Sophie Wörishöffer
Robert des Schiffsjungen Fahrten und Abenteuer auf der deutschen Handels- und Kriegsflotte
Sophie Wörishöffer

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Siebentes Kapitel

Auf dem Walfischfang

Robert hatte seinen Rausch verschlafen, aber keineswegs den abenteuerlichen Plan aufgegeben. Obgleich er sehr wohl wußte, daß es eine Unklugheit war, sich so dem ungewissen Schicksal anzuvertrauen, konnte er doch dem Verlangen nach neuen Erlebnissen nicht widerstehen. »Ich bin frei,« dachte er, »frei wie der Vogel in der Luft, niemand darf mir meinen Weg vorzeichnen, niemand darf mir Gesetze geben und Beschränkungen auferlegen, also weshalb sollte ich zögern, das zu tun, was mir am besten gefällt? – Ob ich einige Jahre früher oder später als gemachter Mann nach Pinneberg zurückkehre, daran liegt nichts. Erst will ich mir die Welt besehen.«

Er ging zum Hafen hinab mit dem Vorsatz, ohne weiteres an das von dem alten Witt bezeichnete Schiff zu fahren und sich von dem Kapitän heuern zu lassen, – da legte sich plötzlich von hinten eine Hand auf seine Schulter, Herr Hastedt grüßte verbindlichst.

»Freut mich, daß ich Sie wiedersehe!« sagte er. »Noch keine Heuer angenommen?«

Roberts Plan war im Augenblick fertig. »Warte,« dachte er, »dich will ich bezahlen, Schurke. Zwar könnte ich dich auf der Stelle meine Fäuste fühlen lassen, aber das wäre nicht empfindlich genug. Du sollst es verlernen, deine Landsleute zu betrügen.«

Er wandte sich äußerst freundlich zu ihm. »Noch keine Heuer angenommen, Herr Hastedt! Ich denke immer, ob nicht das Glück so günstig wäre, mir eine Fahrt in das Eismeer zu vergönnen.«

Herr Hastedt bot eine Zigarre und sagte dann: »Ja, ja, nach dem Eismeer, dahin, wo es Taler regnet wie Schneeflocken. Ich glaube es Ihnen wohl, und – hm, ich hätte auch vielleicht eine Aussicht für Sie. Die Sache ging mir beständig im Kopfe herum, man nimmt teil an einem so liebenswürdigen jungen Landsmann, und da ich doch als Agent aller möglichen Geschäftshäuser fast die ganze Stadt kenne, so habe ich mich nach einer Heuer für Sie umgesehen. Ist Ihnen die Geschichte etwa fünf Dollar wert, so können Sie einen Platz als Jungmatrose erhalten, – natürlich durch meine Vermittelung.«

»Ach, das wäre mir außerordentlich lieb!« rief unser Freund. »Da hätte ich ja rechtes Glück gehabt, als wir einander begegneten.«

»Sie wollen also die fünf Dollar daran wenden? – Ich bekomme dieselben nicht, natürlich könnte mir's nie einfallen, von Ihnen Geld zu nehmen, aber ein Bekannter, welcher derartige Geschäfte betreibt, – wissen Sie!«

Robert lächelte eigentümlich. »Mir ist die Heuer mehr als fünf Dollar wert,« sagte er, ohne die gestellte Frage geradezu zu beantworten. »Lassen Sie uns sogleich jenen Geschäftsmann aufsuchen, Herr Hastedt.«

»Well!« rief dieser. »Ohnehin ist Eile nötig, da das Schiff zur Abfahrt bereit liegt. Wenn Sie kein bares Geld mehr im Besitz haben sollten, Herr Kroll, so kann die Bezahlung immerhin warten, bis Sie an Bord gehen. Es gibt dann fünf Dollar Handgeld.«

Robert nickte äußerst zufrieden. »Das paßt mir gerade,« versetzte er. »Meine letzten paar Kröten muß ich notwendig daran wenden, um mir Wollenzeug anzuschaffen. Wo wohnt denn der betreffende Herr?«

»O, der ist leicht gefunden. Er hat einen Lagerbiersalon (so heißen in New York die gewöhnlichen Schenken) hier auf dem Kai, so eine Art von Börse, wo er Geschäfte abschließt und seine Kunden empfängt. Kommen Sie nur mit mir.«

Die beiden gingen in ein nahegelegenes Wirtshaus, wo wirklich der erwartete Zwischenhändler bei einem Glase Grog die Zeitungen las. Er sah ziemlich schäbig aus und sprach das Deutsche ebenso geläufig wie unser Freund selbst. Offenbar hatte er diesen und seinen Begleiter erwartet, das konnte Robert nur allzu wohl bemerken.

»Euch will ich die Suppe versalzen,« dachte er. »Wartet nur, Gauner. Und nebenbei sollt ihr auch nicht die Genugtuung haben, mich für angeführt zu halten. Nur Geduld, die Strafe entgeht euch keinesfalls.«

Er ließ sich dem schäbigen Herrn vorstellen und hörte noch einiges über schlechte Geschäfte, riesigen Zudrang der Matrosen zu Fahrten nach dem Eismeer und Ähnliches, dann erklärte Herr Hastedt, daß seine Zeit durchaus gemessen sei, wünschte sich nochmals Glück, dem liebenswürdigen Landsmann einen Dienst geleistet zu haben und verschwand, nachdem er noch mit dem anderen einige bezeichnende Blicke und Flüsterworte gewechselt hatte.

