel der Mond und beleuchtete mit weißem Glanze das Meer. Die Strömung trug langsam aber andauernd das Schiff nach rückwärts.

Das Nachtglas des Kapitäns kam keinen Augenblick zur Ruhe. Bald stand Mr. Barrow am Heck und bald hinter der Kombüse, immer spähend, immer auf ein hervorbrechendes Unglück gefaßt, so daß die Leute heimlich lachten.

»Wenn ein anderer das Kommando führt, dann ist der Kapitän ein tüchtiger Seemann,« flüsterte einer der Matrosen. »Ich selbst bin mit ihm gefahren als er noch Steuermann war, und damals merkte man von dieser Unruhe nichts. Seit er selbst ein Schiff besitzt und alle Verantwortung allein trägt, ist er wie ausgetauscht.«

»Nicht zum Seemann geboren!« meinte ein anderer. »Der echte Schiffer wird immer kaltblütiger, je stärker die Gefahr herantritt.«

Der erste zuckte die Achseln. »Das kann sich eben keiner selbst aneignen, du,« versetzte er. »Es liegt im Blute.«

»Ganz gut,« beharrte der zweite, »aber dann muß solcher Mensch ein Schneider werden, nur kein Seemann.«

Robert fühlte, wie das Blut in seine Wangen trat. Er war für letzteren Beruf geboren, und dennoch, – wie erschwerte ihm alles die ergriffene Laufbahn?

»Es ist kein Segen dabei!« dachte er unwillkürlich. »Es war nicht der richtige Weg, auf welchem ich ans Ziel zu gelangen suchte, und daher entstehen überall Hindernisse. Ach, könnte ich nur auf eine Stunde hinüberfliegen nach Pinneberg!« – –

Und dann malte er sich in Gedanken das Bild dieses Wiedersehens. Er hielt in erhobener Hand einen Beutel mit Geld – nicht viel freilich, aber doch ein paar hundert Taler, die ihn unabhängig machten – und er stand wie ein Sieger vor den alten Eltern. »Ihr müßt mir vergeben,« hörte er sich sagen, »ihr müßt euren Irrtum erkennen und einräumen, daß ich meinen Beruf besser zu beurteilen wußte als ihr. Ich habe in Süd und Nord mit dem Tode gerungen, habe mit Menschen und reißenden Tieren gekämpft, ich habe die Elemente bezwungen und meinen unbeugsamen Willen von keiner Macht in den Staub treten lassen, ich bin zweimal schiffbrüchig an die Küste geworfen, ärmer als der ärmste Bettler, – und komme doch als freier Mann zu euch zurück, selbst imstande mir den Tisch zu decken, selbst derjenige, welcher sich den Weg durch das Leben zu bahnen wußte, allen Hindernissen, allen Widersachern zum Trotz. Ihr müßt stolz sein auf euren Sohn und müßt ihm den Knabenstreich vergeben!«

Ach, wie klopfte ihm bei diesen Gedanken das Herz. Er konnte die paar Taler, welche damals Georg aus dem Kasten genommen und freilich dann später selbst gestohlen, ganz, als habe er sie im Wege des Darlehns vom Vater erhalten, diesem wieder auf den Tisch zählen, ja, er konnte auch landesübliche Zinsen bezahlen und noch außerdem von sich sagen: »ich habe dem Jugendfreunde, als er schiffbrüchig zu mir an Bord kam, beigestanden, habe auch sein Schicksal in die Hand zu nehmen und zu begründen gewußt. Erkennt also, daß es ein ungeheurer Irrtum war, mich an die Nähnadel fesseln zu wollen!« – – –

Ein Geräusch auf dem Halbdeck störte ihn aus seinen Träumen. Die Frauen in der Kajütte hatten bemerkt, daß irgend etwas Außergewöhnliches vorging, eine hatte durch ihre Vermutungen und Schlußfolgerungen die Einbildungskraft der anderen nur noch immer mehr erhitzt, zudem sah man den Kapitän fortwährend an Deck und fühlte, daß das Schiff nur trieb, anstatt im Fluge die Wellen zu durchschneiden, – das alles brachte die Gemüter in Aufruhr. Der ganze Strom ergoß sich über das Deck, schreiende Kinder drängten sich den Müttern nach, und aus dem Logis wurden die erstaunten Männer herbeigerufen, um im Notfall ihren schluchzenden Frauen beizustehen.

Bild »Steuermann!« rief Mr. Barrow, »ich bitte Sie, was bedeutet das?«

Robert verließ seine Koje, um ungerufen als Dolmetscher zu dienen. Wo es galt, irgend einem Nebenmenschen zu helfen, da war er immer der erste. »Nun,« fragte er, »was ist geschehen, – warum schlaft ihr nicht?«

Das Händeringen und Weinen kehrte sich jetzt gegen ihn. Er möge nur die Wahrheit sagen, hieß es, jeden Augenblick könne das Schiff versinken oder umfallen, – man sei auf das letzte Stündlein vollkommen gefaßt.

Robert lachte wie ein Narr, und vielleicht gerade dadurch beruhigte er die angstvollen Gemüter am meisten. Seine kurzgefaßten Worte brachten die Frauen ohne viel Federlesens zurück in die Kajütte und zwar so schnell, daß der Kapitän erst nachträglich erfuhr, um was es sich gehandelt hatte. Fortan wurde die Tür zum Halbdeck nach Einbruch der Dunkelheit verschlossen gehalten.

Am frühesten Morgen machte der Kapitän seine Berechnung, und es ergab sich, daß das Schiff etwa vier bis fünf Wegstunden weit zurückgetrieben war. Man konnte also jetzt das gestern passierte Korallenriff und auch noch ein zweites, kleines bei hellem Tageslicht umsegeln und sich auf allen Karten überzeugen, daß jetzt der Weg frei sei. Dennoch aber wachte der Kapitän noch die ganze folgende Nacht, obgleich mehrere Matrosen sahen, daß er zuweilen im rastlosen Auf- und Abwandern mit geschlossenen Augen gegen die Pardunen stieß. Erst als das offene Meer wieder erreicht war, ging auf dem »Stern von San Francisco« alles den gewohnten Gang, und obwohl an einer kleinen, anscheinend unbewohnten Insel nochmals ohne weitere Fährlichkeit Wasser eingenommen werden mußte, so erreichte doch das Schiff nach drei Wochen wohlbehalten den Hafen der kalifornischen Hauptstadt.

Mr. Barrow fand zu seiner großen Erleichterung in den Reedern ebenso besonnene als menschenfreundliche Vorgesetzte, die nicht allein vollkommen guthießen, was er getan hatte, sondern die auch sogar durch ein öffentliches, in den Zeitungen ihrem Kapitän gespendetes Lob die allgemeine Aufmerksamkeit der vielen in San Francisco ansässigen Deutschen den unglücklichen Auswanderern zulenkten, so daß von allen Seiten milde Gaben herbeiflossen und sicherlich mancher lebensmüde Europäer doppelt so viel geschenkt bekam, als ihm bei Kap Horn die Wellen entrissen.

