Sophie Wörishöffer
Robert des Schiffsjungen Fahrten und Abenteuer auf der deutschen Handels- und Kriegsflotte
Sophie Wörishöffer

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Fünftes Kapitel

Todesnot und Rettung

Wie trostlos war der heutige Heimweg gegen den von gestern. Damals konnte er hoffen, eine weiche Lagerstätte und eine wohlgefüllte Vorratskammer anzutreffen, er besaß bei aller Verlassenheit, bei allen Gefahren seines unsichern Schicksals doch ein Heimwesen, ein Zuhause, das ihm gehörte und wo er wohnte, jetzt dagegen mußte er fürchten, nur noch eine Stätte schrecklichster Verwüstung wieder vorzufinden. Alle Zuversicht, aller Mut war dahin. Ach, wenn es Tag gewesen wäre, als jenes Schiff so nahe an der Küste auf den Wellen lag, oder wenn er es nie, nie gesehen hätte!

Unempfänglich für die frische neuerblühte Schönheit der Natur, für den doppelt süßen Hauch der Blumen und den jubilierenden Wettgesang der Vögel ging er langsam durch den Wald. Was seiner harrte, das wußte er ja nur allzu wohl.

Und der trostlose Gedanke sollte ihn nicht täuschen. Als er sich der Höhle näherte, sah er schon von weitem den ganzen Umfang des Bild angerichteten Schadens. Fast alle Planken waren aus ihren Fugen gerissen, der Herd umgestürzt, die Kochgeräte unter Schlamm vergraben und – als das Schlimmste–die Lebensmittel durchnäßt.

Der kleine Bach, sonst wie ein klarer blauer Spiegel, sanft murmelnd und plätschernd, schoß heute mit wildem Ungestüm, seine Ufer überflutend dahin, und wälzte gelbe, schlammige Wellen dem Meere entgegen. Abgebrochene Zweige, Blätter und Halme aller Art trieben auf der Oberfläche.

Jetzt freilich schien die Sonne heiß und freundlich vom Himmel herab, aber auf ein Bild der entsetzlichsten Verwüstung. Robert stand an einem Baume und sah starren Blickes in die Verwirrung hinein. Wo sollte er nun beginnen, um wieder ein geordnetes Heimwesen herzustellen, was konnte er tun, diesem triefenden, schlammüberzogenen Durcheinander, diesen durchweichten Vorräten und dem ungenießbaren Trinkwasser gegenüber?

Vor der Hand gab es zum Frühstück nur Wein und eine Ananas, die er auch erst aus einem Bette von Schlamm herausgraben mußte, bevor sie sich pflücken ließ. Aber das tat nach der Anstrengung und Aufregung der letzten Nacht, bei ganz durchnäßten Kleidern und tiefster Hoffnungslosigkeit des Gemütes gar nicht wohl, er fühlte ein Frösteln, als die kalte Frucht in seinen Magen gelangte. Hätte er nur ein wenig Wasser gehabt, um Kaffee kochen zu können! Aber dieser mißfarbige Schlamm war nicht trinkbar; er mußte vor der Hand jeden derartigen Gedanken aufgeben.

Nachdem ein Teil der Ananas verzehrt und ein Glas Wein dazu getrunken war, machte sich Robert daran, seine Lebensmittel zu untersuchen. Die Sacke mit Hülsenfrüchten hatten zwar unter Dach gelegen, aber der hereindringende Sprühregen war doch stark genug gewesen, sie zu durchnässen. Besonders das Brot und die Kartoffeln mußten als halb verloren angesehen werden. Robert warf den größten Teil ohne weiteres fort und suchte dann nach einigen trocken gebliebenen Brettern, die er in die Sonne legte und darauf den Rest sorgfältig ausbreitete. Ebenso machte er es mit den wollenen Decken, die sämtlich von Wasser und Schlamm durchdrungen waren.

Dann begann er seine Wände auszubessern. Nägel und Werkzeug standen ihm hinreichend zu Gebote, daher war diese Arbeit bald vollendet, aber ohne das Herz des unglücklichen Knaben in etwas wieder ermutigen zu können. Wenn in der nächsten Nacht ein neues Gewitter kam, so hatte er ja doch umsonst gearbeitet, – das drückte ihn fast zu Boden.

Um aber jedenfalls alles aufzubieten, was er zu seiner Sicherung tun konnte, ergriff Robert den Spaten und begann hinter der Bretterwand einen festen Erdwall herzustellen, den er außerdem noch mit größeren Steinen dichter und schwerer einstampfte. Das ging nun freilich langsam vonstatten, aber es versprach doch ein tüchtiges, seinen Zweck erfüllendes Werk zu werden, daher blieb Robert unverdrossen den ganzen Tag hindurch beim Schaufeln und Niederpressen, so daß gegen Abend ein schräger Erdwall vom Boden bis zu dem niederen Felsendach hinausragte. Jetzt konnte der Regen kommen; er würde wenigstens nicht eindringen können, bevor die Decken in Sicherheit gebracht waren.

Diese selbst hatte die Sonne vollständig getrocknet, aber sie knisterten unter den Fingern und entsandten große Staubwolken, so oft er sie schüttelte; auch der Fußboden war noch naß, und an frisches Moos war natürlich gar nicht zu denken. Robert klopfte so lange mit einem dünnen Stöckchen darauf los, bis wenigstens die getrocknete Erde herausgefallen war, dann legte er die Decken und sich selbst auf zwei leere Kisten, wo er, so gut es eben ging, zu schlafen suchte.

Während des ganzen Tages hatte er nur Wein und Früchte genossen, daher freute es ihn sehr, am folgenden Morgen den Bach so ziemlich zu seiner früheren Klarheit zurückgekehrt zu sehen. Er wusch eiligst die Kochgeschirre, suchte das sonnigste Plätzchen und holte von dem in der Höhle versteckt gewesenen Brennholz einen Arm voll herbei, um Feuer anzumachen.

Die lustigen Flammen und endlich gar der kräftige Kaffee gaben ihm einigermaßen Mut und Zuversicht wieder zurück, nichtsdestoweniger saß es wie ein heimliches Frösteln oder Schaudern in allen seinen Gliedern; er tat die notwendigen Arbeiten fast gedankenlos, als gehe ihn das nicht persönlich an, und oftmals ertappte er sich auf einem unwillkürlichen Horchen. Seit jene Kanonenschüsse über den mitternächtigen Wald daherrollten, war Robert ein anderer Mensch geworden. Die grausame Täuschung ließ sich nicht wieder verschmerzen.

Er untersuchte, nachdem das übrige getrocknet war, jetzt auch seine Fleischtonnen. Aus der einen, welche das bedeutend empfindlichere Schweinefleisch enthielt, quoll ihm ein Duft entgegen, der alle weitere Mühe überflüssig machte. Er versenkte das ganze Fäßchen in die Grube, woraus er den Bedarf für seinen Erdwall entnommen und überschüttete es mit einer mehrere Fuß hohen Schicht von Lehm, dann setzte er die Untersuchung fort. Das Rindfleisch war noch wohl erhalten, ebenso der Speck.

Robert säuberte nun das Innere seiner Wohnung von den Überbleibseln des Schlammes und sammelte dann Moos, um es zu trocknen. Bei dieser Gelegenheit erblickte er zufällig die ganz vergessenen Überreste seiner Fischmahlzeit. Freilich konnte von diesem Gemengsel kein Labskausch mehr gebraten werden, aber ein anderer Gedanke tauchte plötzlich in ihm auf. Diese langen spitzen Gräten – sollten sie sich nicht zu Nähnadeln gebrauchen lassen?

Sein Anzug war ja kaum noch ein solcher zu nennen. Nur Fetzen und Lumpen hingen noch von seinen Schultern herab. Er ergriff schleunigst das Rückengerüst des Fisches und prüfte die Stärke der Gräten. Sie waren fest genug, um jedes Zeug durchbohren zu können, aber es ließ sich an ihnen kein Faden befestigen. Robert sann nach, bis ihm einfiel, mit der Gräte in ein ganz dünnes, leichtes Stück Holz hineinzubohren und auf diese Weise ein Öhr herzustellen, das dem einer Nadel an Verwendbarkeit glich. Er breitete das gesammelte Moos auf Segeltüchern im Sonnenschein aus und machte sich dann daran, mit seinem Taschenmesser ein Stückchen Holz ganz platt zu schneiden. Er wollte erst das kleine Loch hineinbohren und späterhin der Nadel ihre Form geben, damit nicht etwa ein plötzlicher Spalt die stundenlange Mühe jählings zu nichte machen könne.

Das Essen hatte ihm am Mittag nur halb so gut als sonst geschmeckt; ausgehen oder jagen wollte er heute nicht, und vor dem Anblick des Meeres empfand er, seit es ihn kürzlich so arg betrogen, eine Art von Grauen, daher widmete er seine ganze Zeit der Nähnadel, welche ihm zu einem neuen Anzug verhelfen sollte. Das Durchbohren des Holzes erwies sich indessen als keineswegs leicht; Gräte nach Gräte zerbrach, und Robert wurde immer ärgerlicher. Dann aber kam ihm ein glücklicher Gedanke, den er auch sofort ausführte. Die ursprünglich gehegte Absicht, das Holz zu bohren, gab er auf und schnitt anstatt dessen die stärkste Gräte mit dem Messer aus der Reihe der übrigen heraus. Nun legte er ein ganz spitzes Hölzchen zum Feuer und ließ es heiß werden. Die Flammen ausblasend, drückte er das glühende Ende auf die obere Seite der Fischgräte und siehe da, – ein leichtes Zischen bewies, daß eine Wunde entstanden sein müßte. Wie oft hatte er in dieser Weise seine Mutter ein Fischbeinstäbchen durchbohren sehen, und waren denn die Gräten von anderem Stoff als jenes? – Freilich nahm die Mutter dazu eine Haarnadel und hatte also ein bedeutend besseres Werkzeug als er, aber mit den kleinen Splittern des sehr harten Holzes ging es zur Not auch, obgleich weit schwerer und in viel längerer Frist.

Robert blieb geduldig. Er wendete von Zeit zu Zeit das feuchte Moos und warf das getrocknete in eine Kiste, dann arbeitete er weiter an dem winzig kleinen Nadelöhr, das doch zu seiner Herstellung einer so großen Mühe und Beharrlichkeit bedurfte. Heimlich dachte er dabei der vielen bitteren Verwünschungen, die er vor Zeiten auf alles, was Nähnadel hieß, herabgerufen. Ob das Schicksal die törichten Worte gehört hatte? Ob er gerade dafür zur Strafe jetzt so unermüdlich das Stück Holz in seiner Hand zuspitzen, ins Feuer stecken und wieder zuspitzen mußte, immerfort – ohne Rast und Aufenthalt?

Er schloß ermüdet die Augen. Es war ihm alles so gleichgültig geworden, so fremd; er arbeitete nur, um nicht müßig dazusitzen.

Und endlich, endlich, als er zum hundertstenmale die Gräte an das Licht hielt, zeigte sich, daß sie durchbohrt war. Ein Gefühl des Stolzes hob Roberts Brust. Wenn er jetzt ohne Kreide, ohne Zwirn und Schere, nur mit einer Fischgräte und zerfasertem Segelgarn einen Anzug herstellte, so war das gewiß ein Werk, welches ihm nicht jeder Schneider Bild nachmachte. Er mußte unwillkürlich lächeln. Vater und Großvater und Urgroßvater, alle Krolls, so weit sich der Stammbaum der Familie zurückführen ließ, hatten ja mit gekreuzten Beinen auf dem Tisch sitzend das Leben durchstichelt, aber wie würden sie sich entsetzt haben, und wie würden sich ihre Gebeine noch im Grabe umdrehen, wenn sie sehen müßten, daß der letzte Sproß dieser ansehnlichen Reihe von Schneidern das Handwerk mitten im Urwalde und unter Beihilfe einer Fischgräte fortführte! –

Robert schüttelte das trockene Moos auf die Stelle, wo er zu schlafen pflegte, und räumte seine Decken wieder ein, so daß jetzt wenigstens ein gutes, weiches Lager nicht mehr fehlte. Draußen sah es noch fürchterlich aus; die Zweige geknickt und das Gras zerstampft, der ganze Boden feucht und aufgewühlt, als hätten dort Soldaten exerziert, – aber Robert kümmerte sich nicht darum. Er konnte für heute nicht mehr sehen, daher legte er sich ohne Nachtessen zu Bette und träumte fortwährend von dem Schiff, das im Schlaf und im Wachen seine Gedanken beschäftigte. Er sah sich auf dem Mangobaume sitzen und rund um ihn herum war es heller sonniger Tag. Die Kameraden auf dem stattlichen Dreimaster, der gerade an die Küste herankam, hatten ihn längst bemerkt, sie winkten ihm, sie riefen ihn an und er wollte so schnell als möglich zur Erde klettern. –

Wer aber im Traume fällt, der hat das Gefühl, als weiche unter ihm aller fester Halt, als stürze er ins Bodenlose, der erwacht mit klopfenden Pulsen und Schweißtropfen auf der Stirn, atemlos wie jemand, der lange und anstrengend gelaufen.

Auch Robert fuhr heftig vom Lager empor. »Das Schiff!« murmelte er, »das Schiff!«

Dann aber erkannte er seine Umgebung, atmete die drückende Luft des engen, rings verschlossenen Raumes und taumelte auf, um zu trinken. Die Zunge klebte ihm fest am Gaumen, seine Stirn brannte, Fieberdurst raste in allen seinen Adern.