Jetzt begaben sich die beiden Zurückgebliebenen zum Hafen, und Robert bemerkte, daß es das dritte Schiff war, wohin der Deutschamerikaner die Jolle rudern ließ. »Also ganz geschäftsmäßig wird das betrieben,« dachte er. »Dieses Fahrzeug soll zuerst auslaufen, ihm werden also die ersten »Dummen« zugeführt. Na – wartet!«

Er kletterte gewandt an Bord und half dem ängstlichen Agenten, der sich mit beiden Händen an seine Rockschöße klammerte, lachend über die Schanzkleidung, dann sah er sich das Schiff an. Ein einziger Rundblick zeigte ihm die größte Ordnung und mustergültigste Sauberkeit; es war alles auf das zweckmäßigste eingerichtet, alles bestens erhalten und in gutem baulichen Zustande. Nur riesig hoch schienen ihm die Masten! – dort die Oberbramraa schwebte ja wahrhaftig beinahe in den Wolken.

»Gott, da hinauf zu müssen!« sagte schaudernd der Agent. »Brr!«

Robert lachte. Ihm hüpfte ja das Herz vor Freude, als er wieder ein Schiff unter den Füßen fühlte. »Wollen Sie einmal sehen, wie es gemacht wird?« rief er, – und im nächsten Augenblick flog er wie ein Vogel an den Tauen hinauf. »Ach, das lohnt aber der Mühe! – Kommen Sie mir nach, Herr so und so, Sie glauben nicht, welche Aussicht ich hier genieße!« –

»Scheußlich! Scheußlich!«

Der mitleidige Mann schloß die Augen, als sich Robert ziemlich rücksichtslos wieder herunterplumsen ließ und katzengleich auf die Fußspitzen sprang. »Aber wenn nun das Schiff schaukelt und auf der Seite liegt,« sagte er voll Entsetzen, »wie machen Sie es dann?«

Roberts Augen leuchteten. »Dann wird es erst ein Hochgenuß!« versetzte er, »dann spannt es alle Kräfte des Körpers und der Seele, dann ist es der Sieg des Menschen über die rohe Gewalt der Elemente, der Sieg des Turners über eine Aufgabe, welche nicht zu den leichtesten gehört. Wenn das Schiff schlingert und stampft, wenn der Sturm heult und der Regen die Augen blendet – dann beginnt erst der Genuß, dann hat die Sache ihren wahren Reiz!«

»Gott segne meine Seele, – welche Vermessenheit!«

Inzwischen war der Obersteuermann an Deck gekommen und hatte sich den fixen, schlankgewachsenen Burschen mit unverkennbarem Wohlgefallen betrachtet. Solche Leute waren es, welche ihm noch fehlten.

Der Agent sprach leise mit ihm, indes sich Robert, nachdem er die Mütze in die Hand genommen, bescheiden zur Seite hielt, und dann, als eine Art von Personalverhör begann, freimütig antwortete. Der Obersteuermann nickte sehr zufrieden. »Wir werden etwa zehn bis zwölf Monate ausbleiben,« fuhr er fort. »Wollen Sie für die ganze Reise heuern und zwar mit fünf Dollar Handgeld, vier Dollar Monatslohn und Teilhaberschaft an einem Sechstel vom Reingewinn, so schreiben Sie Ihren Namen in diese Musterrolle. Das Geld beim Eintritt in den Dienst.«

Robert spürte, wie ihm das Herz schlug. Es war, als fühle er jetzt erst die ganze Schwere des unklugen Streiches, als höre er, daß ihm Mohr zuflüsterte: »Tu's nicht, tu's nicht, – die Reue kommt nach.«

Aber dann schwebte wieder die verlockende Seite der Sache vor seinem geistigen Auge. Nein, nein, er mußte auch das ewige Eis sehen, mußte wissen und erfahren, wie man sich mit dem Erfrieren abfindet, nachdem ihm die Tropensonne fast das Hirn versengt, als er fiebernd und todesmatt im Sande lag. –

Er schrieb mit festen Zügen seinen Namen in das Register; Robert Eduard Kroll, Leichtmatrose. – So, jetzt rollte die Kugel, jetzt konnte er nicht mehr zurück und wollte es auch nicht. Das Seewesen war ja im allgemeinen für ihn etwas anderes als für andere, da er nicht bloß einen Erwerbszweig daraus machte, sondern seiner Leidenschaft, seinem innersten Berufe folgte. Die meisten Matrosen wollten etwas Erkleckliches vor sich bringen, um dann in späteren Jahren am Lande ein kleines Geschäft gründen zu können, – er selbst wollte die Welt sehen und seiner Neigung nachleben. –

Der Obersteuermann nahm die Musterrolle zurück und befahl dem neuen Leichtmatrosen, übermorgen früh um sieben Uhr an Bord zu sein. Dann war er entlassen.

Der Agent gelangte wieder mit Ächzen und Seufzen die Treppe hinab. Er schüttelte sich, als er, auf der Ufermauer stehend, nach dem schwarzen Koloß zurückblickte. »Der ›Vogel Greif‹ heißt das Ding,« sagte er. »Wahrlich, ich wollte am festen Lande ein Karrenschieber werden, bevor mich solcher Vogel greifen dürfte! Aber die Neigungen sind ja verschieden, Herr Kroll, nicht wahr? Kann ich Ihnen mit Bezug auf Ihre Einkäufe noch in irgend einer Weise dienen, so gebieten Sie über mich.«

Robert dankte ablehnend. »Vergessen Sie nur nicht, zur bestimmten Zeit an Bord des ›Vogel Greif‹ zu erscheinen!« mahnte er. »Es ist der Auszahlung wegen.«

Der schäbige Herr grüßte äußerst verbindlich. »Werde nicht ermangeln, bester Herr, verlassen Sie sich darauf. Werde mich pünktlich einstellen!«