Auch das Abenteuer mit den Wilden ging von Mund zu Mund; die Matrosen des »Stern von San Francisco« wurden die Helden des Tages, man kam an Bord, um sich die Einzelheiten dieses Falles erzählen zu lassen, die Zeitungen brachten den Kampf mit den Patagoniern unter derartigen Übertreibungen, daß Robert in denselben fast gar keinen einzigen Zug des tatsächlichen Bildes wiederfand, kurz, alles vereinigte sich, um den Ausgang dieser Fahrt zu einem unerwartet günstigen zu gestalten, alles verlief nach unseres Freundes Wunsch, – – nur das Hauptsächlichste schlug fehl.

Sein erster Weg, nachdem ihm der Steuermann erlaubt, an Land zu gehen, war zur Post. Vielleicht hatte sich ja doch der Vater bewegen lassen, ihm zu verzeihen, ihm wenigstens einige gute, wohlmeinende Worte zu schreiben, – und wie sehr sehnte er sich danach!

Sein Herz klopfte zum Zerspringen, als er den Postbeamten murmeln hörte: »Kroll! – Kroll! – es muß etwas da sein, das diesen Namen trägt!«

»Aha,« setzte er dann hinzu, »hier ist es schon.«

Und Robert hielt in seiner Hand einen kleinen, plump zusammengebrochenen Brief aus grobem Schreibpapier, ohne Umschlag, mehrere Male gesiegelt und mit einer Adresse von unbekannten Schriftzügen. »An den Herrn Leichtmatrosen Robert Kroll aus Pinneberg, auf dem Schiff »Stern von San Francisco« in Francisco, wenn das Schiff glücklich hinkommt, sonst soll der Brief verbrannt werden.«

Halb lächelte er, als dies seltsame Schriftstück vor seine Augen trat, und halb packte er ihn mit heimlichem Schrecken. Das hatte die Mutter von irgend einer guten Freundin schreiben lassen, er wußte es vorher, – aber warum? – –

Wenn nun der Vater gestorben war?

Kalt durchschauert verließ er das Postgebäude und ging in ein nahegelegenes Wirtshaus, um den Brief zu lesen. So viel Mut als nötig war, um diese ungeschickten Siegel zu brechen, hatte er nicht gebraucht, als in der nordischen Eiswüste der Wolf mit aufgesperrtem Rachen vor ihm stand, – als er aus dem Gebüsch trat angesichts der Wilden.

Erst nach mehreren Minuten vergeblicher Anstrengung gelang es ihm, die unförmlichen Buchstaben zu folgendem Inhalte zusammenzustellen.

Mein geliebter Sohn Robert!

Liese Schmidt, die Tochter unserer alten Brotfrau, deine Schulkameradin, schreibt mir diesen Brief, worin ich dir zunächst unsere herzlichsten Grüße sage, das heißt der Liese ihren und meinen, denn Vater ist so bös, daß man in seiner Gegenwart nicht einmal deinen Namen aussprechen darf. Den letzten Brief, welchen du von Bergen hierhergeschickt, wollte er gar nicht annehmen, und fast wäre derselbe wieder zurückgesandt worden in die weite Welt hinein, wenn ich nicht dem Herrn Postmeister mit vielen Tränen gebeten hätte, mir doch die Botschaft von meinem einzigen Kinde nicht zu entziehen. Erst schwankte er lange und ich bot ihm schon in großer Herzensangst einen ganzen Taler über das geforderte Porto, aber dann ließ er sich doch erweichen, obgleich er das Geld nicht nahm. ›Ich will's tun, liebe Frau,‹ sagte er, ›weil ich die unglückliche Geschichte mit Ihrem nichtsnutzigen Jungen‹ – du darfst es nicht übel aufnehmen, lieber Robert, aber er sagte wirklich so! – ›von früher her kenne und weil ich Sie herzlich bedaure. Man ist ja auch Mensch, nicht bloß Beamter.‹

Siehst du, auf diese Weise erlangte ich deinen Brief, den mir Liese Schmidt vorlas, und bei dem ich Gott vielmals inbrünstig gedankt habe, daß Er Seine treue Hand über dir gehalten in der Stunde der Gefahr. Ich bin auch am nächstfolgenden Tage zur Kirche gegangen und habe ein Achtschillingstück in den Klingelbeutel gesteckt aus großer Herzensfreude. Dein Vater weiß, daß ich den Brief heimlich an mich gebracht, und ebenso alles, was darin stand. Ich erzähle's ihm immer so nebenbei, gerade als hätte ich's in der verwichenen Nacht geträumt, und dann merke ich wohl, wie genau der alte, eigensinnige Mann zuhört, aber weiter darf ich nicht gehen, sonst schneidet er mir das Wort vor dem Munde ab. ›Träume was du willst, Mutter,‹ sagt er, ›und erzähle mir auch alles das, nur sprich nicht von dem Entlaufenen. Ich habe keinen Sohn, das weißt du.‹

So steht es bei uns, mein geliebter Junge, und Vater ist krank dazu. Er grämt sich sehr um dich, und wenn du wiederkommen und deine Lehrzeit nochmals anfangen wolltest, das würde mir eine gar große Freude sein. Du könntest ja wahrlich jetzt genug haben von dem wilden Leben, wo dir doch alle christliche Zucht und Ehrbarkeit mangelt, als da sind: Sonntags Kirchengehen und ein reines Hemde, sowie ein ordentlich rechtschaffenes Essen auf dem Tisch. Wenn ich gar bedenke, daß du einen schwarzen Mohrenmenschen deinen Freund nennst, so bitte ich unsern Herrn und Heiland, dir dies Greuel nicht anzurechnen.

Ferner benachrichtige ich dich, daß Pikas, unser Hund, noch lebt, sowie daß wir von dem Seiler, der dich damals zum Bösen verlockt und hernach verlassen, niemals wieder ein Wort gehört haben. Sonst wüßte ich nichts Neues, und schließe meinen Brief mit der Bitte, doch die nächste Post an mich und nicht an den Vater zu adressieren. Er nimmt von dir nichts an. Viel tausend mal lieber aber wäre mir's, du kämest selbst und söhntest dich aus mit dem Alten. Das Schneiderhandwerk nährt seinen Mann und ist auch gefahrlos und christlich dabei. Liese Schmidt meint dasselbe wie ich, womit wir beide dich herzlich grüßen und dich dem lieben und getreuen Gott vielmals empfehlen.

Deine zärtliche Mutter, Anna Kroll.

Nachschrift. Die Liese Schmidt will so gern auch einmal einen Brief von dir haben, damit sie den Leuten ein bißchen erzählen kann, hauptsächlich schreib uns bald, ob in San Francisco die Menschen alle schwarz sind und ob sie zu Schimpf und Schande ohne Kleider einherlaufen. D. O.