Er kroch durch die niedere Tür hinaus in den Vorraum und hob das dort stehende Gefäß mit Wasser zum Munde, um zu trinken. Aber wie kalt war der Wind, wie durchschauerte es ihn und trieb ihn zurück unter die schützenden Decken!

Er mußte krank sein, das fühlte er mit unbesieglichem Grauen! – –

Schon wandte er sich, um wieder in die Höhle zu schlüpfen, als zufällig sein Blick in die nächste Umgebung streifte. Er fuhr mit der Hand über die Augen.

Dort, wo das Mondlicht, von Blättern und Zweigen gedämpft, zwischen den hohen Stämmen am Boden spielte, in der Nähe der aufgestapelten Kisten mit Wein, – bewegte sich nicht im Gebüsch eine menschliche Gestalt?

Nur Augenblicke währte die Erscheinung, nur wie ein Schatten glitt sie zwischen dem Grün dahin, aber dennoch, dennoch – –

Ein Schauder durchrieselte Roberts ganzen Körper. Wie gebannt, gelähmt blieb er stehen und starrte unverwandt hinüber. Nein, nein, es war unmöglich, er konnte sich nicht täuschen, er hatte deutlich einen Menschen, einen Mann in Schifferkleidern durch die Zweige schlüpfen sehen. Noch jetzt bewegten sich dieselben, wie nach einer unsanften Berührung.

Roberts geistige und körperliche Kräfte kehrten plötzlich zurück. Er trat auf den freien Platz hinaus und rief mit lauter Stimme:

»Wer ist da?«

Aber nur der Nachtwind antwortete ihm. Kein Laut unterbrach die tiefe Stille.

Robert lauschte, und dann rief er wieder, bis es ihm kalt über den Rücken herabrieselte und er sich selbst für wahnsinnig hielt, bis ihn in der pfadlosen Wildnis die eigene Stimme wie ein unheimliches Etwas erschreckte.

Im dichten Gebüsch zu suchen wäre unmöglich gewesen, da die Dunkelheit jede Flucht begünstigt haben würde, und da sich der Fliehende in nächster Nähe hätte verstecken können, ohne gesehen zu werden. Wer war er überhaupt? – ein Mensch oder ein Gebilde des wachen Traumes, ein Schatten, den die Mondstrahlen neckisch hervorgezaubert? –

Robert wußte es nicht. Er glaubte bestimmt, die Erscheinung gesehen zu haben, aber dennoch, woher sollte sie gekommen sein und warum sollte sie sich verbergen wollen?

Wenn die Piraten den Schlupfwinkel ihres entflohenen Opfers wirklich aufgespürt hätten, so würden sie keinesfalls zögern, sich mit offener Gewalt des Raubes zu versichern und den lästigen Zeugen dieser Unternehmung beiseite zu schaffen. Wen sollten sie auch fürchten? Was sollte sie verhindern, einen wehrlosen Knaben zu töten, nachdem sie bereits eine ganze Schiffsmannschaft hatten verschwinden lassen?

Die Insel war klein, vielleicht eine bis anderthalb Meilen im Durchmesser, und kaum so lang als breit. Robert hatte sich auf seinem letzten Ausfluge völlig überzeugt, daß sich hier keine Ansiedelung vorfand, daß er der einzige Bewohner war, und daß das nächste benachbarte Eiland etwa auf Kanonenschußweite entfernt lag.

Woher sollte also jener Seemann gekommen sein? Ein Unglücklicher, ein Schiffbrüchiger war er ja keinesfalls, da ihm sonst nicht in den Sinn gekommen wäre zu entfliehen.

Robert schüttelte den Kopf. Er hatte so lebhaft an das entschwundene Schiff gedacht, daß sein Auge Gestalten erblickte, die in Wirklichkeit nicht vorhanden waren. Und doch berührte ihn dieser kleine Zwischenfall äußerst unangenehm. Er schob eine Kiste vor die Tür, ehe er sich zum Schlafen hinlegte, und konnte auch dann noch während längerer Zeit kein Auge schließen. Unwillkürlich horchte er, ob nicht irgend ein Geräusch die Wiederkehr des Unbekannten verraten werde, aber alles blieb still wie am ersten Schöpfungstage.

»Hätte ich Pikas hier!« dachte Robert, »hätte ich nur irgend ein lebendes Wesen, und wäre es ein dummes kleines Vögelchen, Aber so ganz allein, das ist schrecklich.«

Er wälzte sich unruhig auf dem heißen Lager und schlief erst gegen Morgen ein. Als dann die Sonne hoch am Himmel stand, machte er sich daran, die ganze nächste Umgebung der Höhle genau zu untersuchen, aber ohne einen besseren Erfolg als am vorigen Abend. Es war keine Spur eines menschlichen Daseins aufzufinden, kein Anzeichen, daß hier jemand über den Weg gegangen.

Robert wanderte bis an den Strand, überblickte das Meer nach allen Richtungen, forschte auch an der Küste des gegenüberliegenden Eilandes mit spähenden Blicken nach einem Schiff oder Boot, aber nichts zeigte sich dem suchenden Auge, keinen Laut vernahm das Ohr.

Robert wandte sich seiner Niederlassung wieder zu. Er war jetzt vollkommen überzeugt, in der verwichenen Nacht nur besonders lebhaft geträumt oder gar gefiebert zu haben und gab seufzend die letzte Hoffnung verloren. Jetzt galt es für den Augenblick sich einen neuen Anzug zu fertigen, daran allein mußte er denken, obgleich es ihm lieber gewesen wäre, sich wieder hinzulegen und in den Tag hineinzuschlafen.

Er wählte aus dem reichlichen Vorrat aller möglichen Stoffe den dunkelsten und haltbarsten aus, dann schnitt er einen langen Streifen Segeltuch, nahm an seiner eigenen Person das Maß und begann nun mit dem Taschenmesser auf einer Kiste zuzuschneiden. Anstatt der Knöpfe würde er Bindfaden verwenden müssen, das ließ sich nicht ändern, und Futter gab es auch nicht. Aber dennoch war alles besser als die Lumpen, welche er jetzt trug, und nachdem die mühevolle Arbeit des Zuschneidens beendet, nahm unser Freund eine Rolle Bindgarn, das er aufdrehte, bis der Faden zum Nähen verwendbar erschien; dann holte er seine künstliche Nadel herbei und fädelte ein.

Aber an das Mittagsessen mußte ja auch gedacht werden, obwohl Robert nur wenig Hunger verspürte. Er machte also Feuer, setzte Fleisch und Bohnen hinzu und teilte gewissenhaft seine Aufmerksamkeit zwischen dem werdenden Gerichte und den werdenden Beinkleidern. Ach, wie das langsam vonstatten ging, wie oft der Faden riß und wie groß die Stiche wurden!

Aber es hielt zusammen, und das war die Hauptsache. Robert behandelte seine Fischgräte, als sei sie ein Diamant von unschätzbarem Werte; er zog sorgsam jeden Faden empor, immer in der Furcht, das mühsam hergestellte Nadelöhr plötzlich zerbrechen zu sehen, er bohrte, wo der Stoff doppelt und dreifach übereinander lag, mit andern rohen Gräten erst ein Loch hinein, bevor der Stich gewagt wurde. Dazwischen legte er Holz zum Feuer, schäumte seine Suppe ab und goß von Zeit zu Zeit etwas Wasser nach, – alles, ohne daran Freude zu haben.

Seine Gedanken umschwebten fortwährend das Schiff, wie er es so nahe an der Küste gesehen, so ganz nahe im gelben Schimmer der Blitze, daß selbst die Menschen klar erkennbar wurden, daß er deutlich den Mann am Steuer und den bei der Kanone unterscheiden konnte. Warum mußte es tiefe Nacht sein, während die Rettung fast mit der Hand zu erreichen war?

Robert stützte müßig den Kopf gegen einen Baumstamm. Er schloß die Augen und wünschte, daß ihn der Tod erlösen möge. Ich bin krank, dachte er, ich werde bald noch elender sein und dann ganz verlassen, ganz allein im menschenleeren Walde sterben! – Wenn es nur nicht allzu langsam geht.

Als er nach einer Pause die Augen öffnete, war das Feuer erloschen, und der Geruch seiner Speisen belehrte ihn, daß es Zeit sei zu essen. Er nahm aber nur einige Löffel voll, dann stellte er das übrige bei Seite und nähte emsig fort, um noch vor Abend das angefangene Kleidungsstück zu beenden. Zum Strande wollte er nicht erst hinabgehen. Weshalb auch? Die Schiffe fuhren vorüber, sobald er fern war, und nur wenn seine Blicke voll Sehnsucht und Verlangen den blauen Ozean um Erlösung zu stehen schienen, – nur dann blieb alles still und leer.

Er begriff nicht mehr, warum er sich mit so großer Mühe den Ausguck auf dem Mangobaum hergestellt, warum er überhaupt irgend etwas anderes getan hatte, als sich hinzulegen und zu sterben. Schon hatten die Erbsen und anderen Hülsenfrüchte einen verdorbenen Geschmack angenommen, schon zeigte sich an der Außenseite der Fässer ein leichter Schimmel, und das Brot ging zur Neige, weil ein so großer Teil davon durch den Regen vernichtet worden war, – der Tod grinste ihm also aus hohlen Augen von allen Seiten entgegen.

Eine sonderbare Angst bemächtigte sich seiner Seele. Ganz ohne Widerstand durfte er sich nicht ergeben, das fühlte er, sonst war es bald um ihn geschehen. Diese Stimmung lähmte alle Kräfte.

Er raffte sich auf und nähte weiter, bis die Dämmerung herabsank. Nun war das Beinkleid fertig, – morgen kam die Jacke daran und dann noch ein neues Wollhemd, um das alte gelegentlich im Bache waschen zu können. Baden mochte Robert nicht, er dachte mit einer Art von Grauen an die Kälte des Wassers.

Während dieser Nacht schlief er besser und befand sich auch am andern Tage leidlich wohl, obgleich er noch immer nicht wieder an den Strand hinabging. Abwechselnd nähend und die entstandene Verwüstung wieder ausgleichend, verbrachte er in einer Art von geistiger Untätigkeit die Stunden, nicht allein während dieses, sondern auch wahrend einer ganzen Reihe weiterer Tage. Der Palmenstamm hatte jetzt bereits achtzehn Kerben aufzuweisen, Brot und Fleisch waren verzehrt, der Rest des Speckes verdorben und die Hülsenfrüchte gänzlich ungenießbar geworden, aber Robert empfand dennoch keinen Mangel. Er lebte nur von Wasser und etwas Wein, ohne jemals Hunger zu fühlen. Seine Kräfte wurden allmählich geringer, seine Nächte immer unruhiger. In dem schwarzen, überall schlotternden und wunderlich geformten Anzuge, blaß und abgemagert, erkannte er kaum sein eigenes Bild, so oft er es im Flusse betrachtete.

Lange Stunden verbrachte er täglich halb schlafend, halb seinen trüben Gedanken zur Beute in den Zweigen des Mangobaumes am Ufer. Zu tun gab es ja für ihn jetzt nichts mehr, und auch die Jagd hatte er vernachlässigt. Warum harmlose Tiere töten, da er sie doch nicht essen konnte?

Seine Blicke schweiften über das Wasser und seine Gedanken verwirrten sich zuweilen unmerklich. Er spähte nach dem Schiff, dessen Erscheinen ihn krank gemacht, er sah im Geiste immer vor sich diese weißen Segel und hörte die rollenden Donner des Geschützes. – –

Zu Hause auf dem Mooslager nahm halbe Betäubung seine Sinne gefangen. Er dachte an die Heimat, an die Kameraden vom Schiff und an jene entsetzliche Nacht, als Mord und Tod auf dem Verdeck der »Antje-Marie« ihre blutigen Häupter erhoben, als er hierher schwamm an diesen gastlichen Strand, der ihm zum Grabe werden sollte. – –

Dreiundzwanzig Kerben zeigte der Stamm. Robert war nicht am Meeresufer gewesen, seine Kräfte hatten für den weiten Weg nicht ausgereicht; er saß vor der Tür seiner Höhle, gegen den Erdwall gelehnt, und hielt die Augen im Halbschlummer geschlossen. Stunde nach Stunde verrann, er scheute sich aufzustehen und blieb in der einmal gewählten bequemen Stellung sitzen. Heute war der Mond hinter Wolken versteckt, kein Strahl erhellte den kleinen freien Platz, aber Roberts Augen hatten sich dergestalt an die Dunkelheit gewöhnt, daß sie jeden Baum, jeden einzelnen Zweig deutlich unterschieden.

Er wachte mit geschlossenen Lidern. Seine Gedanken wanderten. Da rauschte es hinter ihm, wie wenn Gebüsche gestreift und zurückgebogen würden. Ein Schatten fiel über den Rasen.

Robert öffnete die Bild Augen. Ohne sich zu bewegen, ohne ein Glied zu rühren, sah er hinüber zu der Stelle, von woher jener Laut gekommen.

Der Mann in Schiffertracht stand wieder keine fünf Schritte weit entfernt von ihm. Er hielt in der Hand etwas wie eine Pistole oder ein Arbeitsgerät. Robert war jetzt überzeugt, einen Menschen vor sich zu sehen. Er konnte sich nicht täuschen, – das war ein Mann von Fleisch und Blut, aber kein Fiebergebilde, kein Gaukelspiel neckender Traume.