Die beiden trennten sich und unser Freund verwendete nun die nächsten Stunden, um sich für das nordische Klima auszusteuern. Derbes Wollenzeug, schwere Seestiefel und doppelte Röcke, dazu Fausthandschuhe und wollene Strümpfe, alles wurde zusammengekauft, oder als schon vorhanden in der Seekiste säuberlich geordnet, denn Robert gehörte bei allen seinen Fehlern doch durchaus nicht zu denen, welche das Geld, sobald es in ihrer Tasche klingt, auch wieder sinnlos verschwenden. Er war ein eigensinniger, leidenschaftlicher und vielleicht auch etwas eitler Bursche, aber er liebte die Ordnung, erschien immer wie aus dem Ei geschält und hielt das Seinige zu Rate, wie ihn denn auch die heimliche Schurkerei des Herrn Hastedt und des Agenten im innersten Herzen empörte. Deutsche Landsleute, arme, unwissende Auswanderer zu verraten und zu verkaufen, deutsche Brüder in der Ferne zu betrügen, dachte er voll Entrüstung, o pfui, wie schändlich! Aber wartet, Halunken, ich werde euch einen Denkzettel geben, an dem ihr länger als bis morgen zu kauen haben sollt!

Er bezahlte in der Frühe des zur Abreise bestimmten Tages seine Rechnung beim Schlafbas, nahm die Kiste auf die Schulter und ging mit der schweren Bürde seelenvergnügt zum Hafen hinunter.

Jetzt begann das neue Leben. Nicht mehr Junge, nicht mehr du angeredet und von den älteren Genossen gehänselt, nicht mehr zu den Arbeiten einer Scheuerfrau verwendet, und neben allem diesen die Aussicht auf Abenteuer über Abenteuer! – Wer war glücklicher als er, wem schien die Sonne so hell wie ihm? – –

An Bord sah er etwa fünfundzwanzig bis dreißig sehr verschiedene Gesichter, schwarze, braune, gelbe und weiße bis zu dem halb ängstlichen, halb verlegenen Auswanderer, der vielleicht von Beruf ein Schuster oder Schneider war, und der ein halbes Menschenleben hindurch die Nähnadel regiert hatte, um dann den Verlockungen des »Schleppers« nachzugeben und sich für den Walfischfang ködern zu lassen.

Eine Gruppe dieser letzteren stand flüsternd und scheu aus Vorderdeck beisammen. Erst wenn die ganze Mannschaft vollzählig und die Musterrolle verlesen war, gab es Handgeld, und erst dann konnte der schäbige Agent dort hinten bei der Kombüse, der ganz abgesondert an der Schanzkleidung lehnte und alles scharf beobachtete, seinen Sündenlohn erhalten. Noch fehlten zwei Geworbene, wie Robert zufällig hörte, daher begrüßte er nur flüchtig den Agenten und setzte sich auf seine Seekiste, um den Augenblick der Auszahlung zu erwarten.

Als die beiden letzten Auswanderer, – arme Hessen, die von weinenden Frauen und Kindern bis an die Jolle begleitet wurden – das Deck betreten hatten, verlas der Obersteuermann die Musterrolle und gab dann jedem einzelnen das versprochene Handgeld. Robert sah die Farbigen und diejenigen, deren Äußeres befahrene Seeleute verriet, mit den empfangenen Papierdollar zum Logis zurückkehren, –- es waren nur jene anderen, welche dem Agenten das Geld als Maklergebühr zu überliefern hatten.

Der Schäbige drängte sich schmunzelnd vor.

Roberts Augen funkelten. Er trat bis hart an den Deutschamerikaner heran und zwang ihn mittels eines festes Griffes, ihm in einer entlegenen Ecke Gehör zu schenken.

»Sieh mich an, Spitzbube,« sagte er leise, »gib acht, was ich dir jetzt mitteilen werde, und was du deinem würdigen Genossen, Herrn Hastedt, von mir bestellen kannst. Ihr seid beide ein paar Erzhalunken, die ihre bedrängten Landsleute in die Falle locken und an ein ungewisses, wo nicht gar erbärmliches Schicksal verkaufen wollt. Ihr spiegelt den oft von Hunger und Elend ausgemergelten, schwindsüchtigen Leuten goldene Berge vor, während sie in der Tat das letzte verlieren und den Rest ihrer Gesundheit zusetzen. Glaubt nicht, daß ihr mich betört hättet! – ich wollte aus anderen Gründen die Reise mitmachen, – aber die dort, die Unglücklichen mit den hohlen Augen und kraftlosen Gliedern, das sind eure Opfer, ihr Hyänen in Menschengestalt. Und jetzt sprich, du Schuft, willst du dich schleunigst entfernen, ohne auch nur einen einzigen Cent erhalten zu haben, oder willst du, daß ich laut meine Worte wiederhole? – Dann sei Gott deinem Rücken gnädig!«

Der Agent stand käsebleich vor dem erregten jungen Menschen. »Herr Kroll,« sagte er, »ich weiß nicht! – Sie verlangen Dinge, die –«

Robert ließ den Arm los. »Aha, du willst also nicht nachgeben? Du hoffst vielleicht auf den Beistand der Schiffsoffiziere? – Aber bei Gott, du sollst erfahren, wie bereitwillig Jan Maat dem Seelenverkäufer seinen Lohn auszahlt. Ein Wort, und –«

Der Agent sprach nicht, machte keine Bewegung, die auf Widerstand gedeutet hätte, sondern verschwand so eilig, daß seine Fähigkeit im Erklettern von Schiffstreppen diesmal eine ganz außerordentliche genannt werden mußte. Robert sah sein mehr als keckes, gewagtes Spiel vollständig gelungen, er hatte wieder einmal einer Gefahr getrotzt und den Sieg behalten, – er war voll stolzer Freude.