Lange starrte Robert auf das Blatt, und eine ganze Welt verschiedener Empfindungen durchflutete seine Seele. Wie es die Mutter in ihrer rührenden Herzenseinfalt hier ausgedrückt, so dachte und fühlte der starrsinnige Vater, so verkannten die beiden alten Leute das Leben und die Forderungen der Jetztzeit. Was ihnen vor einem halben Jahrhundert von unwissenden bäuerischen Eltern eingeprägt worden war, daran hielten sie beharrlich fest, was außerhalb ihres geistigen Gesichtskreises lag, das leugneten sie einfach ab. Konnte aber er selbst durch irgend ein göttliches oder menschliches Gesetz gewungen werden, sich in dies Gefängnis freiwillig hineinzubegeben und sein eigenes Ich zu verleugnen bis ans Ende?

Nein, und tausendmal nein. Er fühlte sein Gewissen, nachdem er diesen Brief gelesen, sogar bedeutend leichter. Trotz gegen Trotz! Wollte der Vater von dem einzigen Sohne keinen Brief annehmen, wohlan, so sollte er gewiß nicht in die Lage kommen, mit solchen Zuschriften belästigt zu werden. Waren die alten Leute um Zucht und Sitte ihres Sohnes so sehr besorgt, und hielten sie den treuen Mongo für ihn als Gefährten zu schlecht, dann sollten sie bald genug diesen Irrtum erkennen.

Robert biß die Zähne zusammen. O, nur ein wenig Glück in den Minen, nur zwei oder dreihundert Taler reinen Überschuß, und alles war gut. Der »nichtsnutzige« Junge, der verleugnete, beklagte Sohn konnte in das Heimatsstädtchen zurückkehren und den Philistern zeigen, daß sie ihr Wehe! Wehe! ohne allen Grund gerufen. Aber hingehen und mit leeren Händen Buße tun, – nimmer, ob auch der Vater starb, ohne ihm verziehen zu haben. Er hatte es einen Augenblick lang geglaubt, hatte, von Gottliebs plötzlichem Erscheinen heftig gerührt und bewegt, den Gedanken einer Rückkehr, eines Wiederfindens von Herzen für möglich gehalten und sich eingebildet, daß der Vater mit offenen Armen den Sohn willkommen heißen werde, – jetzt war er enttäuscht worden.

Was er zu bitten hatte, das konnte immer nur ein väterlicher Segen sein, aber nie und nimmer eine verzeihende Wiederaufnahme in das frühere Verhältnis. Es schien ihm Wahnsinn, überhaupt daran zu denken, und dennoch blutete sein Herz. Düster vor sich auf das unberührte Bierglas starrend, saß er da und grübelte, fast ohne zu wissen was er dachte, ohne zu bemerken, daß sich mehrere Personen in seine Nähe setzten und ihn fortwährend beobachteten. Erst als ihm jemand die Hand auf die Schulter legte, blickte er empor.

»Nun, Mr. Kroll, erst einen Tag an Land und schon Grillen fangen? Kommen Sie mit mir, ich will Ihnen einen Ort zeigen, wo getanzt und gejubelt wird, das ist besser.«

Robert erkannte einen der Angestellten des Handlungshauses, für welches Kapitän Barrow fuhr, er erwiderte sehr höflich die Anrede des jungen Mannes, dankte ihm auch für seine Freundlichkeit, aber er lehnte doch entschieden das gestellte Anerbieten ab. Sobald der »Stern von San Francisco« den Rest der Fracht gelöscht und das ganze Schiff von oben bis unten gescheuert worden war, gab es Löhnung, und dann hinauf in die Goldminen. Robert erinnerte sich nur allzuwohl dessen, was ihm der Steuermann gesagt, daß nämlich meistens in den Wirtshäusern sofort wieder verschleudert werde, was mit Mühe und Anstrengung erworben sei, – zudem befand er sich auch durchaus nicht in der Stimmung zu tanzen oder zu jubeln, sondern er hätte am liebsten gleich den übrigen Gästen den Rücken gekehrt und wäre davongegangen. Doch das war unmöglich. Seit dem gestrigen Tage hatte sich das Gerücht von dem Kampfe mit den Wilden schon genug verbreitet, um wenigstens in engeren Kreisen Aufsehen zu erregen, und als man jetzt eines so unmittelbar beteiligten Berichterstatters habhaft wurde, kam derselbe ohne eine ausführliche Schilderung des stattgehabten Ereignisses nicht wieder fort.

Man lobte seine Tapferkeit, man hatte um alles in der Welt die Geschichte mit ansehen mögen und fand überhaupt das Seeleben außerordentlich interessant. Robert sah sich von einem ganzen Schwarm neugieriger Zuhörer umgeben, und als er endlich aufbrach, wurde er von allen Seiten bestürmt, doch wo möglich noch am Abend desselben Tages wieder hierherzukommen. Die jungen Leute wollten ihm das Leben und Treiben von San Francisco zeigen, wollten ihn bei ihren Familien einführen und ihn entschädigen für alles das, was er seit seiner Abreise von New York an Entbehrungen und Widerwärtigkeiten erlitten hatte, aber Robert antwortete sehr höflich, daß er als Leichtmatrose jetzt das Schiff ausladen und gründlich scheuern helfen müsse, anstatt zu seinem Vergnügen herumzuschwärmen. Sobald er könne, werde er die erwiesene Artigkeit gebührend zurückzahlen.

Fast neidisch blickten ihm die jungen Kaufleute nach. »Ein hübscher, schlanker Bursch,« meinte einer, »so braun und keck sieht er aus, – wahrhaftig, ich möchte ihm nicht im bösen begegnen.«

»Und doch scheint er Kummer zu haben,« versetzte der zweite. »Als wir kamen, verbarg er einen Brief in der Brusttasche.«

»Überhaupt schien er sehr zerstreut,« bestätigten mehrere.

Und so war es in der Tat. Roberts Verstimmung wuchs, je mehr und je länger er über alles nachgrübelte. Fremde Leute konnten ihn verstehen, fremde Herzen fühlten mit ihm, aber die eigenen Eltern standen dem, was er fühlte und dachte, feindlich gegenüber.

Als er an Bord kam, war Kapitän Barrow in bester Laune. Es hatte sich alles vortrefflich abgewickelt, alles spielend in Ordnung gebracht und beglichen, ja, eine zweite Reise sollte sofort nach Räumung des Schiffes unternommen werden und die Mannschaft konnte im Lohn bleiben, ohne erst abzumustern. Der »Stern von San Francisco« ging nach Hamburg, von wo er eine Ladung feiner Rheinweine abzuholen bestimmt war. Alles an Bord entfaltete die regste Tätigkeit.

Nach Hamburg! – Robert fühlte in der Tasche den Brief seiner Mutter wie Feuer brennen. Vielleicht, wenn er diese Zeilen nicht erhalten, wäre er schon nach wenigen Wochen auf dem Wege zur Heimat gewesen, vielleicht hätte er sogar die Pflicht der Dankbarkeit gegen Gottlieb vergessen, hätte ihm nur das nötige Reisegeld geschenkt und selbst alles verleugnet, um sich mit dem Vater zu versöhnen und seinen Segen zu erwerben. Aber jetzt! – –

Vor dem, der einen Brief voll kindlicher Bitten und Versprechungen nicht einmal wert hielt, ihn anzusehen und sich zu eigen zu machen, sollte er die Kniee beugen?