Er drehte langsam den Kopf. »Im Namen Gottes,« sagte er, »wer Sie auch sein mögen, geben Sie mir eine Antwort!«

Aber noch hatte er die Worte nicht ausgesprochen, als der Unbekannte zwischen den Gebüschen verschwand, lautlos, ohne sich umzusehen, ohne eine Silbe zu antworten, wie er gekommen war. Das alles vollzog sich binnen weniger als einer Minute, ging gedankenschnell vorüber und hinterließ keine andere Spur als die des Schauderns, des Erschreckens in Roberts Seele. War das der Geist eines seiner Kameraden von der »Antje-Marie«? – Wollte ihn der Tote rufen, ihn den übrigen nachholen in das stille Grab? –

Er suchte nicht, forschte nicht, wo die Erscheinung geblieben. Aber ihn dürstete heftig; Hitze und Kälte wechselten in seinen Adern, – er tastete nach dem Wasserbehälter, um zu trinken. Der war leer. Robert hatte es vergessen ihn am Tage neu zu füllen.

Ermattet kroch er in die Höhle und streckte sich auf sein Lager. Zum Bach zu gelangen war in der Finsternis unmöglich, daher mußte er ohne einen kühlenden Trunk einzuschlafen suchen. Jetzt schüttelte heftiges Fieber seine Glieder, er begann irre zu reden und sich mit dem nächtlichen, geheimnisvollen Besucher zu unterhalten. Mohr,« flüsterte er, »alter Onkel Mohr, du bist es, ich sehe dich wohl, und ich weiß, daß du mich zu dir rufen willst in das Grab, welches ich gegraben. Aber warum sprichst du nicht mit mir, lieber Onkel Mohr, – ich möchte so gern, so gern einmal wieder eine menschliche Stimme hören.«

Eine Pause entstand. Robert warf den Kopf von einer Seite zur andern. Er seufzte tief, wie erleichtert. »In Pinneberg bist du gewesen, Onkel Mohr? Und du sagst, daß sie mir nicht zürnen, daß sie mich noch lieb haben und mich wie einen Toten betrauern? – Aber wo blieb denn mein Brief? – Den haben die Fischer verloren, wie ich das Schiff verlor, das große schöne Schiff, welches ich unablässig suche, so lange schon und so sehnsüchtig. Das Meer ist tückisch, es hat mir das eine Fahrzeug geraubt, und es besitzt doch so viele, viele, – warum durfte ich nie das meinige wiederfinden?«

Er schluchzte im Traum, und dann wurde alles still. Das Fieber schüttelte ihn, kalter Schweiß perlte auf seiner Stirn, das Bewußtsein war vollständig dahin. – –

Am nächsten Morgen erwachte er mit dumpfem Kopfschmerz und an allen Gliedern wie zerschlagen. Während der Frühstunden, wenn die gesamte Lebenstätigkeit des menschlichen Körpers am ruhigsten ist, pflegt das Fieber meistens in seiner Heftigkeit nachzulassen, so auch hier, wo Robert mit klarer Besinnung, obgleich schwer krank, sich vom Lager aufrichtete. Er kroch mühsam hinaus ins Freie und schlich, an jedem Baume einen Halt suchend, bis zum Bach, um erst einmal die dürstenden Lippen durch einen frischen Trunk zu kühlen; dann setzte er sich in den Sonnenschein und lehnte den Kopf an die Palme, welche heute den fünfundzwanzigsten Einschnitt hätte erhalten sollen. Er konnte ihn nicht hineinkerben, die Anstrengung wäre zu stark gewesen.

Auch das Gedächtnis hatte sich halb und halb umflort. Er wußte nicht mit Sicherheit, ob ihm von der Erscheinung dieser Nacht nur geträumt, oder ob er dieselbe in der Tat vor sich gesehen hatte. Dort hinten, bei den zehn großen Kisten mit Wein, dort hatte es gestanden, nun schon zweimal, – gewiß, es war der Tod, welcher ihn zu holen kam.

Ein Frösteln schlich durch seine Adern. Selbst die Sonne mit ihren glühenden, versengenden Strahlen konnte ihn nicht mehr erwärmen, – seine Finger waren weiß, wie die einer Leiche, und das unangenehme Zittern wollte gar nicht aufhören.

Ich möchte ein paar Tropfen Wein trinken, dachte er schaudernd, und dann werde ich mich wieder hinlegen, um zu sterben. Die Fingerspitzen sind, glaube ich, schon tot.

Er befühlte mit der rechten Hand die Finger der linken. Beides steif und kalt, dachte er. O, wie ich mich auf den Wein freue!

Er schleppte sich mit Mühe bis zu den Kisten und öffnete die obere. Sie war leer.

Robert griff an seine Stirn. Er hatte nach oberflächlicher Berechnung vielleicht vier Flaschen ausgetrunken, in der Kiste aber befanden sich deren fünfundzwanzig. Wie kam das?

Doch gleichviel. Es kümmerte ihn nicht mehr, ob diese Flaschen vorhanden gewesen oder ob er sich vielleicht in ihrer Anzahl geirrt. Er warf mit Aufbietung aller seiner Kräfte die leere Kiste herab und öffnete die zweite.

Alles leer.

Plötzliche Glut schoß durch Roberts ermatteten Körper. Fieberhaft erregt entfernte er Deckel nach Deckel, bis alle zehn Kisten offen vor ihm dastanden.

Alles leer.

Die Erscheinung, welche er zweimal gerade an dieser Stelle gesehen, war also doch kein Geist, kein Schattenbild gewesen, sondern ein Mensch, der allnächtlich hierherkam, um zu stehlen, ein Dieb, der dem Verschmachtenden die letzte Labung geraubt hatte.

Aber wer? wer?

Es brauste vor den Ohren des Knaben. Seine Sinne verwirrten sich, er glitt an den Kisten langsam zu Boden und blieb bewußtlos liegen.

 

Es war am Abend des zweiten Tages nach diesem. Heller silberner Mondschein überflutete den Wald und färbte mit weißem Licht die ragenden Wipfel. Auch bis vor den Raum der kleinen Hütte drangen die zitternden Strahlen, spiegelten sich im Bache und gaukelten auf dem Moosboden um die stille Gestalt, welche dort ausgestreckt lag. – – –

So weiß die Stirn und so regungslos der herabgesunkene Arm. War der Tod in heimlicher Mitternachtsstunde gekommen und hatte die Lippen des Knaben mit sanftem Kusse berührt, hatte den Verlassenen auf leisen Schwingen emporgetragen in das Reich des Lichtes? – – –

Fast schien es so. Emsige Käfer und Spinnen krochen über seine Hände, spielend huschte der Wind durch das langgewordene Haar, neugierig wagte sich ein Vögelchen bis an das blasse Gesicht heran, und nahe über ihn hin streiften die Cucullos, die kleinen Feuerfliegen, deren phosphorisches Leuchten auf Augenblicke seine eingefallenen Züge deutlich erkennen ließ, – sie setzten sich auf seine Brust, seine Stirn, sie gaukelten an den geschlossenen Augen vorüber, blendend und prickelnd, – er sah es nicht.

Die Palmen rauschten, die Blumen dufteten im Nachtwind, still, ganz still war es rings um den einsamen Schläfer – – Hatte ihn wirklich der Tod geküßt?


Bild

Durch den Wald kamen drei Männer, die neben sich einen vierten mit gebundenen Händen als Gefangenen zu führen schienen. Sie trugen sämtlich Fischerkleider, aber in den Gürteln steckten breite Messer und auf den Schultern lagen kurze Musketen.

»Wirklich,« sagte in spanischer Sprache der Gefangene, »ihr irrt, Kameraden. Ich bin unschuldig an dem Verbrechen, welches mir zur Last gelegt wird, ich weiß von nichts und habe diese Insel nie betreten. Ihr seht ja, daß hier weder Wege noch Stege zu finden sind,«

Einer der Bewaffneten deutete auf die Axthiebe, welche Robert den Bäumen beigebracht. »Mir wollte soeben scheinen, daß hier ganz kürzlich jemand gegangen sein müsse!« antwortete er mit finsterem Tone. »Du tätest besser, zu gestehen, Bursche!«

»Ich habe nichts zu gestehen!« beharrte der andere. »Was hätte es mir auch nützen können, in eurem Boote eine öde unbewohnte Insel aufzusuchen? Diego haßt mich, daher hängt er mir die sinnlose Verleumdung an.«

Der erste Sprecher deutete jetzt auf Fußspuren, welche im Sande völlig erkennbar dalagen, »Was ist das?« fragte er. »Ich glaube, deine Stiefel passen merkwürdig genau hinein, du Scheinheiliger!«

Der Gefangene erschrak sichtlich. »Ach, das ist ein Irrtum, Rafaele,« versetzte er dennoch rasch, »Du bist ungerecht, du willst mich aus eurer Mitte entfernen, und doch habe ich dir nichts zuleide getan. Aber wir müssen uns mehr links halten, – rechts befindet sich ein Sumpf!«

»Ach! – und ich glaubte, du habest die Insel niemals betreten, Bursche?«

Der Gefangene biß sich auf die Lippen. »Caracho!« murmelte er leise.

»Nicht wahr?« lachte der andere. »Da hast du dich schön verschnappt. Aber das schadet nicht weiter. Auf jeden Verrat steht der Tod, und – ein Leben hast du ja nur zu verlieren.«

Der Gefangene erschien im Mondlicht so blaß wie Kreide. »Mehr links!« stammelte er, »mehr links, oder wir geraten in den Sumpf.«

»Der übrigens schon weit hinter uns liegt,« ergänzte kaltblütig Rafaele. »Du mußt wissen, daß wir früher einmal ein Jahr lang auf dieser Insel wohnten, – du Verräter.«

Jetzt schwieg der Gefesselte. Er schien nach dem fehlgeschlagenen Versuch, seine Wächter zu täuschen, sich in das Schicksal, welches ihn erwartete, stumm ergeben zu wollen, wenigstens sprach er nicht weiter, sondern schauderte nur unwillkürlich, als er sich mit seinen Begleitern dicht vor Roberts Ansiedelung befand.

Der andere hatte ihn beobachtet. »Gestehe!« drängte er, »was tatest du hier? Leben Menschen auf dieser Insel?«

Der Gefangene versuchte es, die gefesselten Hände zu falten, »Gnade!« preßte er hervor, »Gnade, und ich will euch alles sagen!«

Der dritte der Männer Bild ließ in diesem Augenblick einen kurzen Ausruf hören. Gedankenschnell legte er die Muskete schußgerecht.

»Dort ist eine Wohnung!« raunte er.

Der erste packte mit festem Griff die Schulter des Gefangenen. »Jetzt sprich,« zischte er, »oder du sollst mein Messer zwischen den Rippen fühlen, ehe du Zeit hast, ein Vaterunser zu beten. Wer befindet sich in jener Höhle?«

Der Gefesselte zitterte an allen Gliedern. »Ein Knabe,« stammelte er, »bei meiner Seele Seligkeit, ein einzelner Knabe!«

»Und du, was tatest du hier? Ohne Zweifel hinterbrachtest du ihm unsere sämtlichen Geheimnisse, schmiedetest Komplotte mit ihm, und – –«

»Er sah mich nie! – Er ahnt nicht, daß ich jemals in seiner Nähe war.«

»Caracho! – Was wolltest du denn hier?«

Der Elende fiel auf die Kniee und bat um Gnade. »Ich wußte, daß Vorräte von Wein auf dieser Insel lagerten,« stammelte er, »ich nahm ihn, da er niemand gehörte. Das ist alles, Rafaele, ich schwöre es dir, das ist alles!«

Der Fischer schüttelte zweifelnd den Kopf. »Um zu trinken, fuhrst du in jeder Nacht hierher?« fragte er. »Das ist undenkbar.«

»Gnade!« winselte der Gefangene, »Gnade. Es ist so, wie ich sagte.«

Der Fischer stieß den Knieenden verächtlich mit dem Fuße von sich. »Da bleibst du liegen,« herrschte er. Und dann, sich an die beiden übrigen wendend, fragte er leise: »Was habt ihr entdeckt?«

Der eine richtete sich langsam auf. »Es ist, wie der Jammermensch dort behauptet,« nickte er. »Nur ein Knabe und noch dazu ein toter, glaube ich, ist in der Umgebung zu finden.«

Rafaele schien erleichtert aufzuatmen. Wahrscheinlich stimmte es ihn milder, daß offenbar keine Verräterei stattgefunden hatte, und daß also auch keine Gefahr für die Sicherheit seiner eigenen Person zu befürchten war.

Er beugte sich über den leblosen Körper des Knaben und beleuchtete mit einem Streichholz das blasse Gesicht. Ein unmerkliches Zucken ging über die erstarrten Züge. »Das unglückliche Kind lebt!« sagte er nach einer kurzen Pause. »Was beginnen wir mit ihm?«

Beide andere sahen ihn bedeutsam an. »Die Toten plaudern nichts aus!« versetzte dann mit etwas unsicherer Stimme der eine.