Wenn der mit Kapitän und Obersteuermann unter einer Decke spielende Agent die Hilfe der beiden ersteren ernstlich angerufen hätte, so würde Robert nicht ohne Strafe davongekommen sein, aber er wußte und rechnete darauf, daß der Schuldige dazu nie den Mut finden würde, daß das böse Gewissen auch feige und erbärmlich macht, daher wagte er die Sache.

Als der Schäbige in seiner Jolle so schleunig davonfuhr, ohne sich auch nur noch ein einziges Mal umzusehen, da entstand im Kreise der übrigen ein erstauntes Murmeln, und endlich wurde Robert von allen Seiten gefragt, was er mit dem Manne verhandelt habe.

Unser Freund hütete sich indessen weislich, die Wahrheit zu bekennen. Er überließ es den Leuten, mit ihrer Verwunderung fertig zu werden, so gut sie eben konnten. Nur eins begriff er nicht. Was wollte der Kapitän mit diesen Jammergestalten?

Aber ihn kümmerte das nicht, namentlich da zur Bedienung für den »Vogel Greif« augenscheinlich eine genügende Anzahl von Matrosen vorhanden war. Der Kapitän befand sich noch an Land, konnte aber in jeder Minute kommen, und dann mußten die Anker gelichtet werden. Der kleine Schleppdampfer, welcher das Segelschiff aus dem Hafen bringen sollte, lag schon vorgespannt, und alles an Bord war zum Aufbruch gerüstet.

Als endlich der Befehlshaber an Deck erschien, wurden die zum Auslaufen nötigen Vorbereitungen getroffen, und Robert konnte seinen neuen Gebieter von Angesicht zu Angesicht mustern, obwohl Kapitän Wright keinen der Matrosen zu bemerken schien, sondern ohne Gruß oder Blick in die Kajütte ging und selbst mit dem Obersteuermann nur einige wenige Worte wechselte. Robert sah, daß dieser letztere in beinahe militärischer Haltung verharrte, und daß er wiederholentlich die Hand an die Mütze legte, – alles Dinge, welche man auf der ›Antje-Marie‹ nicht gekannt hatte und die einen sehr strengen Vorgesetzten verrieten.

Er sah auch ganz wie ein solcher aus, dieser Amerikaner mit dem hohen Wuchs und den breiten, muskulösen Schultern. Sein Gesicht war regelmäßig, aber kalt, seine Augen grau und scharfblickend, Haar und Bart fuchsrot.

Wie bei so vielen Grönlandsfahrern gehörte auch in diesem Fall das Schiff nicht etwa einem Reeder, sondern dem Kapitän selbst, der vielleicht fremdes Geld darin stecken hatte, dem aber doch keinerlei Vorschriften mit auf die Reise gegeben wurden. Thomas Wright war auf dem ›Vogel Greif‹ wie auf einer Insel im Weltmeer der unumschränkte Herr und König.

Bald nachdem er die Tür der Kajütte hinter sich geschlossen, erschien auch der Lotse, und jetzt erzitterte das Schiff in seinen Grundfesten, um fünf Minuten später den Hafen verlassen zu haben.

Der Lotse erinnerte zuweilen den Mann am Steuer an den richtigen Kurs im Kielwasser des Dampfers, sonst war die Mannschaft unbeschäftigt, bis der Befehl gegeben wurde, die Marssegel zu lösen und alles für den Augenblick vorzubereiten, wo der »Vogel Greif« seine Schwingen entfalten würde, um mittels derselben das Meer zu durchfliegen.

Robert als Leichtmatrose hatte mit mehreren anderen die Oberbramsegel zu bedienen, und war, als kaum das von dem Lotsen in Form eines höflichen Ersuchens dem Obersteuermann zugegangene Kommando ertönte, der erste oben in den Wanten. Freilich fühlte er etwas Erschöpfung und glaubte, als er die ungewohnte Höhe erklettert hatte, fast in den Wolken zu sein.

Den Hafen und die Stadt mit ihren großartigen Bauten, ihren Türmen und gewaltigen Häusermassen sah er jetzt wie die Figuren eines Jahrmarktes und mußte schnell auf seine Bändsel blicken, um nicht vom Schwindel ergriffen zu werden.

Nachdem alle Segel gelöst, konnten sich die Leute wieder für eine Zeitlang in das Logis begeben, um ihre mitgebrachten Sachen zu ordnen und die erste Tagesmahlzeit in Empfang zu nehmen. Das war gegen die auf der »Antje-Marie« verabreichten Lebensmittel ein fühlbarer Unterschied, namentlich da es Zucker und Branntwein überhaupt gar nicht gab. – Die Hessen bedankten sich bestens für alles, was sie erhielten, während die Seeleute große Augen machten und manches halblaute » damn it« (verdammt) der Hoffnung auf einen tüchtigen Schluck Rum bei ihrem Zerflattern das Geleit gab. Robert vermißte den Branntwein nicht als etwas, dessen er bereits bedurft hätte, aber er sagte sich von vornherein, daß die unweise Sparsamkeit des Kapitäns auf einen herrischen Gebieter, einen starrsinnigen, habsüchtigen Charakter schließen lasse, und das mißfiel ihm. Wer für eine Handvoll Dollar das herkömmliche Recht der Matrosen so durchaus verletzen konnte, der war gewiß kein guter Mensch – und unser Freund mit seiner leidenschaftlichen Natur haßte alles Unedle, Kleinliche bis zur Verachtung.