Nein, der Entschluß stand unwiderruflich fest. Glück auf den Weg »Stern von San Francisco«, ich bin nicht bestimmt dein Los zu teilen.

Er schlug es aus, für die neue Reise zu heuern und ging gar nicht wieder an Land, um kein Geld unnötig auszugeben. Gottlieb erhielt, wie auch die übrigen schiffbrüchigen Auswanderer, so viel geschenkt, daß, als Roberts Heuer bezahlt wurde, die beiden ihre Fahrt in das Goldland antreten konnten. Sämtliche Ausrüstungsgegenstände wollten sie, des teuren Transportes wegen, an Ort und Stelle kaufen, nur den Anzug der Goldgräber, die ungeheuren Kanonenstiefel und den Leibgurt von Leder schafften sie sich sogleich an. Das bare Geld wurde sorgfältig versteckt, und dann nahm Robert von seinen bisherigen Kameraden einen herzlichen Abschied. Nur den Neger sah er nicht.

Auf die Frage nach Mongos Verbleib hieß es, daß auch dieser am vorigen Tage abgemustert habe. Roberts Erstaunen stieg immer mehr. Sollte sich der Alte, nachdem er mit ihm so schwere Stunden geteilt, jetzt ohne ein Wort des Abschieds trennen wollen?

Unbegreiflich! Aber die Zeit drängte, und daher konnte unser Freund keine weiteren Nachforschungen halten. Seufzend kletterte er die Fallreepstreppe hinab. »Leb wohl, du blaues, geliebtes Meer, jetzt soll ich dich monatelang nicht einmal mehr sehen, soll mich Hunderte von Meilen weit ins flache Land begeben und mit Spaten und Axt die Erde durchwühlen.« –

Leb wohl! Leb wohl!

Er sah nicht zurück, sondern bezwang den inneren Kampf um Gottliebs willen. Es ist ja kein Geschenk mehr, keine beglückende Gabe, was mit einem Seufzer dargereicht wird, sondern ein Opfer, welches das Feingefühl des Empfängers zu stark verletzt, um noch gern angenommen zu werden.

Es mußte sein, und Roberts fester Wille unterdrückte erfolgreich jede Mißstimmung. Dem schüchternen Freunde Mut einsprechend führte er ihn zum Bahnhof, wo für die ganze Reise nach den Minenstädten das Billet gelöst wurde. Wenn erst einmal die fremde Welt, welche er jetzt betreten sollte, ihn umgab, wenn er eine geregelte Tätigkeit besaß, so mußte auch seine frühere Zuversicht zurückkehren. Und ging es schlechterdings nicht, konnte er das Leben auf dem Lande unmöglich ertragen, nun, so stand ihm ja der Weg zur nächsten Hafenstadt immer offen. Für den Augenblick galt es den Kopf oben zu behalten, damit womöglich späterhin der Ärger über einen teuren und trotzdem fehlgeschlagenen Versuch nicht das einzige sei, was ihm die neue Laufbahn eingebracht.

Aber daß er Mongo nicht mehr gesehen, tat ihm leid. Der Alte mußte irgend einen ganz besonderen Grund haben, welcher ihn verhinderte, wenigstens ein Abschiedswort zu sprechen.

Das Glockenzeichen ertönte, die Türen wurden geöffnet und unsere Freunde stiegen in den Wagen – da sah ihnen von draußen ein schwarzes, lächelndes Gesicht entgegen, da zeigte sich Mongo im ledernen »Digger«-Anzug, und nach einer halben Minute saß er drinnen neben den beiden überraschten Freunden.

»Du junger Spitzbube, wer soll dich aus der Patsche ziehen, wenn ich es nicht tue? Bist ja ein viel zu großer Sausewind und Wagehals, als daß man dich allein reisen lassen könnte.«

»Aber Scherz beiseite,« setzte er hinzu, »wollt ihr den alten Knaben mitnehmen? Schaden kann's euch nicht, in den Minenstädten einen kundigen Führer zu besitzen.«

Robert fühlte sich neu belebt durch die Nähe des Freundes. Er und auch Gottlieb schlugen bereitwillig ein, als ihnen Mongo die Hand bot. »Wir wollen treu zusammenhalten,« gelobten sich beide, »und es freut uns herzlich, dich an unserer Seite zu wissen.«

»Aber warum teiltest du uns deinen Entschluß nicht schon viel früher mit, alter Geheimniskrämer?« fragte Robert.

Der Neger wiegte das wollige Haupt. »Ich wußte es ja vorher selbst nicht, du Schlingel!« versetzte er. »Die Minen sind es auch keineswegs, welche mich verlocken, sondern nur deine Nähe. Es ist für einen alten Menschen doppelt schrecklich, so ganz allein dazustehen.«

Robert drückte seufzend die schwarze Hand. »Auch für einen jungen, Mongo,« antwortete er, »auch für einen jungen. Das Herz bleibt in der Fremde ganz leer.«

»Hast doch deiner Mutter geantwortet, Junge?« fragte der Neger.

»Freilich. Sie nimmt ja meine Briefe an.«

»Nun, nun, du mußt das nicht mit so großer Bitterkeit betonen. Dein Vater hat wie die Schnecke in ihrem Gehäuse sein lebenlang auf demselben Tisch gesessen, den schon zwei Generationen der Krolls als häuslichen Thron behaupteten, – er kann sich eine andere Möglichkeit einfach nicht denken, daher ist er widerborstig wie ein Igel und quält sich und andere. Oder dächtest du, daß er sich etwa nicht im stillen bitter um dich härmen sollte.«

»Das glaube ich kaum, Mongo.«

»Ach, bah, was weißt du davon? Ein Vater kann nie aufhören sein Kind zu lieben, aber er kann es auf unrichtige Weise kundgeben, das ist freilich wahr.«

»Laß uns über die traurige Angelegenheit nie wieder reden, Mongo,« bat Robert. »Es stehen sich nicht allein Vater und Sohn, sondern zwei Männer gegenüber, bei denen auch das Wort Ehre mitzusprechen hat, und eben dadurch erhält die ganze Sache den gefährlichen Charakter. Ich kann nicht nachgeben wie zur Zeit meiner Schuljahre oder auch später noch, als er mein halbfertiges Schiff mit dem Küchenbeil zerschlug und mich regelrecht durchprügelte.«

Mongo antwortete nicht. Wozu gleich den Anfang der Fahrt mit trüben Erinnerungen oder noch trüberen Zukunftsbefürchtungen vergällen? – Sein junger Freund war aus der knabenhaften Begierde nach Abenteuern längst aufgerüttelt und zum heranreifenden Manne erwacht, er fühlte den Zwiespalt mit dem eigenen Gewissen wie einen scharfen Sporn in der Seele, das schien für den Augenblick vollständig genug.