»Das ist wahr!« bestätigte der zweite. »Und dennoch – ein Bewußtloser – –«

»Und ein Knabe obendrein!« ergänzte Rafaele. »Bei San Jago, man ist zwar ein Bukanier, man zwingt häufig die Schiffe, ihre Ladung zum Strandgut werden zu lassen, und man stopft das Maul, welches durch sein Geschrei Aufsehen erregen könnte, aber –«

»Das tat nur die Ungerechtigkeit des Schicksals, welches den reichen Leuten alles in den Schoß wirft und dafür die Armen bestiehlt,« fügte mit würdevollem Tone der zweite hinzu. »Wir können einst verantworten, was uns die Notwehr gebietet, denke ich.«

Rafaele, augenscheinlich der Anführer des sauberen Kleeblattes, nickte langsam mit dem Kopfe. »Wir töten keine Kinder,« sagte er. »Wir nehmen diesen Burschen mit uns, und wenn er zum Bewußtsein zurückgekehrt ist, wenn wir erfahren, wieviel von dem Schicksal seiner Genossen er weiß, so wird sich entscheiden, ob er fortleben darf oder nicht.«

»Jetzt bringt mir die Memme dort, den zitternden Feigling,« fügte er, auf den Gefangenen deutend, hinzu. »Wir wollen an Ort und Stelle Gericht halten.

Einige unsanfte Stöße mit dem Kolben beförderten den Gefesselten in die Nähe seiner Richter. Nur ein einziges Wort murmelten die blassen bebenden Lippen: »Gnade!«

»Schweig!« herrschte Rafaele. »Du wirst antworten, wenn ich dich frage, sonst aber keine Silbe sprechen. – Ist dieser Junge von der Besatzung der »Antje-Marie? Und wußtest du, daß er sich auf dieser Insel befand?«

»Ja, ja! – Um der heiligen Jungfrau willen, tötet mich nicht!«

»Sind noch mehr Waren hier, außer dem gestohlenen Wein? Und zu welchem Zweck wurden sie auf die Insel geschafft?«

»Um sie euren Blicken zu entziehen. Es sind ungezählte Massen von kostbaren Seidenstoffen und Spitzen hier verborgen.«

Alle drei Piraten ließen zugleich einen halberstickten Ausruf hören. »Das ist natürlich inzwischen durch den Regen alles verdorben,« meinte Rafaele. »Und du Verräter, du meineidiger Schuft, weshalb verhehltest du uns deine Kenntnis dieses Umstandes?«

»Weil ihr sonst auch den Wein beansprucht und verkauft haben würdet!«

»Tier!« sagte im Tone äußerster Verachtung Rafaele. »Bestie ohne Herz und Gewissen, gleich treulos gegen den Kameraden von deinem Schiffe und gegen die Genossenschaft, zu welcher du im Augenblick zählst. Um zu trinken, um deine schmutzige, erbärmliche Seele zu berauschen, stahlst du uns vielleicht Tausende und verurteiltest gleichzeitig den wehrlosen Knaben, fast einen Monat lang in der Einöde zu leben; du raubtest ihm den Wein, der sein Leben fristen konnte, du fragtest nicht, ob der Unglückliche noch irgend etwas Genießbares besaß, du fühltest kein Erbarmen, als du ihn sterbend zu deinen Füßen sahst, – du trankst nur, trankst! Sprich jetzt, weißt du, was dir bevorsteht?«

Der Unglückliche antwortete nicht. Kalter Schweiß rann über sein Gesicht herab, die gefesselten Hände zuckten und die ausgetrocknete Kehle rang vergeblich nach einem Laut.

»Du hast bei deiner Aufnahme in unsere Gesellschaft den Eid der Treue geschworen,« fuhr Rafaele fort, »du hast gelobt, kein persönliches Eigentum zu besitzen und kein Geheimnis für dich zu behalten – und diese Eide hast du gebrochen. Was erwartet dich also?«

Wieder kam keine Antwort von den Lippen des Gefesselten. Er war auf seine Kniee gesunken, entnervt und kraftlos durch das schreckliche Laster, dem Leib und Seele zugleich verfallen.

»Deiner harrt der Tod!« sagte nachdrücklich Rafaele. »Wir werden dir messen, wie du gemessen hast. Auf, Kameraden, wählt in einiger Entfernung einen schlanken Stamm und bindet den Elenden so, daß er sich nicht zu befreien vermag. Dann sucht, ob noch Wein oder Rum zu finden ist.«

»Dergleichen haben wir bereits entdeckt,« antwortete einer seiner Begleiter. »Hier stehen mehrere kleine Kisten mit Rum, der den Blicken des Liebhabers ganz entgangen sein muß.«

»Gut. So führt aus, was ich euch befahl.«

Die beiden Räuber nahmen den Gefangenen, der wie eine trage Masse in ihren Armen hing, zwischen sich und führten den Widerstandslosen in das nächste Dickicht, wo sie ihn an einer jungen Palme befestigten. Sechsfache Seile umschnürten den Körper, dessen Arme frei blieben, dem aber jede, auch die geringste Bewegung unmöglich gemacht war.

Rafaele nahm aus der Kiste sechs Flaschen Rum, die er neben den Baum stellte. Es folgte jetzt ein ebenso schauerlicher, als in seiner Weise feierlicher Auftritt. Ob auch der verurteilende Richter ein Räuber war und der arme Sünder kein größerer Verbrecher als er selbst, ob auch diese Justiz in Nacht und Waldesdunkel fern von aller menschlichen Gerechtigkeitspflege als Willkürhandlung vollzogen wurde, so erfüllte sich dennoch auch hier ein Spruch der ewigen Gerechtigkeit, so wurde in roher aber gerechter Form eine Ruchlosigkeit bestraft.

»Wie du gemessen hast, so soll dir gemessen werden!« sagte feierlich der Anführer der Räuber, »Wie du deinen hilflosen Kameraden verlassen, so verlassen wir dich; wie du alles verleugnet hast, um zu trinken, so verstoßen wir dich aus unserer Nähe und überliefern dich dem Tode durch das Mittel, welches du selbst gewählt. Trinke bis du stirbst!«

Er hielt inne und prüfte mit Auge und Hand die Festigkeit der Seile. Helles Mondlicht fiel auf die grauenhafte Gruppe der bewaffneten Räuber und des in sich zusammengesunkenen, gefesselten Verräters. Auch hier umflatterten mit den grünen, wie in Smaragdfeuer glühenden Flügeln die Cucullos ein bleiches, totenähnliches Antlitz.

»Hast du noch etwas zu sagen?« fragte Rafaele. »Kein menschliches Ohr wird jemals wieder deine Stimme vernehmen, kein menschliches Auge wird dich sehen, – also sprich, wenn noch irgend ein Bekenntnis deine Seele foltert, wenn es irgend eine Botschaft für dich auszurichten gibt.«

Der Verurteilte sah starren Blickes von einem seiner Henker zum anderen. Die Lippen bewegten sich, aber kein Laut wurde hörbar.

»Auf!« gebot Rafaele. »Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.«

Die drei wandten sich zum Gehen, – da tönte ein heiserer Schrei aus der Brust des Gefesselten. Seine Arme griffen in die leere Luft, ein verzweifeltes Keuchen brach über die aschfahlen Lippen,

»Gnade! – Gnade!«

Keiner der Bukaniere beachtete die entsetzlichen Laute. Sie gingen mit schnellen Schritten zu Roberts Ansiedelung zurück und überließen den Gerichteten der ganzen wahnwitzigen Verzweiflung, welche ihn durchströmte.

Er hatte sich selbst verurteilt, selbst aus den Reihen der Menschen gestrichen, des einen zerstörenden, höllischen Lasters wegen, – Gallego, der Schiffskoch, dem es gelungen war, seine Landsleute für sich zu gewinnen, und anstatt ihr Opfer vielmehr ihr Genosse zu werden; Gallego, der im Leben nur ein Glück kannte: zu trinken, – und der sterben mußte um des Trunkes willen.


Bild

Leise schaukelnd glitt das Boot über die Wellen. Ein paar Decken, unter Roberts Kopf gelegt, einige Tropfen Branntwein, ihm mühsam eingeflößt, und außerdem der frische, seine brennende Stirn umspielende Seewind hatten im Verein die fliehenden Lebensgeister zurückgerufen. Er war noch ohne Besinnung, aber die Gedanken begannen sich zu regen und einzelne abgebrochene Worte drangen über seine Lippen.

»Das Schiff? Wo ist das Schiff? – Als ich wieder hinübersah, war es fort. – Soll es niemals – niemals zurückkehren?«

Die drei Bukaniere saßen im tiefsten Schweigen. Sie wagten kaum, ihre Blicke zu erheben, kaum in dies jugendliche, von den Schatten des Todes schon berührte Antlitz zu sehen. Vielleicht war ihnen das Abscheuliche ihres Berufes nie so deutlich vor die Seele geführt worden, als eben durch jene unbewußten Worte des kranken Knaben. Sie mußten glauben, daß er mit dem verlorenen Schiff die Galliote gemeint, und sie wußten es ja nur zu gut, was aus derselben geworden und wie sie das alte, unbrauchbare Fahrzeug auf den Strand gezogen und zu Brennholz zerschlagen hatten.

Es war, als ob sich unter dem Schlamme in den Seelen dieser abgehärteten Verbrecher doch noch ein Etwas befand, das ehemals wahre Männlichkeit gewesen und das unwillkürlich aus langem Schlummer erwachte, als sie diesen halbverhungerten, durch ihre Schuld zum Gerippe abgemagerten und dem Tode überlieferten Knaben erblickten. Sie dachten vielleicht der eigenen schuldlosen Jugend, des langen Weges voll Verbrechen und Sünde, des Müßigganges und des ersten Fehltrittes, die weiter geführt hatten auf abschüssiger Bahn, immer weiter bis zu Raub und Mord. – Es ist ja ein anderes um Kampf und erbittertes Ringen Mann gegen Mann, als um den Blick auf ein wehrloses unglückliches Opfer, dessen brechendes Auge den Frevler vor Gott anzuklagen scheint.

Leise rückte der eine die Decken und leise glättete der andere das Haar über Roberts Stirn. Als man den Strand der größeren Insel erreicht hatte, trugen abwechselnd zwei Männer den Schwerkranken bis zu der hölzernen Hütte, welche die Bande als Wohnstätte benutzte. Hier legten sie ihn auf ein gutes, weiches Lager und bedeckten seine Stirn mit kalten Umschlägen. Der Koch mußte außerdem einen schweißtreibenden Tee zubereiten, welcher dem Patienten dargeboten wurde, so oft er Durst verspürte.

Das war im ganzen wenig heilkünstlerischer Aufwand, aber vielleicht gerade deswegen gelangte die unverdorbene Natur des Knaben am ehesten zu ihrem Rechte. Am neunten Tag nach jener Entdeckung, welche ihn seiner letzten Kräfte beraubte, kam endlich die Krisis, aus der Robert mit vollem Bewußtsein erwachte. Freilich war er so schwach, daß ihm die Lippen zitterten und daß er kaum den Kopf zu drehen vermochte, aber dennoch streifte sein Blick mit grenzenlosem Erstaunen die Umgebung.

Fenster von Glas, Türen mit Schlössern, eine wohleingerichtete Küche mit blankem Geschirr, rauchende, spielende Männer um einen Tisch versammelt, und auf demselben die Überreste einer leckeren Abendmahlzeit, – so bot sich das Innere der Hütte seinen forschenden Augen dar.

Hätten nicht wehende Baumzweige in die offenen Fenster einen Gruß hineingenickt, hätten nicht mehrere Nebengebäude und eine Anzahl großer Hunde das Gegenteil nur zu unverkennbar bezeugt, so würde Robert geglaubt haben, daß er sich noch an Bord der »Antje-Marie« befinde, daß alles, was dazwischenlag, nur ein schrecklicher, beängstigender Traum gewesen. Er versuchte es, sich der letzten Ereignisse deutlich zu erinnern, aber das ermattete Gehirn vertrug noch keine Anstrengung; er schlief nach wenigen Minuten wieder ein.

Als er am folgenden Morgen abermals erwachte, fühlte sich Robert kräftig genug, eine leise, kaum verständliche Frage auszusprechen: »Wo bin ich?«

Zwei der Bukaniere, welche gerade im Zimmer anwesend waren, wandten sich zu ihm. »Gut Freund, Kamerad,« antwortete einer. »Lieg du nur still und erhole dich, armer Kerl.«

Das verstand nun freilich unser Freund, da es in spanischer Sprache gesagt worden war, durchaus nicht, aber der Ton beruhigte ihn. Man hatte auf seine Fragen einen freundlichen Bescheid gegeben, das hörte er wohl.

Der Koch brachte ihm ein reichliches Frühstück, aus gekochten Fischen, Früchten, Reis und Braten bestehend, aber Robert konnte natürlich davon so gut wie gar nichts genießen, er war auch zu gespannt auf eine Erklärung des obschwebenden Geheimnisses, als daß er an irgend etwas anderes, als an diese hätte denken mögen. Die Männer, welche ihn umgaben, erkannte er auf den ersten Blick als die Räuber, unter deren Mörderfäusten seine Kameraden so traurig geendet, aber wie hatten ihn diese aufgefunden, und warum war nicht auch er gemordet worden?

Der Bukanier stellte noch verschiedene Fragen, die Robert weder verstand, noch beantworten konnte; auch Rafaele, der Anführer der Bande, kam und überzeugte sich, daß sein Gast der spanischen Sprache vollkommen unkundig sei, – am folgenden Tage aber erschien er wieder in Begleitung mehrerer anderer, unter denen einer das Deutsche so halb und halb zu radebrechen wußte.