»Das wird ihm eingetränkt,« dachte er. »Nun, mich trifft der Verlust am wenigsten schwer. Dieser Höllenfürst Branntwein soll an mir wahrlich nie einen Sklaven bekommen.«

Während er die Koje, das Logis und die Kombüse besichtigte, hatte das Schiff bei Sandy Hook die Haltetaue des Dampfers gelöst, dieser letztere war seitab davongegangen und nun erscholl an Deck das Kommando des Lotsen: »Braßt voll, hinten!« –

Robert tat wieder seine Schuldigkeit; der Kurs wurde östlich genommen und nach einer Stunde voller Fahrt bei allen Segeln erschien in der Ferne der Lotsenschoner, welcher an dieser Stelle fortwährend kreuzt, um von den Schiffen, sobald das offene Fahrwasser erreicht ist, die Lotsenkapitäne wieder an Bord zu nehmen.

Der Obersteuermann benachrichtigte den Schiffsführer, und dieser kam an Deck, um mit prüfendem Blick den Stand der Dinge zu mustern. Dann zog er die Brieftasche hervor und nahm ein bedrucktes Papier, welches er unterzeichnete und dem Lotsen überreichte. »Eine Anweisung auf meinen Bankier in New York, Sir. Ich nehme nie bares Geld mit an Bord.«

Der Lotse sah sehr erstaunt aus. »Kein bares Geld, Kapitän? Aber es können doch Fälle eintreten, wo man es notwendig braucht. In fremden Häfen –«

»Ich laufe keinen an, Sir.«

Der Lotse zuckte die Achseln. »Well. Kapitän, Sie können natürlich tun, was Ihnen beliebt. Ich würde freilich lieber auf alle Fälle gerüstet sein wollen, namentlich bei einer Fahrt in das Eismeer. – Lassen Sie gefälligst das Schiff backlegen, Sir,« wandte er sich an den Obersteuermann.

Während dieser die vorgeschriebene Bewegung ausführen ließ, hatten die Schiffsjungen den Ölrock und die lederne Tasche des Lotsen in ein herabgelassenes Boot befördert und hatte der Kapitän dem scheidenden Gaste noch ein Glas Sherry vorgesetzt. Dann wurde das kleine Boot, nachdem es die wenigen Schritte bis zum Schoner zurückgelegt, wieder eingeholt und der ›Vogel Greif‹ setzte seine Reise fort. – –

Es ging alles am Schnürchen, alles wie auf einem Kriegsschiff, das bemerkte Robert schon während der nächstfolgenden Tage. An Deck wurde kein lautes Gespräch, kein Gesang gestattet, aber auch an den Mahlzeiten gegeizt, als seien Schiffsbrot und Speck die teuersten Besitztümer, und mit den Überbleibseln des vorigen Tages die nächste Mahlzeit womöglich wieder eingeschränkt.

Der Untersteuermann sah alles. »Morris,« hieß es bei einer Gelegenheit, »Ihr habt gestern Euer Fleisch nicht verzehrt, und Ihr, Sheppard, ließet die Klöße stehen. Das ist Unordnung, – ihr dürft das Eigentum des Kapitäns nicht verschwenden. Was übrig bleibt, das gebt dem Koch zurück!«

Gegen solche Ansprüche erhoben sich manche halblaute Einreden. »Wenn Eure Klöße wirklich Klöße wären, so würde ich sie auch gegessen haben,« brummte Sheppard, »aber Mehl und Wasser tun's nimmer allein, Sir, das gibt kleine Kanonenkugeln, weil kein Tröpfchen Fett in den Teig gekommen ist.«

Der Untersteuermann schüttelte den Kopf. »Ihr seid ein sehr anspruchsvoller Bursche, Sheppard,« versetzte er. »Wo blieben denn die geschmähten Klöße?«

»Ja, da müßt Ihr die Haifische fragen, Sir!«

Ein halbunterdrücktes Lachen folgte auf diese letztere Antwort. »Ich weiß, wo sie sind,« nickte Morris, – »bei meinem Fleisch, welches zufällig ein Knochen war. Ich entschädige mich für diesen Ausfall durch Aufzählung aller Branntweinrationen, die uns seit Beginn der Reise vorenthalten worden sind.«

Der Untersteuermann mochte annehmen, daß jetzt die Unterredung vernünftigerweise zum Abschluß neige. Jan Maat fühlt sich durch schlechte Küche in seinen heiligsten Empfindungen verletzt, das wußte er und fürchtete mit Recht, daß ein verstärkter Druck vielleicht einen Ausbruch herbeiführen möge. Wenn er aber auch für diesen Tag schwieg, so folgten doch viele Tage und viele ähnliche Auftritte. Es wurde unter dem besten Wetter immer stetig Ost- Nord-Ost gesteuert und Robert konnte nicht umhin, dem Kapitän das Zeugnis eines vortrefflichen Schiffers zu geben. Thomas Wright hielt seine Wache so gut wie der letzte Kajüttsjunge, d. h. er ließ sich durch den Obersteuermann pünktlich alle vier Stunden wecken und machte persönlich eine Runde, um den Stand der Dinge bis ins kleinste hinein selbst zu beurteilen. Als man in die Nähe von New-Foundlandsbanken kam, schlief er nur für Augenblicke auf dem Sofa und ging dann auf der gefährlichsten Stelle während der ganzen Nacht auf dem Verdeck von einer Seite zur anderen, um auszuspähen.

»Ein ganzer Mann!« dachte Robert. »Ich möchte so einer werden, aber kein Leuteschinder, wie dieser. Er ist ein Geizhals durch und durch.«

Der unzufriedene Sheppard, welcher, neben ihm auf seiner Kiste sitzend, vielleicht beim Anblick des rastlosen Kapitäns das gleiche dachte, – stieß mit dem Ellbogen in Roberts Seite. »Du,« sagte er, »heuerst du zum zweitenmal auf dem ›Vogel Greif‹?«

»Wieso das? Ich fahre überhaupt auf keinem Schiffe zum zweitenmal, denke ich.«

»Oho! – das Meer sieht sich überall ähnlich, mein Bursche, und vom Lande kriegt man ja doch verdammt wenig zu sehen. Wo es gute ›Asche‹ setzt,« hier machte er die Fingerbewegung des Zahlens – »da wirft unsereins Anker.«

Robert ließ den letzteren Ausspruch unbeantwortet. »Warum fragst du also?« sagte er.