Mochte er erst lernen, sich nach den Eltern und ihrer Verzeihung als nach dem höchsten Gute zu sehnen, dann würde es Zeit sein, ihm auf den Einwurf vermeintlich beleidigter Ehre zu antworten. Vor der Hand war dergleichen keineswegs nötig.

»Mongo,« fragte nach einer Pause unser Freund, »bist du bereits früher einmal in den Goldminen gewesen? Es schien mir vorhin so.«

Der Schwarze nickte. »Wo wäre ich nicht gewesen, Bob?« fragte er wehmütig. »Überall ohne Heimat, ohne Familie, ohne Glück, da greift man bald nach rechts bald nach links, und sucht eben überall ganz vergebens die Stätte, an der das zu finden wäre, was in uns wohnen muß, wenn es wahrhaft befriedigen soll.«

Robert blies den Dampf seiner Zigarre in die heitere Morgenluft hinaus. Er fühlte sich von der erfrischenden Fahrt durch die Herbstlandschaft, von dem hellen Sonnenglanz und der schönen Umgebung mehr und mehr angeregt. Vielleicht ging es ja jetzt dem Glücke entgegen, jedenfalls aber mußte die kommende Stunde so wie sie sich gab genommen werden, und das Selbstquälen half zu nichts.

»Mongo,« sagte er, »du kennst also das Leben in den Minen aus Erfahrung, kannst uns mit Rat und Tat beistehen?«

»Gewiß, mein Bob. Eben deshalb kam ich ja zu euch.«

Robert übertrug das kleine Gespräch ins Deutsche, und auch Gottlieb freute sich lebhaft, in der Person Mongos einen Freund zur Seite zu haben. »Du gehst doch schon sehr bald wieder fort, Robert,« sagte er.

Dieser errötete. »Weshalb, du? Ich will gleich dir in den Minen das Glück suchen,« versetzte er.

»Möchtest du es finden, Robert!« versetzte innig und mit seinem bescheidenen Wesen der andere. »Möchten wir alle Glück haben!«

Mongo zog aus der Tasche ein gehöriges Paket von Fleisch und Brot, sowie eine Korbflasche, die er den beiden jungen Gefährten darbot. »Auf die Verwirklichung unserer Hoffnungen!« sagte er.

Und alle drei tranken, im Geiste anstoßend.

 

Der Eisenbahnzug hatte die Station Bandigo hinter sich, und immer schöner, immer prachtvoller wurde die Umgebung. Wälder von Eichen und Buchen, wohl auch von Tannen, säumten die Fahrstraße oder führten das Dampfroß durch ihre düstere Mitte. Zuweilen in grünen Blättermassen gleichsam vergraben, zuweilen am Ufer eines blumigen Sees dahingleitend und dann in weiter Ebene seine Bahn verfolgend, eilte der Zug donnernd und klirrend durch das Land.

Roberts für alles Schöne so empfängliche Herz gab sich den unbekannten Freuden solcher Reise auf das ungeteilteste hin. Wenig abhängig von äußeren Verhältnissen, von Schlaf, Bequemlichkeit und Verpflegung, dafür aber mit glühender Liebe zu allem Neuen, Großartigen und Ungewöhnlichen erfüllt, beobachtete er, während seine beiden Reisegefährten Mittagsruhe hielten, die Landschaft ringsumher und versäumte nicht die kleinsten Einzelheiten derselben. Es war alles anders als zu Hause in Deutschland, wo er freilich nur von Pinneberg nach Altona, also gerade zwanzig Minuten gefahren war, wo er aber doch die Einrichtungen des Bahnwesens häufig gesehen hatte. Wärterhäuschen mit ihren friedlichen Umgebungen und Bewohnern fanden sich nicht, die Stationen waren an manchen Stellen nur hölzerne Schuppen mit hochklingenden Titeln, aber höchst ärmlicher Einrichtung. »Waterloo-Hotel« oder »Vereinigte-Staaten-Hotel« und dergleichen fand sich mehr als einmal, beim Aussteigen jedoch sah Robert nur einige Farbige, ein paar spuckende, Tabak kauende und trinkende Yankees, sowie als ganzen Vorrat an Lebensmitteln ein paar dürre Butterbrote (hier Sandwichs genannt) und ungeheure Mengen von Branntwein, den er nur ungern und mäßig trank. Meistens bezahlte er das scharfe Getränk, um dann am Brunnen seine Reiseflasche mit frischem Wasser zu füllen, und den Fusel stehen zu lassen.

An einer kleinen, ganz am Ausgang eines Waldes liegenden Station fanden unsere Freunde eine Menge von Menschen versammelt. Man sprach und gebärdete sich lebhaft, eine Gruppe von Frauen zeigte sich in großer Unruhe, und verschiedene Männer fluchten in allen möglichen Ausdrücken. Es mußte irgend ein außergewöhnliches Ereignis vorgefallen sein.

Robert sprang voran, ehe noch Mongo und Gottlieb ihm folgen konnten. Im Augenblick interessierte ihn nur das, was dort die Gemüter erregte.

Aber seine Neugierde sollte wenig Befriedigung finden. Ein paar Meilen weit oberhalb der Station war ein Bahnzug entgleist, die Schienen aufgewühlt und zum Teil mit Trümmern bedeckt und für die nächsten Stunden der Verkehr unterbrochen. Es blieb jetzt den Reisenden nur die Wahl, entweder bis zum folgenden Morgen in einigen Holzschuppen, leeren Wagen und Remisen ein Unterkommen zu suchen, oder aber mit der Postkutsche einstweilen die Fahrt fortzusetzen.

Die drei sahen einander an, und was in Roberts Augen begehrlich aufleuchtete, das erkannte der lächelnde Mongo sofort. »Hierbleiben!« neckte er, »hierbleiben, mein Bob. Nicht wahr, du hast jetzt keine Lust, mit zwanzig anderen Passagieren bei Nacht und Nebel in der engen Kutsche davonzufahren? Brr, eine kalte Partie müßte es sein.«

»Und gefährlich!« schaltete Gottlieb halblaut ein. »Es sollen noch Büffelherden hier herum ihren Wohnsitz haben.«

»Und reißende Tiere,« setzte mit besorgtem Gesicht der Neger hinzu, »und blutdürstige Indianer!«

Jetzt verstand Robert, was Mongo wollte, und die beiden lachten vergnügt. »Komm du nur mit,« versicherte der Schwarze dem erstaunten Gottlieb, »es wird dir nichts widerfahren, als nur Zähneklappern. Aber in diesen luftigen Holzställen wäre der Aufenthalt schwerlich angenehmer als dort,« setzte er hinzu.

»Und überdies hätten wir eine ganze Nacht unnütz verloren,« warf Robert ein.

Das half, um den schüchternen jungen Menschen zu bestimmen. Alle drei nahmen im Postwagen Platz – Robert auf dem Bock beim Kutscher – und fort ging es mit einem Gespann von sechs vortrefflichen Pferden in die mondhelle Nacht hinein.