Jetzt begann ein regelrechtes Verhör, bei dessen Verlauf unser Freund wohl fühlte, daß nur seine eigene Vorsicht und Klugheit ihm das Leben retten konnte. Sechs von diesen wildaussehenden, bewaffneten und schwarzbärtigen Filibustiern umstanden sein Lager und beobachteten ihn scharf, während er die gestellten Fragen beantwortete.

»Wann hast du die Galliote verlassen?« hieß es, »und weshalb?«

»Am Mittag,« antwortete Robert, »und auf Befehl des Kapitäns. Wir brachten Waren nach der Insel, wo dreie von uns auf einige Zeit zur Bedeckung bleiben sollten. Meine Kameraden ließen mich allein, um nochmals zu Schiffe zu fahren, aber sie kamen nicht zurück. Ich bitte Sie, liebe Herren, sagen Sie mir, wo sich die »Antje-Marie« gegenwärtig befindet?«

Die Bukaniere traten zusammen. Es entstand ein Murmeln und Beraten, bei dem auf Roberts Stirn der Schweiß in großen Tropfen perlte. Jetzt hing sein Leben an einem einzigen Haar, und überdies fühlte er in der Nähe dieser Verbrecher ein unbesiegliches Grauen. So allein und schutzlos unter Mördern, ihrer Willkür preisgegeben, vielleicht mit der Aussicht, an einen Baum gebunden und erschossen zu werden, oder als eine Art von Sklave für immer hier auf der Insel bleiben zu müssen, – das war mehr als beängstigend. Die großen Bluthunde mit den lechzenden Zungen und den rotunterlaufenen Augen umstanden wie Höllenwächter sein Lager, und die Piraten sprachen noch immer lebhaft in spanischer Mundart.

»Eine Kugel,« sagte der erste, »eine Kugel, Kameraden; das macht die Sache kurz.«

»Aber es ist ein unnötiges Blutvergießen, Danielo. Das Kind hat uns nichts zuleide getan, sein Tod bringt uns keinen Gewinn.«

Danielo pfiff spöttisch. »Und wofür hätte man die Priester?« fragte er, »wofür bezahlt man den Ablaß? Bei San Jago, wir opfern der Kirche genug, denke ich.«

»Aber weshalb sollte der Knabe sterben?«

»Damit er uns nicht verrät!«

»Er ahnt nichts, das hörst du ja. Und überdies sind wir Fischer, die ihren Erlaubnisschein von der Regierung gelöst haben. Jedermann weiß, daß wir hier wohnen, jedermann kennt die Strandgesetze, welche das geborgene, dem Meere entrissene Gut den Bergern zusprechen. Was fürchtest du also?«

»Daß der Schlingel lügt. Ich wollte wetten, ihn auf der Galliote gesehen zu haben. Er weiß genau, daß wir dort waren.«

Rafaele wandte sich wieder zu dem Dolmetscher und ließ durch diesen den Kranken fragen, ob er auf dem Schiff irgend welche fremde Männer gesehen habe. Robert antwortete sogleich der Wahrheit gemäß, daß er von dem Handel, welchen van Swieten mit einigen Fischern abgeschlossen, durch diesen selbst Kenntnis erhalten, und daß die Überführung der Waren auf das Eiland nur bewerkstelligt worden sei, um die Kostbarkeit der Ladung zu verbergen. »Der Kapitän wollte uns in ein paar Tagen nach der Havana abholen,« schloß er seinen Bericht.

»Und du weißt nicht, wohin er gegangen? Du hast das Schiff nicht wiedergesehen?«

»Nein.«

Rafaele wandte sich zu den übrigen. »Kameraden,« sagte er, »unsere Gesetze werden in jedem einzelnen Fall durch Stimmenmehrheit festgestellt, und dies gilt auch für diese Angelegenheit. Wollt ihr es, so wird der Knabe erschossen, ich aber mag damit nichts zu schaffen haben, sondern erkläre ein solches Todesurteil für Mord. Und nun entscheidet!«

Danielo hob die Hand. »Er sterbe,« sagte er mit festem Tone. »Nur die Toten sind ungefährlich, nur Bild ihrer ist man ganz sicher.«

Aber keiner außer ihm rührte sich. Rafaele war als Anführer zu beliebt und auch zu gefürchtet, um nicht durch seine Stimme die Sache von vornherein entschieden zu haben. Sämtliche Bukaniere schwiegen.

»Danielo,« sagte nach einer Pause der Räuber, »du hörst, daß sich niemand deiner Meinung anschließt. Der Knabe bleibt am Leben und bleibt hier, bis sich Gelegenheit findet, ihn auf ein Schiff zu setzen. Jetzt könnt ihr gehen.«

Die Bukaniere entfernten sich, und Robert blieb mit seinem Wärter, dem Koch, allein zurück, ohne über den Ausgang der Sache irgend etwas erfahren zu haben. Nach und nach aber beruhigte er sich doch, da man ihn fast gar nicht mehr beachtete, sondern ihn der langweiligen, müßigen Wiedergenesung überließ, ohne sich um die Fortschritte derselben zu bekümmern.

Nur Gomez, der Koch Bild schloß sich ihm allmählich an und lehrte ihn einzelne spanische Worte, die Robert mit deutschen Ausdrücken beantwortete, so daß aus der Unterhaltung dieser beiden ein Kauderwelsch entstand, wie es komischer wohl selten gehört worden ist.

Wenn der blasse, abgemagerte Kranke vor der Tür im Sonnenschein saß und mit langsamen, schwachen Bewegungen für seinen neuen Freund irgend eine kleine Dienstleistung verrichtete – das Gemüse putzte, Früchte schälte oder die Messer schliff – so brachte ihm Gomez heimlich ein gutes Glas Wein und ein gebratenes Huhn oder dergleichen, wobei dann das spanisch-deutsche Wörterbuch um manchen kostbaren Ausdruck bereichert wurde. Indessen die beiden verstanden einander, und das war genug, da sie fast immer allein die Insel bewohnten, Rafaele und seine Leute kamen zuweilen wochenlang nicht nach Hause, zuweilen nur für die Nächte, und wieder an anderen Tagen nur zum Mittagsessen; beständig aber mußte der Koch darauf vorbereitet sein, so oft es verlangt wurde, ein schmackhaftes Mahl herzurichten. Robert fah in einem der Nebengebäude eine Speisekammer, die für einen großstädtischen Gastwirt vollkommen ausgereicht haben würde. Frisches Geflügel, die feinsten Fische, Früchte, Gemüse und Weine, alles war vorhanden. Ganze Fässer voll Butter lagen im Schatten einer Erdhöhlung, ganze geschlachtete Kälber und Ochsen hingen an eisernen Haken. – Die Bukaniere vertauschten den Ertrag ihrer Fischerei im Hafen der Havana gegen anderweitige Lebensmittel und brachten nur dann einige jüdische Händler mit auf die Insel, wenn es solche Geschäfte galt, die im engsten Vertrauen der Käufer und Verkäufer abgeschlossen wurden. Schon längst waren die Seidenstoffe und Spitzen aus Roberts Niederlassung herübergeholt worden, und schon als der Knabe noch ohne Besinnung dalag, hatte man dieselben zu Gelde gemacht.

Er sah keine Überreste des unglücklichen alten Schiffes, und auf seine wiederholten Fragen hieß es, daß dasselbe zu Grunde gegangen sein müsse, niemand wisse davon. Robert war jetzt erst vollkommen überzeugt, daß seine sämtlichen Kameraden ermordet worden seien, aber er hatte Selbstbeherrschung genug, um das nicht öffentlich durchblicken zu lassen und erkundigte sich um desto angelegentlicher nach den Einzelheiten seiner Erlösung von der Insel.

Hätte ihm nicht der Koch den Namen Gallego genannt, so würde er die ganze, halb in Worten, halb durch lebhafte Bewegungen vorgetragene Erzählung kaum begriffen haben, so aber verstand er den inneren Zusammenhang derselben sogleich. Gomez schloß beide Augen, um anzudeuten, daß es dunkel gewesen sei, darauf schlich er unhörbar auf den Fußspitzen bis zu einigen Flaschen, die er eilends ergriff, unter den Arm schob, scheuen Blickes nach allen Seiten sah und dann mit denselben Katzenschritten davonhuschte.

Robert hatte ihn nur zu wohl verstanden. »Gallego,« sagte er, »Antje-Marie, nicht wahr?« – Dann machte er die Pantomime des Trinkens.

Der Koch nickte lebhaft und fuhr in seiner Erzählung fort, indem er mit gerecktem Oberkörper jemand nachzublicken schien. Seine Faust ballte sich. »Caracho!« murmelte er, »Dieb!«

Dann ergriff er ein Seil, stürzte sich auf den Reiserbesen, welcher in stiller Beschaulichkeit an der Tür lehnte, sah ihn mit rollenden Augen an und schnürte ihn gegen einen Pfahl. » Muertos!« rief er, » Muertos!« – und schloß wieder die Augen, um anzuzeigen, daß das Wort so viel als »Tod« bedeute.

Nachdem er sah, daß ihn Robert verstanden, legte er mit bezeichnendem Blick den Finger auf den Mund. » No hablan!« (Nichts ausplaudern!) sagte er.

Robert schüttelte den Kopf. Die Kenntnis von dem Aufenthalt Gallegos unter der Bande hatte ihm ja unfehlbar das Leben kosten müssen, daher konnte der verschlagene Gomez vollkommen überzeugt sein, daß er schweigen würde wie das Grab.

Also der wüste Trinker, der Mann, den er schon in Hamburg mit scharfem Messer auf seinen Nebenmenschen hatte eindringen sehen, dieser Elende war es gewesen, der ihn durch das gespenstische, mitternächtliche Erscheinen auf der Insel so sehr erschreckt hatte, der von seiner verzweifelten Lage die genaueste Kenntnis besaß und dennoch aus schmutzigem Eigennutz nichts tat, um ihn zu trösten, ihn zu befreien oder ihm wenigstens beizustehen, als er krank vor seinen Füßen lag.

Robert schauderte. Der Unglückliche war tiefer gefallen, war mehr entmenscht, als selbst die kecken Mörder, welche mit erhobener Waffe ihr Opfer auf einen Schlag töteten.

Aber auch die Strafe war schrecklich gewesen. Robert vergab dem Gerichteten, was er ihm Leides getan und wünschte seiner Seele aufrichtig den ewigen Frieden. Er bat den Koch, an einem freien Tage mit ihm hinüber zu fahren nach der anderen Insel, die er aus mehr als einem Grunde vor seinem Abschied von dieser Gegend noch einmal wiederzusehen wünschte. Anfangs weigerte sich Gomez aus Furcht vor der Rache der übrigen, die immer noch gegen Robert ein heimliches Mißtrauen hegten, dann aber gab er nach, und als eines Tages die ganze Bande abwesend war, segelte er mit seinem jungen Schützling hinüber. Welch ein eigentümliches Gefühl war es für Robert, die Stätte wiederzusehen, an welcher er so schmerzlich gelitten und so bittere, hoffnungslose Stunden durchlebt hatte. Dort der Sumpf, an dessen Rand Freund Hein mit seiner Sense auf Haaresbreite hinter ihm gestanden; der Mangobaum, dessen Zweige ihm, als er ermattet zu unterliegen drohte, ein gastliches Asyl gewährt, und etwas weiter hin die Stelle, wo er das Krokodil getötet.

Mit Gomez ließ sich zu wenig sprechen, um solche Erinnerungen in Worte zu kleiden. Desto besser aber gelang das, als die kleine Niederlassung erreicht war. Der Koch streichelte voll Mitleid die eingefallenen Wangen des Knaben, und aus dem, was er in seiner lebhaften Sprechweise hervorsprudelte, entnahm Robert deutlich genug, daß er gegen die beiden plumpen Messingtöpfe aus der Kombüse der »Antje-Marie« sowie gegen die leere Tonne, in welcher das Pökelfleisch enthalten gewesen war, die unverhüllteste Nichtachtung ausdrücken wollte. Bei solcher Beköstigung konnte ja keine Gesundheit bestehen,

Robert sah noch einmal in die Höhle hinein, wo er fast einen Monat lang gewohnt hatte, und dann suchte sein Blick den einzigen Gegenstand, welchen er zur Erinnerung an diese Insel mit sich zu nehmen wünschte, die Nähnadel aus einer Fischgräte.

Er hatte längst aus dem reichlichen Vorrat der Flibustier einen neuen, anständigen Matrosenanzug erhalten, aber er wollte doch die Gräte, mit welcher er in höchster Not sich durchgeholfen, für immer verwahren, – ja, er hoffte in diesem Augenblick nichts sehnlicher, als dies kleine selbstgefertigte Werkzeug dereinst noch seinem Vater zeigen und dem Alten beweisen zu können, daß sich das Krollsche Blut in der Stunde der Gefahr glänzend bewährt, daß es den Schneider dargetan habe, ohne Tisch, ohne Schere, ohne Bügeleisen, – nur mit einer Fischgräte.

Und richtig, da steckte sie. Zwischen zwei Brettern war ein kleiner freier Raum, Bild wohinein er sie damals gelegt und woselbst sie sich heute noch vorfand. Voll Freude verbarg er seinen Schatz in der Tasche, um dann nach einem letzten Abschiedsblick auf die Umgebung mit Gomez den Baum zu suchen, an welchem Gallego so trostlos geendet hatte.