»Na – wegen der Verpflegung. Komm erst einmal in die Breiten, wo es fünfzehn Grad Kälte gibt, und habe dann einen leeren Magen, der noch obendrein niemals einen Tropfen Branntwein erhalt, da sollst du die Geschichte schon unbequem finden.«

Robert zuckte die Achseln. »Der Kapitän ißt was wir bekommen,« antwortete er. »Es wird für ihn nichts anderes gekocht, also was willst du?«

Aber der Amerikaner gab nicht nach. »Gerade das ist eine Schande,« sagte er eifrig. »Man muß die Vorgesetzten auch gehörig achten können, wenn's gut gehen soll. Dieser aber würde immer nur Furcht einflößen, d. h. mir nicht. Ich hielt ihm lieber heute als morgen eine Faust unter die Nase.«

Robert lachte. »Tu's nicht, Kamerad. Er antwortet dir unverzüglich mit Kettenarrest, darauf darfst du dich fest verlassen. Und vielleicht gibt's ja weiterhin auch Branntwein.«

»Den Teufel gibt es. Der ›Vogel Greif‹ behält keinen Mann länger als für die eine Reise, während welcher der Geprellte nicht vom Bord kann, nachher gehen alle. Es ist auf dem ganzen Schiff nicht einer, der vor der letzten Ausfahrt schon dagewesen wäre. Auf welche Weise bist du eigentlich hierhergeraten, wo doch meistens nur – –, du weißt schon, was ich meine.«

Aber an Roberts erstauntem Gesicht sah er nur zu wohl, daß dieser in der Tat nicht wußte, um welche vertrauliche Mitteilung es sich hier möglicherweise handeln könne. »Nun, nun,« setzte er rasch hinzu, »man hat ja verschiedene Gründe. Die deinigen in allen Ehren. Bist ja überhaupt noch zu jung, um schon einmal drüben gewesen sein zu können.«

»Wo drüben?«

»Im Sing-Sing! (das Zuchthaus des Staates New York.) Zu unseren Zeiten des Matrosenmangels heuert ja niemand, dessen Papiere ganz sauber sind, auf einem Grönlandsfahrer. Aber wenn man einmal von den verdammten Tintenklexern ins schwarze Buch geschrieben ist, dann hält es auch schwer, einen guten Kapitän zu finden.«

Robert lachte, diesmal jedoch etwas gezwungen. »Nein,« versetzte er, »das waren wirklich Bild meine Gründe nicht. Aber, – vergib, ich will dich nicht beleidigen – aber bist denn du – –?«

Sheppard nickte. »Ja.« seufzte er, »leider. Aber denke nicht, daß ich ein Dieb oder ein Straßenräuber gewesen wäre. Es ging nur einmal unglücklicherweise eine Pistole los, im Streit natürlich, – na, und die traf einen anderen vor die Stirn. So kommt es im Leben.«

Robert bewahrte seine äußere Ruhe, obwohl ihm das Herz heftig schlug. Er war unter den Bukanieren der westindischen Insel früh zum Mann herangereift, daher erschrak er nicht so heftig, wie dies im Beginn seiner Reise der Fall gewesen wäre, trotzdem aber blieb er sich des unangenehmen Eindruckes doch wohl bewußt. Neben ihm saß also wieder einmal ein Mörder und vielleicht befanden sich unter der übrigen Mannschaft noch mehrere, die auch keine bessere Vergangenheit aufzuweisen hatten.

Das Blut stieg ihm heiß zu Kopf. Hätte er diese Einzelheiten vorher gekannt!

»Nun,« fuhr Sheppard fort, »du bist mir auf meine frühere Frage noch die Antwort schuldig. Was führte dich hieher?«

Robert raffte sich gewaltsam auf. »O,« sagte er, »ich wollte die Welt kennen lernen, weiter nichts.«

Der Amerikaner rückte ihm näher. »Halten wir zusammen, du,« fragte er.

»In allem, was recht ist, ja.«

»Du bist ein Schlauberger!« lächelte der andere. »Aber ich meine auch nur das, was recht ist, verlaß dich darauf.«

»Dann sind wir gute Kameraden.«

Die Unterhaltung wurde hier durch andere unterbrochen und es vergingen mehrere Tage, ohne daß Robert wieder mit dem Amerikaner sprach. Man hatte jetzt die gefahrdrohenden Banken hinter sich, so daß gerade nördlich in das Atlantische Meer hineingesteuert wurde. – Die sämtlichen Hessen und Nassauer mußten, da sie zu Seediensten untauglich waren, das Schiff scheuern, Kartoffeln schälen, Geräte reinigen und was dergleichen untergeordnete Arbeiten mehr waren, also blieben die Leichtmatrosen von diesen unangenehmen Beigaben ganz verschont. Robert konnte manche freie Stunde dazu verwenden, einige gute Bücher, welche ihm der Untersteuermann lieh, zu lesen, um dadurch seine geistige Ausbildung zu fördern. Während die übrigen würfelten oder mit in den Taschen geballten Fäusten auf den Kapitän schimpften, vertiefte er sich in Werke über Länder- und Völkerkunde, oder er studierte die englische Sprache, welche er längst geläufig redete, auch ihrem inneren Wesen nach und zwar, um nicht bloß die Matrosenausdrücke, sondern ebenso die Schriftsprache kennen zu lernen.