Am Wegesrande zeigten sich bald fortlaufende, tief ausgetretene Geleise, die alle in einer Richtung dahinliefen und die der Kutscher dem fragenden Robert als Büffelspuren bezeichnete. »Wir werden sehr bald die Herden selbst sehen,« setzte er hinzu. »Ist es das erstemal, wo Ihr die Steppe passiert, Sir?«

Robert bejahte, und nun entwarf ihm der Kutscher, dem offenbar diese Unterhaltung auf seinem einsamen Sitz sehr willkommen war, ein ansprechendes Bild der Verhältnisse und des Tierlebens der Umgegend.

»Die Büffel bemerkt Ihr von selbst, Sir,« lächelte er, »aber beseht Euch einstweilen auch die kleinen vierbeinigen Burschen. Das sind Präriehunde.«

Robert beugte sich vom Sitz herab und gewahrte mit regem Interesse eine Anzahl kleiner Geschöpfe von dunkelbrauner Farbe mit weißem Bauchfell. Zum Geschlecht der Hamster gehörend, sind diese Tierchen ein lustiges, harmloses Volk, das in Erdlöchern wohnt, mit vergnügtem »Tschirp! Tschirp!« schweifwedelnd herumspringt und den Menschen gegenüber nicht die geringste Scheu zeigt. Robert wandte sich voll Erstaunen zu seinem redseligen Berichterstatter. »Hunde nennt Ihr diese Tiere?« fragte er.

Der Kutscher zuckte die Achseln. »›Wish-Ton-Wish‹ sagen die Indianer, Sir. Ich weiß nicht, woher der Vergleich mit Hunden entstanden ist.«

Aber Robert hatte schon wieder eine neue Entdeckung gemacht. »Seht doch, seht,« rief er, »vor jedem dieser Erdlöcher sitzt eine kleine Eule!«

» Well, Sir, die Tiere wohnen beieinander, und außerdem auch noch Klapperschlangen, gehörnte Eidechsen und Landschildkröten. Der Wish-Ton-Wish baut die Höhle, und das andere Völkchen nimmt ungebeten Besitz davon; der Wish-Ton-Wish schleppt die Wintervorräte zusammen, und die übrigen verspeisen den Raub, – so geht es oftmals im Leben, Sir.«

Robert seufzte heimlich. Aber hier war keine Gelegenheit, sich in Grübeleien zu versenken. Auf jedem Schritt, bei jeder Drehung der Räder begegneten neue Wunder seinen Blicken. Ein Tier von schmutzig-gelbem, grauschillerndem und langhaarigem Fell, etwas kleiner als ein gewöhnlicher Wolf, mager und mit falschen, feigen Augen umschlich die nächsten Gebüsche. Es blieb in scheuer Entfernung, obgleich es das vorüberrasselnde Gefährt fortdauernd beobachtete.

»Wie heißt dieser widerwärtige Bursche?« fragte Robert.

Der Kutscher schlug in der Richtung des wolfsartigen Tieres kräftig mit der Peitsche durch die Luft, worauf der graue Schatten wie in den Boden hinein verschwand. »Nicht wahr,« rief er grimmig, »das ist ein Schurkengesicht, ein Hungerleider, ein falscher Patron! Sage Euch, Sir, es gibt mir allemal einen Stich durchs Herz, wenn ich solchen Burschen sehe. Vor einiger Zeit stürzte mir mitten auf dem Wege das Handpferd und blieb mit gebrochenem Bein im Sande liegen. Na, da mußte ich es totstechen, Sir, um es zu erlösen, aber das Herz tat mir weh dabei, kann ich versichern. Hatte mit dem braven Bill schon seit dem Jahre 1865 diesen Weg befahren, als noch der Indianerhäuptling Cut-nose (Schlitznase) mit seiner braunen Horde die Gegend unsicher machte und alle Passagiere den geladenen Revolver fortwährend in der Faust hielten. Aber für den Tod ist kein Kraut gewachsen, Sir, – mußte den alten Bill mit zerschnittener Kehle liegen lassen, hatte ja keine Zeit, ihn zu begraben, und – ich sah nun alle Tage, wenn mich mein Weg vorüberführte, auf seinem armen Körper die Coyotes sitzen und gierig das Fleisch von den Rippen zerren, seitdem hasse ich die Bestien. Ein lebendiges Tier greifen sie nicht an, aber Leichen sind selbst unter der Erde vor ihren Krallen nicht sicher. Sie gleichen an Raubgier und Feigheit ganz den Hyänen.«

Die Postkutsche hatte während dieser langen Erzählung ihren Weg weiter verfolgt, der Coyote kam nicht wieder zum Vorschein, aber noch eine Menge von anderen Tieren bevölkerte die Nacht. Beutelratten trippelten durch das Gras, Schwärme von Kibitzen und Raben segelten durch die Luft, hier und da zeigten sich wunderhübsche braune Antilopen, diese schlanken, rehäugigen, poetischen Geschöpfe, deren Schönheit kaum beschrieben werden kann, die aber gegen den Menschen niemals vertraulich sind, sondern die Flucht ergreifen, sobald nur irgend eine Bewegung ihren Verdacht erregt.

Dazwischen lagen überall am Wege bleichende Tiergerippe, namentlich solche von Büffeln, wie denn auch die Spuren dieser Riesengeschöpfe immer deutlicher aus dem weichen Boden hervortraten, bis zuletzt ihre schwarzbraunen Gestalten erst vereinzelt und dann immer zahlreicher erschienen. Roberts Herz pochte mit schnelleren Schlägen. Wieviel Merkwürdiges, wieviel Schönes erschloß ihm in dieser Nacht die Natur! – –

Seine Seele wurde weich, seine Einbildungskraft trat zurück gegen die Schöpfungsfülle der Wirklichkeit, sein stürmender Eigenwille zerschmolz in Bewunderung und fast furchtsam tauchte der Blick in die mondhelle Unendlichkeit.

Ein Gefühl, das nur die Guten, die Edleren überschleicht, bemächtigte sich seines Innern. Er empfand die Bedeutungslosigkeit des einzelnen gegenüber dem All, – und er empfand tief im erschütterten Herzen die Vermessenheit des einzelnen, sich aufzulehnen gegen Gottes milde und weise Gesetze.

Hätte er doch in diesem Augenblick am Bette seines kranken Vaters knieen und den Kopf in des Greises zitternden Händen verbergen, hätte er doch mit stummen Tränen bitten können »Vergib mir!«

Eine lange Pause der Unterhaltung folgte den letztgesprochenen Worten; beide, der Kutscher und Robert, mochten ernsten Gedanken nachhängen, beide sich des Eindruckes bewußt sein, den die malerische Umgebung hervorbrachte.