Es dauerte, da die beiden Wanderer aufs Geratewohl hin das Gebüsch durchstreiften, ziemlich lange, bis die Richtstätte der Flibustier aufgefunden war. Ein schauerlicher Anblick bot sich jetzt dem Knaben und seinem Begleiter dar. An einer Palme, von Seilen umschnürt, stand aufrecht das Gerippe des Verurteilten. Bis auf die Knochen abgenagt von Geiern und Füchsen, weih gebleicht von den sengenden Strahlen der Sonne, – so sahen sie die letzten irdischen Überreste des Verblendeten, der um einer unseligen Leidenschaft willen sein eigener Henker geworden. Sämtliche sechs Flaschen Rum, welche Rafaele in die Nähe des Baumes gelegt, waren bis auf den letzten Tropfen leer, wahrscheinlich also hatte sich Gallego durch den maßlosen Genuß seines Lieblingsgetränkes einen ganz plötzlichen Tod zugezogen.

Stumm sahen die beiden einander an, und dann machte Robert eine halb unwillkürliche Bewegung, die der Spanier sofort mit lebhaften Gebärden beantwortete. Der eine hatte gesagt, »wir sollten doch die Gebeine begraben!« und der andere fragte, »aber womit? Einen Spaten haben wir ja nicht!«

Robert lief zurück zu seiner Höhle, um zum zweitenmal, seit ihn das Schicksal an diesen Strand geworfen hatte, den Spaten in die Hand zu nehmen und ein Grab zu graben. Die Flibustier hatten ja alles Gerat, was sich vorfand, unbeachtet liegen lassen.

Als er zurückkam, ergriff Gomez sofort das plumpe Werkzeug und sagte wieder mit seinen ausdrucksvollen Gebärden ganz verständlich, »gib her, armer Schelm, du hast ja keine Kräfte!«

Robert war sehr damit zufrieden. Er wünschte ohnehin für den letzten Besuch an Mohrs Grabe keinen Zeugen und entfernte sich daher, während Gomez grub, auf dem bekannten Wege, um zum Meeresufer zu gelangen. Als er hier das letzte Mal nach Hause oder an den Strand hinabging, war es im halben Fieber, in stumpfer frageloser Ergebung dem Unvermeidlichen gegenüber, – jetzt dagegen mit neuer Hoffnung, neuem Mute für die Zukunft. Ließen ihn die Räuber nicht gutwillig fort, so würde sich ja die Gelegenheit zur Flucht früher oder später finden. Er fühlte das Leben in seinen Adern täglich neu erstarken und gab nichts verloren.

Die Rettung von dieser Insel im Augenblicke der höchsten Gefahr, als Tod und Genesung mit gleicher Schwere einander bekämpften, – diese Rettung war ja fast ein Wunder zu nennen. Er fühlte die ganze volle Dankbarkeit gegen das Schicksal erst hier, wo er am verzweifeltsten gerungen hatte, wo jenes Schiff, das er in der Gewitternacht so nahe am Strande gesehen, seinen Blicken entschwunden war und ihn krank als eine Beute des heftigsten Nervenfiebers zurückgelassen hatte.

Ein Gesangbuchvers, den er vom Chor der kleinen heimatlichen Dorfkirche herab so oft mit seiner klaren Stimme angestimmt hatte, ein alter, vergessener Vers siel ihm hier am Ufer der entlegenen Infel plötzlich wieder ein, und er summte ihn halblaut vor sich hin, inniger und wärmer als jemals, seit er die Wahrheit desselben so tief empfunden:

Der Wolken, Luft und Winden
Gibt Wege, Lauf und Bahn,
Der wird auch Wege finden,
Wo dein Fuß gehen kann.

Er glaubte nie die Schönheit der Natur so entzückend gesehen zu haben als heute, wo er nach langer, schwerer Krankheit den ersten Ausflug machte. Fast heiter gestimmt, obwohl seine Schritte einem Grabe zugelenkt waren, ging er vorwärts, um der letzten Schlummerstätte des alten Freundes ein Lebewohl zu sagen. Dort grünte und blühte es in allen Farben, dort murmelte das Wasser am überhangenden Ufer und warf spielend leichte Wellen an den blumigen Strand. Robert hatte Mühe, die Stelle wiederzufinden, so üppig war während der zwei Monate die Pflanzenwelt überall vorgedrungen. Aber er wußte doch, wo das müde Herz in Staub zerfiel, und von da pflückte er eine kleine weiße Blume, die zu der Fischgräte in das Taschenbuch wanderte, welches ihm Gomez geschenkt.

Der war gewiß schon ganz ermüdet und wunderte sich, daß ihm sein Gefährte so gar keinen Beistand leistete. Robert sah noch einmal zurück in das kleine Paradies dieser Stätte, der schönsten auf der Insel, er sah noch einmal über das Meer, und dann kehrte er sich ab, wehmütig und hoffnungsfroh zugleich. – Der gutmütige Gomez hatte, als er wieder bei ihm anlangte, das Gerippe des Gerichteten bereits mit einer leichten Erdschicht bedeckt, und so war denn der kleine Ausflug für diesmal beendet. Man fuhr zurück zu der Niederlassung der Räuber, wo Gomez vor allen Dingen eine tüchtige Mahlzeit auf den Tisch brachte. Robert hatte überhaupt nie in seinem Leben bessere Tage gehabt als gerade jetzt. Er wurde zu keiner bestimmten Arbeit gezwungen, sondern half nur, wo es anging, dem Koch und Pflegte den wohleingerichteten Garten, in welchem die Bande alles baute, was zur Vervollständigung einer seinen Küche dient. Außer den bekannten Gewürzkräutern und Gemüsen gab es dort Liebesäpfel, spanischen Pfeffer, Champignons, Pfefferminze und dergleichen mehr. Auch die Ananas und die Banane wuchsen in Fülle, ebenso hielten sich die Flibustier einen stark bevölkerten Hühnerhof, einige Schweine und Kühe. Nur Pferde hatte man nicht, weil eben keine Felder beackert wurden.

Robert war sozusagen der Herr und Gebieter aller dieser reichlichen Schatze eines bequemen, schwelgerischen Lebens. Die Flibustier kümmerten sich um ihr Heimwesen fast gar nicht und um den Verbleib der Eßwaren noch viel weniger. Sie schafften nur den Proviant in Massen herbei, während die Verwendung desselben dem Koch überlassen blieb. Auf ein anstrengendes, gefährliches Tagewerk sollte ein üppiges Mahl und ein guter Trunk folgen, das war es, was sie wollten und wofür sie lebten.

Die Speisekammer stand fortwährend offen, die Früchte wuchsen in überschwenglicher Fülle, die Weinfässer lagen in einer Art von Erdhöhlung, welche nie verschlossen wurde, und Arbeit gab es fast gar nicht. Robert konnte glauben, in das Schlaraffenland des Märchens versetzt worden zu sein, er mußte dies Leben ein verführerisches nennen, aber dennoch dürfen wir zu seiner Ehre sagen, daß er keinen Augenblick das Verlangen trug, der Bande anzugehören.

Auch hier inmitten des Reichtums, des Genusses überschlich ihn die Sehnsucht nach dem blauen Meere, auch hier, wo ihm niemand befahl, niemand seine Absichten, seine Wünsche durchkreuzte oder gar unfreundlich mit ihm sprach, – beengten der Wald und die hölzernen Wände des Hauses ihm das Herz. Er dachte täglich und stündlich an den Augenblick, welcher ein Schiff hierherführen und ihn befreien sollte.

Warum ihn wohl die Fischer noch immer hier behielten? Er begriff es nicht und fragte einmal den Koch danach. Gomez wiegte mit schlauem Lächeln den Kopf. Er setzte den Zeigefinger auf Roberts Brust. »Bukanier!« sagte er.

Der Knabe errötete tief. »Ich? – niemals, Gomez,«

Der Koch zuckte die Achseln. »Roberto Bukanier,« wiederholte er, » no hablan andere Bukaniere!«

Jetzt begriff unser Freund die Meinung des Spaniers. »Ich soll erst an den Verbrechen der Räuber teilnehmen, damit denselben mein Schweigen sicher ist?« fragte er in dem eigentümlichen Kauderwelsch, das sich die beiden geschaffen. »War's so ausgeklügelt, Gomez?«

Der Koch nickte lebhaft. »Ja!« rief er, »ja!«

»Und ich sage nein!« versetzte entschieden der Knabe. »Mein gutes Gewissen sollte ich für immer dahin geben, um dieser Seeräuber willen? – Oho, das geht nicht so leicht, wie ihr denkt, edle Herren, und wenn ihr auch eurer zwanzig einem einzigen Jungen gegenübersteht. Zum Verbrecher lasse ich mich nicht machen.«

Er begab sich wieder an seine Gartenarbeit, die allerdings nicht von der Notwendigkeit diktiert war, die er aber begonnen hatte, um dem Müßiggang zu entfliehen. Er konnte nicht wie die trägen Südländer ganze Stunden lang mit halbgeschlossenen Augen auf einer Matte liegen und dem Herrgott den Tag abstehlen, daher grub er zierliche Beete, wo sonst alles wie Kohl und Rüben durcheinander wuchs, oder er machte den Hühnern eine hölzerne Einfriedigung, damit sie nicht in den Garten gelangten, und räumte die Vorratskammer auf.

Gomez, obwohl ein vortrefflicher Koch und ein guter, harmloser Mensch, war doch keineswegs reinlich oder der Ordnung sehr ergeben, daher fand Robert immer Arbeit in Fülle. Außerdem schoß er gelegentlich einige Vögel, fischte und stickte auch wohl des Kochs Kleidungsstücke, so daß jetzt seine Tage in arbeitsamer Beschaulichkeit dahinflössen. Heimlich aber beobachtete er fortwährend das geliebte Meer und seufzte, wenn wieder der Abend hereinbrach, ohne daß sich ein Schiff der Insel genähert hätte.

Die Bukaniere nahmen von seinem Dasein nicht die geringste Notiz. Vielleicht wollten sie ihm das arbeitslose und schwelgerische Leben erst ganz zur Gewohnheit werden lassen, damit er sich von selbst nachgiebig zeigen sollte, wenn sie ihm die Wahl stellen würden, entweder für immer in ihre Reihen überzugehen oder zu der harten Arbeit des Matrosen zurückzukehren. Sie ließen ihn wie eines der Haustiere an ihrem Tische essen und unter ihrem Dache schlafen, ohne sich um ihn zu bekümmern.

Da sah er eines Tages, daß zu ganz ungewohnter Stunde die Räuber mit allen Anzeichen der Eile und Bestürzung heimkehrten, daß sie den Koch herbeiriefen und laut miteinander sprachen. Robert fühlte, wie ihm das Herz gegen die Rippen pochte. Was war geschehen?

Er schlich sich an den Koch heran und fragte ihn; aber was dieser antwortete, das lag zu weit außerhalb des Gesichtskreises täglicher Angelegenheiten, – er verstand ihn diesmal nicht.

Da rief ihn der, welcher etwas deutsch sprach, zu sich heran. »Du,« sagte er, »es kommt morgen ein Abgesandter der cubanischen Regierung hierher, um die Inseln zu besichtigen, nach versteckten Waren zu forschen und überhaupt seine verdammte Fuchsnase in anderer Leute Angelegenheiten zu stecken. Der Böse hole ihn! – Du aber unterstehst dich nicht, diesem Manne oder seinen Begleitern vor Augen zu kommen, und jetzt legst du Hand ans Werk, unsere Vorräte in ein Versteck zu schaffen, wohin dieser Spürhund nicht gelangen kann. Es ist alles mit schwerer Arbeit redlich verdient,« schloß er, »aber die verfluchten Söldlinge der Regierung, diese Blutsauger und Menschenschinder brauchen nicht zu wissen, daß wir uns in besseren Sachen als nur in Bananen und Fischen satt essen können, sonst werden gleich die Steuern erhöht, so daß ein rechtschaffener Kerl keinen Piaster mehr für sich behält. Wenn du nicht gehorchst, Bursche, dann – – «

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Ein bezeichnender Blick und ein Griff an das kurze Gewehr vervollständigten diese geharnischte Rede. Robert sah wohl, daß bitterer Ernst derselben zu Grunde lag, und daß er Folge leisten müsse, wenn nicht ein wohlgezielter Büchsenschuß ihn unversehens treffen sollte. Er begab sich also zu dem Koch, um von diesem nähere Aufträge zu erhalten.

Ein Boot wurde auf den Strand gezogen und mit den Vorräten der Speisekammer angefüllt, dann ruderten es zwei Räuber in einen kleinen Fluß, dessen Windungen und Krümmungen unter dichtem Gebüsch den, Männern nicht gestatteten, in ihrem Fahrzeuge aufrecht zu stehen. Knieend oder gar liegend brachten sie mit äußerster Anstrengung, meistens durch Schieben und Ziehen das Boot vorwärts, aber dafür waren auch ihre kostbaren Schätze sicher verborgen. Nur ein Eingeweihter konnte den Lauf dieses schlangenartig gewundenen Baches verfolgen, und nur wer sein Eigentum vor den Blicken anderer bewahren wollte, konnte sich entschließen, in diese Wildnis vorzudringen. Robert mußte im Laufe des Tages mehr als einmal die beschwerliche Fahrt mitmachen und sowohl Eßwaren als auch die besseren Möbel der gemeinschaftlichen Wohnung, Schießbedarf und Waffen unter dem undurchdringlichen Gebüsch verbergen helfen. Alles, was nicht mit dem Fischereigewerbe in Zusammenhang stand, wurde an den Ufern des verborgenen Baches sicher versteckt, so daß sehr bald die ganze Umgebung den Charakter der äußersten Armut angenommen hatte. In der großen Vorratskammer lagen Segel, Netze und Taue, im Wohnzimmer befand sich nur noch ein hölzerner Tisch und ein paar rohe Bänke, während die guten Betten des anstoßenden Gemaches durch Haufen von Seegras ersetzt waren.