Kam er bei solchen Streifzügen in die verschiedenen Gebiete der Naturwissenschaften auch einmal an ein Kapitel über das Pflanzen- und Tierleben in den nordischen Gegenden, so hüpfte ihm das Herz vor Freude und er vergaß sowohl die schlechte Gesellschaft, in welcher er sich befand, als auch die mageren Mahlzeiten aus der Kombüse. Das alles würde er nun bald sehen, bald von Angesicht zu Angesicht kennen lernen; immer weiter hinauf in das Atlantische Meer eilte der »Vogel Greif«, immer kälter wehte es durch das Takelwerk, bis endlich die Türen fest verschlossen gehalten und die Spaziergänge an Deck auf das Unentbehrlichste beschränkt wurden.

Die Insel Jan Mayen war erreicht, Robert sah Scharen von Seehunden auf den Eisfeldern liegen und erwartete, daß jetzt eine aufregende Jagd beginnen müsse, aber diese Hoffnung sollte nicht allein ihm, sondern auch in ganz anderer Beziehung den übrigen fehlschlagen. Der Kapitän erklärte, keine Seehunde fangen zu wollen.

Die Leute sahen einander an. »Gebt acht,« raunte Sheppard, »er will bis nach Nowaja Semlja hinauf, um den Wal zu hetzen. Diese Fische sind jetzt so selten geworden, daß man bis an solche entlegene Küsten vordringen muß, um sie zu treffen. Es wird kaum Tag geworden sein, wenn wir in der Eiswüste anlangen.«

Mehrere andere, besonders die Hessen, hörten bedenklich zu. »Kaum Tag, Sheppard, wie meinst du das?«

Der Amerikaner lächelte ärgerlich. »Gerade so, wie ich es sagte, Maaten. Auf Nowaja Semlja herrscht von Oktober bis Anfang März eine ununterbrochene Nacht. In diesen Breiten kann kein Mensch leben, ja, das Innere der Insel ist völlig so unbekannt und unerforscht, wie das Innere von Afrika.«

Die biederen Schuster und Schneider schüttelten sich vor Grauen. »Jesus,« fragte einer, »ist's denn auf dem Meere auch Nacht?«

Ein Gelächter der Seeleute antwortete ihm. »Nun,« tröstete Sheppard, »es wird ja Mitte März werden, bis wir im besten Falle da oben angelangt sind, wenn – – –« hier machte er mit langsamem Rundblick auf die übrigen eine Kunstpause, »wenn wir überhaupt gestatten, daß das Schiff so weit gegen die Eisschranke vordringt.«

Robert antwortete mit einem bedeutsamen Wink. »Sheppard,« sagte er, »wäge deine Worte, Mann.«

Der Amerikaner zuckte die Achseln. »Ich meine nur so, Robert,« versetzte er. »Dürften wir alle wie ich, dann würde bei Jan Mayen der Seehund, welcher in ungewöhnlicher Anzahl vorhanden war, gejagt, nicht aber bei solcher Kost, wie wir sie bekommen, blindlings auf die Eisschranke losgesteuert.«

Mehrere andere umdrängten den Sprecher. »Was meinst du mit diesem Worte, Sheppard?« fragten sie. »Gibt es denn eine Grenze, wo das Wasser aufhört flüssig zu sein, wo, wie man zu sagen pflegt, gleichsam die Welt mit Brettern vernagelt ist?«

Sheppard nickte. »Ich bin 1864 mit Nordenskiöld an dieser angenehmen Stelle gewesen,« sagte er, »und weiß wie es tut. Da müßt ihr euch außerhalb des heizbaren Raumes das Getränk so in den Mund schütten, daß eure Lippen von dem Gefäß nicht berührt werden. Die Kälte ist dermaßen stark, daß das Metall die Haut zu verbrennen scheint.«

»O Jesus! Jesus! – davon sprach in New York der Agent keine Silbe.«

Der Amerikaner lachte spöttisch. »Das glaube ich euch, Leute. Würde auch verdammt schlecht als Empfehlung gepaßt haben, denke ich.«

Robert schwieg. Er hatte über die Erlebnisse verschiedener Forscher zu viel gelesen, um nicht zu wissen, daß Sheppard die Wahrheit sprach, aber einesteils schreckte ihn der Gedanke an bevorstehende Mühseligkeiten nicht besonders zurück, und andernteils fand er es nicht rätlich, die Stimmung der Leute so zu beeinflussen. Was half es, wenn ein halblautes Murren entstand und einige Verführte in Eisen gelegt wurden?

Aber Sheppard gab nicht nach. »Wenn wir nur ganz einig wären,« fuhr er fort, »dann ließe sich die Sache so leicht machen. Man erklärt im höflichsten Tone von der Welt dem Kapitän, daß er entweder umkehren oder die ganze Arbeit allein verrichten müsse. Da wird ihm die Wahl sehr vereinfacht, sollte ich meinen!«

Robert sah in Sheppards düster erregtes Gesicht. »Das ist eine Seite von der Sache,« sagte er möglichst unbefangen, »aber es gibt auch noch eine zweite. Wenn wir das Mißgeschick hätten, einem amerikanischen Kriegsschiff zu begegnen, so könnte es uns passieren, daß wir sämtlich mit einer Kanonenkugel unter den Füßen an die Raa gehängt würden. Hast du das bedacht, als dein schnelles Wort gesprochen wurde, Kamerad?«

»Pah, ein Kriegsschiff kommt nicht hierher. Und überdies – sterben müssen wir doch, wenn an Nowaja Semlja ohne Branntwein gejagt werden soll. Ich will lieber an der Unterraa hängen als verhungern und erfrieren zugleich.«

»Ich auch!« antworteten mehrere Stimmen.