»Wißt Ihr, Sir,« begann endlich der Amerikaner, »ich fahre nun seit sechs Jahren und darüber täglich durch diese Gegend, aber so oft ich komme, scheint sie mir neu. Das macht das Großartige, glaube ich, das Wilde, Ursprüngliche. Wenn Meilensteine am Wege ständen, und Straßengräben und Wirtshäuser vorhanden wären, dann käme auch gewiß die Langeweile mit herangezogen, so aber ist alles das in jeder Stunde neu und doch wie ein lieber alter Bekannter, den man freudig begrüßt, wenn er zur Tür hereintritt. Und glaubt Ihr wohl, Sir, daß diese Gegend ihren Dichter hatte? – ich habe ihn selbst gekannt, damals zu Schlitznases Zeiten, der hat die Fahrt mit mir und dem alten Bill, den die Coyotes fraßen, oft gemacht; – wollt Ihr einmal hören, was er schrieb, da auf Eurem Sitz und auf dem Einband eines Buches, das er bei sich trug? Mir hat er's zuerst vorgelesen, nachher aber ist's gedruckt worden.«

Und der Amerikaner, ganz erfüllt von seinem Gegenstande, begann in wenig künstlerischer, aber begeisterter Weise ein einfaches Lied zu singen, das in treffenden Bildern das Leben in den Wäldern und Prärien des Landes schilderte.

Mit einem lustigen Peitschenknall, der das Sechsgespann zu erhöhter Eile antrieb, schloß der brave Rosselenker die letzte Strophe des Gedichtes, das auf seinem Kutschbock geschrieben worden war, und das er sicherlich vielen nachkommenden Reisenden schon vorgetragen hatte. »Seht nur, seht,« rief er, »da sind auch die Buffalos ohne Zahl bereits in nächster Nähe!«

Und wirklich befand sich die Postkutsche jetzt auf dem Weideplatz der schwarzbraunen Hörnerträger. Von allen Seiten stürmten in brausendem Galopp die Tiere heran, ihre Hufe erdröhnten auf dem samtnen Rasen, ihre Nüstern stießen mit Geräusch den Atem aus, ihre kurzen Hörner wühlten die Erde in Wolken herauf. Dicht hinter dem plumpen, unförmlichen Hals erhob sich ein buschiger Höcker, während der Vorderkörper mit der gewaltigen Brust und dem dicken Kopfe zum Hinterteil in keinem richtigen Verhältnis zu stehen schien. Der gewaltige Rumpf und die schlanken, fast zierlichen Beine, die feurigen Augen und der große häßliche Kopf paßten durchaus nicht zu einander.

Robert bemerkte indessen, daß die schwerfälligen, etwa acht Fuß messenden Tiere doch schneller als ein Pferd zu laufen vermochten, namentlich aber, daß ihnen eine wahrhaft riesige Körperkraft innezuwohnen schien. Der Kutscher sagte auch, daß die Büffel zur Landwirtschaft nicht verwendet werden können, weil ihre Wildheit und wahrhaft unberechenbare Kraft aller Schranken spottet. Ihnen ist kein Zaun zu stark, kein Graben zu breit und kein Ackerwagen zu schwer, um nicht seine Trümmer am Wegesrande aufzuhäufen.

Jetzt befand sich die Kutsche mitten in der unübersehbaren Masse der auf ihrer großen Herbstwanderung begriffenen Tiere. Zuweilen mußte im Schritt gefahren, zuweilen ganz innegehalten werden, so dicht umdrängten die Büffel das Gespann und die Räder. Mit lang heraushängender Zunge, vorgestrecktem Hals und krummem Buckel rannten die braunen Riesen scheu an der Postkutsche vorüber, während dagegen die jüngeren Kälber neugierig herankamen und sofort von ihren Müttern wieder zur Herde zurückgeführt wurden. Etwa zwei Stunden Weges fuhr der Wagen durch die endlosen Bild Massen von Tieren, und erst nachdem mehrere Tausende derselben passiert waren, erschien die Ebene wieder frei. Robert atmete auf, als die Kutsche in schnellere Bewegung geriet. So wenig er sich gefürchtet! hatte, so großartig war doch der Anblick dieser ganzen Szene gewesen, – er schwieg aus Bewunderung.

Dann aber fiel es ihm ein, sich nach seinen Gefährten umzusehen. Das Innere des Wagens war mittels einer Hängelampe trübselig erleuchtet, so daß er in den Reihen der übrigen auch Mongo und Gottlieb leicht erkennen konnte. Der Neger schlief den Schlaf des Gerechten, wobei sich sein Wollenhaupt vertraulich gegen Gottliebs Schulter gelehnt hatte. Dieser dagegen wachte! Seine blauen, gutmütigen Augen sahen mit dem Ausdruck innerster Herzensangst aus dem gegenüberliegenden Fenster, während die rechte Hand den geladenen Revolver schußfertig hielt. Der schüchterne junge Mann wagte es offenbar nicht, sich auf seinem Platz zu bewegen, sondern saß steif, wie eine hölzerne Puppe, indes zuweilen, wenn der Wagen besonders hart stieß, die Rechte mit dem Revolver sich vorsichtig erhob, um Mongos herabgleitenden Kopf ein wenig wieder aufzurichten.

Robert lachte in sich hinein. Das Bild war urkomisch, obwohl es auch sein Rührendes hatte. Gottlieb dachte ja nie an sich, sondern immer nur an andere, er ging willig in jedes neue Verhältnis hinein, aber das Unbehagen und die heimliche Furcht verließen ihn nie, das Bild des kleinen, niederen Krämerladens daheim in Pinneberg schwebte wie die Erinnerung an ein verlorenes Paradies beständig vor seinen geistigen Blicken.

Und doch war dieser gutmütige, harmlose Bursche vielleicht bestimmt, ein langes, wechselvolles Leben hindurch mit äußeren Widerwärtigkeiten zu ringen, und niemals – niemals das Ziel seiner stillen Sehnsucht, einen eng begrenzten, kleinen Wirkungskreis zu erreichen. Aber er ertrug das Unvermeidliche mit Selbstverleugnung und Würde, er war frei von aller Selbstsucht, das machte ihn so liebenswürdig.

Robert wandte sich ab, wie auf etwas Unrechtem ertappt. Ob er jemals so gut, so anspruchslos werden würde wie Gottlieb! –

Er knüpfte das Gespräch mit dem Kutscher wieder an, und beide unterhielten sich, bis es gegen Morgen etwas kälter über die Ebene dahinwehte und an den Wolkenrändern die ersten gelblichen Streifen erschienen. Der Rosselenker reichte seinem jungen Begleiter eine Büffeldecke, in welcher sich dieser gänzlich einhüllte.