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Die Räuber fischten emsig, so daß die Abgesandten der Regierung einige Tage später unter zahllosen Schnüren mit zum Trocknen aufgehängten Meeresbewohnern ihren Weg verfolgen mußten. Sie fanden das Frühstück auf dem Tisch, aber nur in Gestalt einer Bananenmahlzeit und einiger frischgekochter Schuppenträger, die sie auf Rafaeles höfliche Einladung hin mit der ganzen Bande verzehrten. Robert erhielt in einem Versteck des Hofes zwar seinen Anteil, aber er wagte es doch nicht, sich blicken zu lassen. Sehnsuchtsvoll das hübsche Fahrzeug der Beamten mit den Augen verschlingend, saß er hinter einem aufgestapelten Haufen von Brennholz und fühlte solchen Schmerz, daß es ihm unmöglich war, auch nur einen Bissen zu genießen.

Manchesmal stand er auf dem Punkt, mit festen Schritten über den Hof zu gehen und gerade vor den Beamten hinzutreten, geradeaus im Namen der Gerechtigkeit zu verlangen, daß ihn dieser von der Insel und von der aufgedrungenen Nähe der Bukaniere befreie. Das Mittel schien so einfach, es lag so nahe, aber gleichwohl zögerte Robert es auszuführen. Wenn ihn der Spanier nicht verstand oder wenn er von den Flibustiern bestochen worden war, gewisse Dinge weder zu hören noch zu sehen?

Nein, nein, Robert mußte sich ergeben, mußte wieder, nachdem drinnen im Wohnzimmer das Gaukelspiel ein Ende gefunden und Rafaeles Erlaubnisschein zur Fischerei von dem Beamten erneuert worden war, die weißen wallenden Segel sich entfalten und im Abendsonnenschein den Strand verlassen sehen. Das Herz wurde ihm so schwer, so schwer, wie seit langem nicht, die Augen füllten sich mit brennenden Tränen, kaum konnte er ein heraufquellendes Schluchzen gewaltsam unterdrücken.

Lieber, viel lieber hätte er das harte Schiffsbrot gegessen und die schwere Arbeit des Seemanns willig ertragen, als daß er hier unter Verbrechern wie ein Schlemmer lebte, ja er meinte sogar, daß selbst der Tod besser sei als dieser entwürdigende Zustand. Aber dennoch gab es kein Mittel zu seiner Befreiung; er sah das Schiff sich entfernen, weiter und immer weiter, – alle Hoffnung war fürs erste wieder dahin.

Gomez kam und sah ihn freundlich tröstend an. Er allein verstand den Seelenzustand des Knaben, der von seinem bösen Schicksal in so beschwerende Verhältnisse geworfen worden war, er allein empfand ein gewisses rohes Mitleiden und suchte dasselbe durch reichliche Weinspenden zu betätigen. Die Bukaniere ihrerseits tranken zur Feier des Tages so lange, bis sie sämtlich besinnungslos unter den Tischen lagen.

Die Ankunft des Beamten war schon seit mehreren Monaten vorausgesehen und gefürchtet worden, daher atmeten jetzt alle auf, nachdem sich das drohende Unwetter schadlos verzogen, und während der nächstfolgenden Zeit herrschte unter der Bande die fröhlichste Stimmung. Es vergingen acht Wochen, in denen für Robert kein Tag anders verstrich als seine Vorgänger, – dann aber fiel wie ein Blitz aus heiterer Luft ein ungeahntes Ereignis in dies Stilleben hinein und änderte auf einen Schlag alles.

An jenem Felsen, welcher auch der unglücklichen Galliote so verderblich geworden war, strandete ein französisches Vollschiff, das zwar bei dieser Katastrophe keinen Leck erhielt, aber doch nicht ohne die Beihilfe eines anderen Fahrzeuges wieder loskommen konnte. Der Kapitän ließ daher die Notflagge aufhissen, und unter den Flibustiern herrschte die größte Aufregung.

Vom Bord des Franzosen erglänzte nicht allein eine sehr achtunggebietende Messingkanone, sondern die Mannschaft sah auch nicht danach aus, als ob es ganz leicht sei, mit ihr fertig zu werden. Vielleicht war der Kapitän auf alles vorbereitet, da er seine Leute bewaffnet hatte und drei Vierteile der gesamten Anzahl beständig an Deck hielt.

Ein offener Angriff wurde von seiten der Räuber überhaupt niemals vollführt, aber auch im Finstern, auch heimlich, wie der Luchs oder die feige Hyäne ihre Opfer beschleichen, ließ sich hier nur schwerlich etwas ausrichten. Nebenher drohte noch ein anderer Umstand den Filibustiern diesmal ihre Beute streitig zu machen.

Am unteren Ende der Insel lebte nämlich noch eine zweite Gesellschaft ehrenwerter Fischer, die auch den gestrandeten Fahrzeugen zur Hilfe zu eilen pflegte und die sogar im gegenwärtigen Bild Falle das Notzeichen des Franzosen noch etwas früher bemerkt hatte, als Rafaele und seine Bundesbrüder.

Es entstand ein Wettrudern, welches damit endete, daß das Boot der Gegenpartei um zwei Minuten früher unter dem Bug des Franzosen anlegte. Bachicho, so hieß der Anführer der zweiten Bande, hatte also das Spiel gewonnen und konnte, wenn sich weiter nichts erreichen ließ, doch immerhin den französischen Kapitän für die zu leistende Hilfe nach Möglichkeit schrauben. Rafaele dahingegen mußte mit seinen Leuten unverrichteter Sache wieder abziehen.

Das spanische Blut wallte heiß zum Hirn empor, und die Hand griff nach dem Messer. Nur einer ganz kurzen Beratung bedurfte es, um einstimmig festzustellen, daß mit dieser Niederlage die Sache selbst noch nicht zum Austrag gekommen sei. Das große Boot wurde instand gesetzt, die Segel befestigt, Haufen von Schießbedarf an Bord gebracht und im Gebüsch am Strande ein Aufpasser zurückgelassen.

Gegen die Dämmerung hin verkündete dieser, daß sich das kleine Boot mit den beiden Unterhändlern vom Bord des Franzosen wieder entfernt habe, und nun bestiegen zehn Bukaniere unter Anführung Rafaeles das größere Fahrzeug, um im Schutz der beginnenden Finsternis zur entgegengesetzten Seite der Insel zu fahren und dort den Feinden alle und jede Verbindung mit dem gestrandeten Schiffe abzuschneiden.

Robert sah diese Vorbereitungen, aber ohne ihren Zusammenhang ganz zu begreifen; er wandte sich an den Koch, welcher mit gespannter Aufmerksamkeit den Verlauf der Dinge beobachtet hatte. Es war jetzt gänzlich dunkel und von dem französischen Schiff herüber dröhnten Signalschüsse. Der Kapitän schien ungeduldig geworden zu sein, da nunmehr, nachdem sich vorher zwei Parteien um den Sieg gestritten, die ersehnte Hilfe ganz ausblieb.

»Gomez,« fragte der Knabe, »was bedeutet das? Wird da unten gekämpft?«

Seine Handbewegung verständigte den Koch, dessen lebhaftes Gebärdenspiel ihm sofort Auskunft gab. Gomez führte gewaltige Hiebe in die Luft, legte an, kniff ein Auge zu und rief »Puff!« – Dann deutete er in die Gegend des gestrandeten Schiffes. »Pilot!« (Steuermann, Lotse) raunte er, »Pilot – Havana. Rafaele, Gomez, Pilot! Andere Bukaniere no, no

Seine Hand durchschnitt wagrecht die leere Luft, um anzudeuten, daß keiner der übrigen Räuber imstande sei, ein Schiff nach dem Hafen von Havana zu steuern.

Robert hatte sofort begriffen. »Gomez,« flüsterte er mit halber Stimme, und nachdem ihn ein schneller Rundblick überzeugt, daß kein Lauscher in der Nähe sei, »Gomez, das Schiff braucht also, um in den Hafen zu gelangen einen Mann, der das Fahrwasser genau kennt, und kann einen solchen auf gewöhnlichem Wege nicht erreichen, weil bis hierher die Lotsenschoner nicht kommen? Ist es so?«

»Ja!« nickte der Koch, dem Roberts Deutsch, das ohnehin mit etlichen spanischen Worten verbrämt war, ganz verständlich klang. »Ja!«

Robert legte beide Hände auf die Schultern des schwarzbärtigen Küchenbeherrschers mit den blinzelnden Augen und der harmlosen Seele. »Gomez,« bat er, während seine Stimme vor Erregung heiser klang, »Gomez, nimm mich mit dir!«

Der Spanier mochte sehen, um was ihn sein Schützling bat. » Mi figlio« (mein Sohn), sagte er kopfschüttelnd, und mit bedauerndem zärtlichem Tone, » mi figlio, – kann nein tun, no, no! Rafaele so – – «

Und dann ergriff er seinen Kopf und zerrte an demselben, als wolle er ihn herabreißen, ohne Zweifel um anzudeuten, daß ihn der Herr und Gebieter dieser Insel zur Strafe für solchen Verrat unter allen Umständen töten werde.

Robert ließ seufzend die Arme sinken. Gomez hatte nur allzusehr die Wahrheit gesprochen, das wußte er wohl, und doch gab es ihm einen Stich ins Herz. »Aber das Schiff sitzt ja fest,« sagte er nach einer Pause, »wie soll es ohne den Beistand eines anderen Fahrzeuges von der Klippe loskommen?«

Gomez steckte blitzschnell seine zehn Finger in die Luft und dann wieder zweie derselben. Darauf vollführte er mit beiden Armen emsig schaufelnde Bewegungen, als backe er ein Brot und rolle und schiebe den Teig im Trog umher.

Bild »Du meinst, daß um zwölf Uhr nachts die Flut kommt und das Schiff flott macht?« fragte unser Freund.

Der Koch nickte. »Nur Pilot! Pilot!« wiederholte er.

Robert sah sehnsüchtig über das Wasser dahin. »Rafaele wird selbst gehen,« antwortete er nach einer Pause.

Der Koch zuckte die Achseln. » Quien sabe?« (wer weiß?) murmelte er.

Und wirklich sollte sich die Befürchtung, welche er im stillen gehegt haben mochte, nur zu bald erfüllen. Das kleinere, dem großen nachgefolgte Boot der Flibustier kam zurück und brachte mehrere Verwundete, unter anderen auch den Anführer selbst. Während ein verstärkter Ersatz aus der Anzahl der noch Vorhandenen schleunigst entsandt wurde, berief Rafaele den Koch, der zugleich als Heilkünstler aushalf, zu sich. Gomez verband die Stichwunde im Arm, den Streifschuß am Hals und den Hieb, der einen Finger fast ganz von der Hand getrennt hatte, dabei aber sprach der Verwundete fortwährend, und als endlich die Unterhaltung zu Ende war, kehrte Gomez mit schlauem Blinzeln in die Küche zurück.

»Ich Pilot!« raunte er. »Havana!«

Robert erbleichte. »Du?« stammelte er.

»St! St! – Roberto so?«

Er machte die Bewegungen des Schwimmens.

Der Knabe nickte eifrigst. »Natürlich, Gomez, natürlich. Ich kann schwimmen und kann es aushalten so lange wie nur ein Mensch, der sich damit das Leben retten will.«

»St! – St! – Aber Haifische?« flüsterte Gomez und riß den Mund sperrangelweit auf. »Haifische so!« – Dabei schnappte er fürchterlich und sah, den ganzen Oberkörper wiegend, mit bedauernden Blicken auf seinen jungen Freund.

Robert lächelte mit bleichen Lippen. Er fühlte, wie ihm ein Schauder über den Rücken herabrann. »Das tut nichts, Gomez,« antwortete er, »ich habe ja den Weg von jener Klippe bis zum Strande schon einmal schwimmend zurückgelegt.«

Gomez pfiff leise. Seine beiden Hände stellten sich stach nebeneinander in die leere Luft und dann trennte er sie um das Sechsfache des ursprünglichen Raumes. »So!« sagte er, »und so!«

Robert nickte. »Ich weiß, daß die Entfernung zwischen dieser Insel und dem Schiffe bedeutend größer ist als die andere,« sagte er, »aber ich setze alles an alles. Entweder gerettet oder tot, – einen Mittelweg gibt es nicht.«

Das hatte nun zwar der brave Gomez keineswegs verstanden, aber er erriet den Sinn, und seine durch Blicke und Bewegungen gegebenen Ratschläge zeigten dem Knaben, wie er es anfangen müsse, bis zum äußersten Vorsprung der Insel sich durchzuschleichen und dann auf kürzestem Wege schwimmend bis zum Schiffe zu kommen. Er sagte ihm, daß zwei andere Bukaniere ihn begleiten würden, um das Boot zurückzurudern, und daß er, Gomez, daher erst von dem französischen Schiffe aus für ihn sorgen könne. Zuguterletzt wiederholte er noch sein bedenkliches »Haifisch! – Haifisch!« –

Aber Robert hatte genug gehört, um einen ganz festen Entschluß zu fassen. Er tat zwar in der Küche seine gewöhnlichen Arbeiten, brachte dem fluchenden Anführer einen kühlenden Trunk und blieb absichtlich im Wohnzimmer zurück, als das Boot mit drei Bukanieren vom Lande abstieß, Rafaele hatte also gesehen, daß er zu dieser Zeit nahe bei seinem Bette stand und konnte später, wenn die Flucht gelang, dem braven Gomez keine Vorwürfe machen.

Dann aber, nachdem er noch einige Winke seines Gebieters befolgt, suchte er mit fieberhafter Hast den Weg über den weißen, sandigen Strand bis zur letzten Klippe der Insel. Keinen Blick sandte er rückwärts, kein Bedenken ließ er in sich aufkommen. Jetzt lag die Freiheit offen und verheißend vor ihm, jetzt oder nie hieß die Losung.

Der Strand war vom Mondlicht hell überglänzt, und auch auf dem Meer lag es wie flüssiges Silber. Weiße Schaumperlen rollten in stärkerem Anprall gegen den Kies, wie geschaukelt hoben sich die Wogen. In einer Viertelstunde mußte die Flut diese ganze Gegend bis an den Waldsaum unter Wasser gesetzt haben.

Robert sah das Boot. Es schoß wie ein Pfeil durch die Wellen dahin und war in der Ferne nur noch als ein dunkler Punkt bemerkbar. – Er hatte für die Ausführung seines Entschlusses keine Zeit mehr zu verlieren.

Noch ein tieferer Atemzug, dann warf er Jacke und Stiefel von sich, nahm das Taschenbuch mit seinen beiden einzigen Andenken an diese Insel, die Fischgräte und die Blume von Mohrs Grabe zwischen die Zähne, – dann sprang er in das Wasser, tauchte ein paarmal unter, um sich der Erfrischung und Abkühlung so recht bewußt zu werden, und schwamm nun, so schnell er konnte, in der Richtung zum Schiff.

Aber die Entfernung war weit, und er wußte, daß es in dieser Gegend zahllose Haifische gab. Wie oft hatten die Bukaniere vom Strande aus einen geschossen, um das Fleisch, wie Beefsteak gebraten, zu verspeisen, wie oft hatte er selbst an solchen Mahlzeiten teilgenommen. Jetzt konnte nur allzuleicht das Gegenteil eintreten – der Gedanke war gräßlich.

Aber noch sah er nichts Verdächtiges. Nur die blauen und silbernen Wogen umgaben ihn wie ein weites, weiches Bette, schienen sich an seine Glieder zu schmiegen, und wie spielende belebte Wesen vor ihm zu fliehen. Es erfüllte ihn mit stolzer heimlicher Freude, unter sich bergestief die unergründliche Wassermasse und um sich die unbegrenzte Freiheit zu wissen. Er liebte es, mit den Elementen zu ringen, er fühlte sich glücklich in dem Gedanken, selbst wollen und selbst handeln zu dürfen, unbekümmert um die Meinung anderer. Eine Bootsfahrt wäre etwas ganz Alltägliches, morgen Vergessenes gewesen, – diese Schwimmfahrt dagegen mußte ihm ihrer Gefahr und abenteuerlichen Seltenheit wegen ewig im Gedächtnis bleiben.

Noch sah er nichts. Der Mond schien hell herab, nah und näher kamen die schwarzen Umrisse des Schiffes, – in einiger Entfernung fuhr langsam das Boot mit den beiden Bukanieren zur Insel zurück. Jetzt würde man in wenigen Minuten dort seinen Namen rufen, ihn suchen, Verdacht fassen ...

Der Gedanke trieb zur Eile. Immer schneller durchschnitten die kräftigen Arme das Wasser, mit immer stärkerem Anprall schlugen die Wellen an Roberts Brust. Er hatte jetzt das Schiff bis auf einige zwanzig Schritt Entfernung erreicht. Deutlich zeigten sich an Deck die Gestalten mehrerer Männer, – er sah, wie sich Gomez mit halbem Leibe über die Schanzkleidung beugte.

»Schiff ahoi!« rief er laut, in ausbrechendem Jubel. »Hier bin ich, Freund!«

Aber das letzte Wort blieb ihm fast in der Kehle stecken. Was regte sich dort, rechts von ihm, und plätscherte leise, was ragte mit halbem Leibe rundlich und aschgrau über die Oberfläche der blauen, glitzernden Meereswellen empor?

Ein häßlicher Kopf tauchte auf, ein bogenförmiges Maul öffnete sich, – im Mondlicht schimmerten sechs Reihen sägenartig gezackter, nach hinten gebogener Zähne – –

Noch tiefer neigte sich Gomez über die Schanzkleidung herab. –

Robert tauchte schnell wie der Blitz und kam fast unter dem Bug des französischen Schiffes wieder an die Oberfläche. In diesem Augenblick krachte ein Schuß langhallend über das Wasser dahin; zu Bergen türmten sich hoch aufgespritzt die Wogen, weißer Gischt schlug an die Wände des Fahrzeuges, angstvolle Stimmen riefen »Schnell! Schnell!«

Robert erfaßte das Tau, welches ihm zugeworfen wurde. Wie eine Katze kletterte er daran empor, rückwärts blickend, ob auch der gräßliche Widersacher ihn verfolge. Das Meer war rings von Blut bedeckt, purpurn kräuselten sich die Wellen, – das todverwundete Tier, rasend vor Schmerz und Wut, erhob sich mit letzter Kraft zum Sprunge – –

Scharfe Zähne packten und ritzten den nackten Fuß unseres Freundes. Er verdoppelte seine Anstrengungen, um dem drohenden Verderben zu entrinnen.

Bild Da griffen kräftige Arme unter seine Schultern. Gomez hob mit raschem Schwunge den Halbermatteten an Deck. » Amigo«(Freund),sagte er, schwankend zwischen Rührung und Freude, » mi Amigo« – doch Haifisch! Gomez gerettet Roberto!«

Der Knabe schlang beide Arme um den Hals des Koches und küßte dessen bärtige Lippen. Was er sagte und was Gomez dagegen mit der Eilfertigkeit des Südländers hervorsprudelte, das verstanden sie beide nicht, aber ihre Herzen fühlten es.

Der französische Kapitän mußte von dem Zusammenhang der Dinge bereits unterrichtet sein, denn er schenkte mitleidig dem ganz durchnäßten und nur mit Hemd und Hose bekleideten Gaste einen Anzug aus seiner eigenen Garderobe, ebenso ließ er ihm Branntwein und Fleisch geben.

Gomez lachte mit Augen und Mund. Obgleich der Genosse von Räubern und keineswegs gewillt, dies Leben mit einem anderen, besseren zu vertauschen, war er dennoch gutmütig wie ein Kind. Daß er den Hai erschossen, machte ihm außerordentliches Vergnügen.

Seine und Roberts Unterhaltung wurde aber sehr bald gestört. In allen Fugen des Schiffes kam es wie ein Knarren und Ächzen, unter dem Kiel regte sich's, und dann entstand ein plötzlicher Ruck, ein Schaukeln und Wiegen, das die ganze Mannschaft aufatmen ließ.

Die »Blume von Frankreich« war flott, und der Lotse konnte sein Amt antreten.

Robert warf die neugeschenkte Mütze hoch in die Luft. Sein Jauchzen, sein ungestümes Entzücken entlockte allen Zuschauern ein Lächeln, das halb von der Rührung hervorgerufen war.

Als sich das Schiff mit frischem Wind von der Insel entfernte, als Gomez, obwohl er seit längerer Zeit nur noch den Kochlöffel geschwungen, jetzt auf dem Halbdeck stand und in ruhig befehlendem Tone seine Kommandos gab, da packte es den Knaben wie eine Art von Trunkenheit. Was gesprochen wurde, das verstand er nicht, aber dennoch war er bei der Ausführung einer der ersten. In die Masten hinauf ging es, als hätte er den ebenen Erdboden unter den Füßen, und von oben herab jubelte er ein wonniges befreites Lebewohl den verschwindenden Ufern zurück.

Wie ferne Schatten zogen die Erlebnisse der letzten vier Monate an seiner Seele vorüber, wie die wechselnden Bilder eines Traumes all die Stunden voll Todesqual und bitterer, hoffnungsloser Verzweiflung. Er achtete ihrer nicht mehr, er versenkte in ewiges Vergessen das Leid welches ihn getroffen, um dieses Freiheitsjubels, dieser Seligkeit willen – – –

Und doch! – das helle Auge wird feucht und das Lächeln um die jugendlichen Lippen schmilzt hin in stille Wehmut. Dorthin, wo das Meer wie ein Silberstreif die vorspringende Landzunge umsäumt, wo die Palmen rauschen und die Blumen schöner blühen, trägt der spielende Abendwind einen leisen Abschiedsgruß.

Schlaf wohl im einsamen Grabe, Mohr, mein lieber alter Freund. Schlaf wohl, du Befreiter, Erlöster.


Die »Blume von Frankreich« lag wohlbehalten im Hafen der Havana vor Anker, und schon ehe noch der neue Tag angebrochen, hatten Gomez und Robert das Schiff verlassen; ersterer um sich an derjenigen Stelle des Hafens einzufinden, wo gewöhnlich die Bukaniere landeten und ihre Fische feilboten, letzterer um sich den Nachforschungen Rafaeles zu entziehen. Es unterlag keinem Zweifel, daß der Räuberhäuptling alles aufbieten würde, den Entflohenen wieder einzufangen und zum Zweck seiner eigenen Sicherheit zu töten, daher mußte Robert so rasch als möglich an Bord eines anderen Schiffes zu gelangen suchen.

Gomez schüttelte bedenklich den Kopf. Auf einem Segelschiff so schnell angemustert zu werden, hielt schwer, und ein solches zu finden, das gleich abfahren wollte, natürlich noch viel schwerer. Aber von hier fort mußte sein » figlio«, sein » amigo« und » hermano« (Bruder), wie der brave Koch abwechselnd den Knaben nannte, und daher durfte er es einmal nicht so ganz genau nehmen, mußte sich mit einem Dampfer begnügen und –

Gomez schaufelte in der Luft. » Mi figlo, es nicht anders gehen.«

Robert lachte über das komische Gesicht, in welchem sich Schlauheit und Bedauern so sonderbar vermischten. »Das schadet ja nicht, alter Knabe,« sagte er gut gelaunt, »aber weißt du von einem Dampfschiffskapitän, der mich mitnehmen würde?«

Gomez pfiff leise. Dann antwortete er in seiner Weise, daß an Heizern immer Mangel sei und wanderte mit dem Knaben zu einer Art von Fähr- oder Gasthaus, wo schon um diese Zeit ein reges Leben herrschte, oder wo dasselbe eigentlich überhaupt niemals erlosch. Hier schien er bekannt zu sein, denn dieser und jener nickte ihm zu, und endlich sprach er eifrig mit einem Manne, der in seinem Äußeren den »Jan Maat«, d. h. den deutschen Matrosen auf den ersten Blick verriet. Dieser sah zu Robert hinüber und nickte, indem er ein paar spanische Worte sprach, worauf Gomez den Knaben aufforderte, in der Gesellschaft zu bleiben, bis er selbst wiederkommen werde. Das » no hablan!« wurde noch flüsternd beigefügt, und dann verschwand er.

Robert begriff unschwer, daß ihm in dem Matrosen ein Beschützer erworben war, und um so mehr fühlte er sich verpflichtet, über die Lebensweise der Flibustier durchaus zu schweigen, ja sogar womöglich lieber nicht von seinem Aufenthalt auf der Insel zu erzählen. Das sollte ihm sehr leicht Bild werden, da der Seemann nur ein Paar gleichgültige Fragen hinwarf, ihm das Grogglas zuschob und dann in den Halbschlummer zurückfiel, aus welchem ihn Gomez geweckt hatte. Dieser kam auch sehr bald wieder und führte seinen Schützling auf ein Dampfschiff, wo alles deutsch sprach und wo man binnen wenigen Stunden in See zu gehen beabsichtigte.

Der Kapitän versprach für die etwa zehn- bis vierzehntägige Reise nach New York dem jugendlichen Heizer einen Lohn von acht Dollar, und man war sehr bald handelseinig. Beim Abschied von dem braven Gomez steckte dieser noch in aller Geschwindigkeit seinem Schützling ein paar spanische Goldmünzen in die Hand und wünschte ihm alles mögliche Gute. Sein » addio, mi figlio!« war mit ziemlich unsicherer Stimme gesprochen, und auch Robert drückte wiederholt die Hand des Mannes, der ihn in schwerer Krankheit treulich gepflegt, und dessen fester Arm ihm das Leben gerettet hatte.

Addio,Addio!– –

Robert sah ihm nach, so lange seine Gestalt auf der Hafenmauer dem Blicke erreichbar blieb. Wenn auch ein bürgerlich Verfemter und Ausgestoßener, hatte doch der Spanier ein warmes Herz, und das sicherte ihm die dankbare Zuneigung des Knaben. – – –

Nach kaum zwei Stunden verließ der Dampfer den Hafen, und Robert stand mit der Schaufel in der Hand vor der glühenden Feuerstätte, um jetzt ein sehr saures Stückchen Brot zu essen, das ihm im Anfang nach dem Schlaraffenleben auf der paradiesischen Insel zwar nicht so recht munden wollte, das er aber doch trotz blutender, mit Schwielen bedeckter Hände und schlafloser Nächte dem Aufenthalt unter Spitzbuben tausendfältig vorzog.

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