»Es gibt heute noch Regen,« sagte er. »Ihr hättet Euch besser mit Plaids und Decken versorgen sollen, Sir.«

Robert lächelte. »Ein Seemann scheut die Nässe nicht,« versetzte er. »Aber weshalb meint Ihr, daß wir bei diesem prachtvollen Wetter Regen zu befürchten hätten?«

Der Kutscher deutete mit dem Peitschenstiel auf die blutrote Scheibe, hinter welcher sich am östlichen Horizont die Sonnenkugel verbarg. »Wißt Ihr nicht, daß diese dunkle Färbung einen nassen Tag verkündet?« fragte er. »Hat Euch Eure vortreffliche Frau Mutter nie gesagt, daß das Morgenrot Wasser in den Brunnen trägt?«

Robert nickte. »Freilich,« antwortete er, »man hat ein solches Sprichwort, aber ich legte wirklich nie viel Gewicht darauf. Und, Freund – wenn Ihr mir die Sache nicht erklären, sondern sie nur einfach behaupten könnt, dann glaube ich auch Euch keineswegs.«

»Seid Ihr aber ein Starrkopf!« lachte der Kutscher. »Ich kann indessen den Beweis führen, Sir. Seht, an jedem Abend senkt und an jedem Morgen hebt sich der Erdendunst, der Stickstoff, welcher unsere Atmosphäre füllt und hinter dem, für unsere Blicke, die Sonne sich verbirgt. Ist von diesem schweren, feuchten Niederschlag nur eine geringe Menge vorhanden, so erscheint das durchscheinende Licht in heller und rosiger Farbe, ist aber die Luft von Dünsten übersättigt, so verhüllt ihre Dichtigkeit gleichsam das Sonnenbild mit dunklerem, tief purpurnem Flor, während anderseits die eingesogene Nässe vermöge ihrer Schwere zur Erde drängt, oder mit anderen Worten, während die straffgespannten Wolken in einem Regenfall ihren Inhalt ergießen. So ist's, Sir, und ich hoffe, daß Ihr jetzt das Sprichwort Eurer Frau Mutter besser verstehen gelernt habt. – Dort hinter den Gebüschen ist übrigens die Station,« setzte er hinzu, »und wenn mich nicht alles trügt, so wird in einer kleinen halben Stunde der Zug von hier abgehen,«

Er bog über eine Lichtung und lenkte in eine holprige Straße, an deren Seiten einige hölzerne Häuser die »Stadt« verkündeten. Vor dem Bahnhofsgebäude hielt nach vierzehnstündiger Fahrt der Wagen.

Robert kletterte vom Bock und öffnete die Tür des inneren Raumes. »Hallo,« rief er, »habt ihr endlich ausgeschlafen, ihr beiden?«

Gottlieb sah ihn an wie einen, der aus naher Todesgefahr noch glücklich errettet wurde. »Ich habe mich um dich so sehr geängstigt,« sagte er. »Wenn nun die entsetzlichen Tiere den Wagen angegriffen hätten?«

Unser Freund lachte. »Dann wärest du ja nicht besser beschützt gewesen, als ich,« antwortete er.

Gottlieb errötete. »Wenn auch, du, aber – ach, es ist doch schrecklich, solches Leben, wo man immer den Tod hinter sich weiß, und jeden Augenblick fürchten muß, daß er zugreift.«

Und seufzend, mit angstvollem Rundblick, kletterte er aus der Tür, um sich dicht an Roberts Seite zu halten. »Laßt uns ins Haus gehen,« bat er, »Mongo erwacht schon.«

Der Neger hatte ausschließlich geschlafen, weder die Schönheit der Umgebung bewundert, noch sich vor ihren Schrecken gefürchtet, sondern von Afrika geträumt, und daß er den Königsthron von Dahomey wieder besteigen solle.

»Du,« sagte er, »mein Bob, ich könnte es doch nicht mehr!«

»Was denn, Alter?«

»Ja so, du hast's nicht mit erlebt, obgleich ich dich immer an meiner Seite sah, das vergaß ich. Aber komm nur herein, mein Junge, damit wir einen tüchtigen Trunk Whiskey erhalten. Mir träumte, ich sei im Königspalaste von Dahomey und man reichte mir Blut aus einem Menschenschädel, – brr! – das war gräßlich.«

Und alle dreie verließen die offene Straße, um sich in das Brettergebäude zu begeben, wo wieder gegen teure Preise der Branntwein und einige schwindsüchtige Butterbrote verabreicht wurden. Aber dem Hungernden erscheint auch das erbärmlichste Mahl noch ein Hochgenuß; der Wirt konnte kaum so viel Vorrat herbeischaffen, als von der durchfrorenen, zusammengerüttelten Reisegesellschaft begehrt wurde, und lange nicht alle Passagiere waren gesättigt, nachdem der schrille Pfiff der Lokomotive zum letztenmal ans Einsteigen gemahnt. »Vorwärts!« rief Robert, »noch zwei Tage und eine Nacht, dann ist unser Ziel erreicht.«

»Dann suchen wir Gold!« fügte mit glänzendem Blick der junge Krämer bei. »Robert, was beginnst du, wenn dir ein tüchtiger Gewinn in den Schoß fällt?«

Unser junger Freund bot treuherzig und lebhaft zugleich dem Jugendgefährten die Hand. »Dann baue ich dir in Pinneberg das herabgebrannte Haus der Eltern wieder auf, Gottlieb,« rief er. »Jeder Nagel, wie du ihn früher gewohnt warst, jedes Brett und jedes Schubfach. Du sollst glauben, daß die ganze Zwischenzeit ein böser Traum gewesen.«

Gottlieb drückte stumm die dargereichte Hand. »Und du, Mongo?« fragte er nach einer längeren Pause, »was tätest du?«

Der Neger schüttelte den Kopf. »Ich habe einen Sohn,« sagte er, »und wenn die Summe nur klein wäre, so müßte sie für ihn sein, – besäße ich indessen Schätze, dann sollten sie meinen armen Unglücksbrüdern zugute kommen, dann würde ich in Afrika Schulen errichten und das Volk frei machen aus dem Joch der Unwissenheit und des Aberglaubens. Dahomey müßte ein zweites Liberia werden.«

Gottlieb legte die Hand über die Augen und blieb lange stumm. Es schien, als könne er den Gedanken, welcher ihn durchflutete, kaum unausgesprochen ertragen, viel weniger aber demselben Worte verleihen. »Laßt's gut sein,« brachte er endlich hervor, »wenn uns Gott nur soviel Gelingen schenkt, daß wir unser täglich Brot essen und ein paar Taler zurücklegen.«

Robert sprach nicht, aber im innersten Herzen dachte er: »Ich brauche zweihundert Dollar, dann kann ich das blaue Meer wieder aufsuchen und kann im Elternhause als Mann auftreten. – Nur zweihundert Dollar!«

Und der Eisenbahnzug donnerte dahin über Berg und Tal, die mitreisenden Passagiere sangen deutsche Lieder. Die Herbstluft wehte spielend gelbe Blätter in den Wagen, die Herzen schlugen heimlich schneller mit jeder Station, die am Wege zurückblieb.

Nur ein Gedanke erfüllte alle diese Seelen. »Gold! Gold!«

Der Lebensnerv der Menschheit, der Grundpfeiler des Staatenbaues, die Bedingung zum Glücke, – und doch ein Erdenstaub wie Ton und Kiesel, – Gold! – Gold! –


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