»Hört,« meinte Morris, nachdem eine drückende Pause vergangen, »ich hätte euch etwas Vernünftiges vorzuschlagen. Sagt aber vorher eins! Weiß jemand, ob auch wirklich Branntwein an Bord ist? Denn sonst helfen ja alle Worte zu nichts.«

Wenigstens zehn bis zwölf Männer riefen einstimmig: »Es ist genug vorhanden! Wir haben mehrere Fässer voll gesehen.«

»Well,« nickte Morris, »dann schickt in aller Güte eine Deputation an den Kapitän ab, und laßt ihn durch diese um eine kleine tägliche Ration bitten. Wir werden ja daraus sehen, wie er gesonnen ist.«

Sheppard kräuselte spöttisch die Lippen. »Versucht es,« antwortete er kurz. »Beugt den Nacken und er wird nicht verfehlen, darauf zu treten. Zeigt, daß ihr Sklaven seid, und er wird euch mit der Peitsche drohen. Übrigens – wer wollte denn zu ihm gehen und um etwas bitten?«

»Ich!« – »Und ich!« – »Wir auch!« so scholl es von allen Seiten.

Sheppard kreuzte die Arme. »Zu dem rothaarigen Judas? Hütet euch vor den Gezeichneten! steht in der Bibel.«

Roberts Blicke suchten wieder die des Matrosen. »Sheppard, kannst du im Ernst so ungerecht sein, einen Mann um der zufälligen Farbe seines Haares willen als schlechten Charakter bezeichnen zu wollen?«

Sheppard lachte. »Die Bibel tut's ja, nicht ich,« antwortete er. »Übrigens scheinst du als Seemann deinen Beruf ein wenig verfehlt zu haben, mein Kleiner. Hättest lieber ein Geistlicher werden sollen. Der Reverend Kroll hätte gewiß auf die Herzen seiner Zuhörer einen gewaltigen Eindruck hervorgebracht.«

Robert errötete, aber er blieb ruhig. »Das ist möglich, Sheppard. Mir war aber das Seeleben doch lieber, namentlich weil ich – die Beschwerden desselben nicht eben sehr hoch anschlage. Nehmt mich gefälligst aus, wenn ihr im Namen der Mannschaft um Rum bittet.«

Des Amerikaners Augen blitzten. »Du bist wahrlich für deine siebzehn Jahre ein kecker Gesell,« sagte er. »Aber warte doch ein wenig, bis du das letzte Wort sprichst. Ich habe noch eine Trumpfkarte auszuspielen, die auch dich stutzig machen wird, mein Junge.«

Robert bewahrte seine kühle Haltung. »So laß hören, Sheppard,« sagte er.

Der Matrose sah von einem zum anderen. Er schien sich an der angstvollen Spannung aller dieser Gesichter heimlich zu freuen. »Vernehmt also,« begann er, »daß an Bord ein Würgengel sein Haupt erhebt, – daß eine furchtbare Geißel uns bedroht! – Im Logis liegt einer der Männer krank und elend darnieder, – er hat den Skorbut!«

Sheppard sprach mit jenem halblauten, bedeutsamen Tone, der in entscheidenden Augenblicken so sehr geeignet ist, den Hörer zu erschrecken. Er machte zwischen seinen Worten mehr als eine Pause, um die Wirkung des Gesagten zu erhöhen.

Allgemeine Stille folgte dem Ausspruch. Jeder fühlte zentnerschwer das Gewicht desselben, mehr als einer wurde bleich bis in die Lippen.

»Steckt das an?« fragte endlich zagend einer der Hessen.

»Wie die Pest!« antwortete Sheppard. »Voraussichtlich wird kein Mann auf dem ganzen Schiffe verschont bleiben, und warum das? – Weil der Kapitän den Branntwein und den Zucker und das Texasfleisch samt Sauerkraut an uns gespart hat, weil er uns zwingt, in unnatürlicher Kälte zu leben, und die Niedergeschlagenheit, welche unausbleiblich auf solche Zustände folgt, ihren schlimmen Einfluß geltend machen zu lassen. Alle diese Ungehörigkeiten erzeugen den Skorbut, und daher müssen wir umkehren, ehe es zu spät ist.«

Man sah jetzt, wie die Aufregung stieg. Einzelne Gruppen flüsterten, und das Für und Wider wurde lebhaft erwogen. »Aber wenn er nicht will, durchaus nicht will?« fragten die Zaghaftesten.

»Er muß, wenn wir wollen!«

»Der verfluchte Agent!« hieß es jetzt. »Der Betrüger, welcher uns ins Unglück gestürzt hat. Kanntest du ihn persönlich, Robert? – Du sprachst bei der Abreise so eifrig mit ihm, daß er darüber ganz vergaß, die Maklergebühr von uns zu erheben.«

Robert lächelte. »Ja,« sagte er gedehnt, »das vergaß er, – vielleicht ein wenig durch meine Beihilfe. Ich fand es schon arg genug, daß er euch auf einen Grönlandsfahrer gelockt und glaubte ihn hierfür einer besonderen Belohnung nicht würdig.«

Sheppard hatte voll Erstaunen zugehört. Jetzt schlug er derb auf Roberts Schulter. »Das war brav von dir, Junge,« sagte er lebhaft. »Wie fingst du es an?«

»Nun – ich versprach ihm eine Tracht Prügel. Das ist sehr einfach.«

»Teufelskerl!« lachte der Amerikaner. »Und wer solche Haare auf den Zähnen hat, wie du, der will sich gegen seine Kameraden mit einem Leuteschinder von Kapitän verbünden?«

»Durchaus nicht. Aber ich finde, daß Männer dem Ungemach trotzen müßten, daß ihr nur des vernachlässigten Magens wegen nicht kleinmütig werden dürftet. Hat einer von der Mannschaft den Skorbut, so ist das schlimm, aber die Behauptung, daß wir alle ihn bekommen, scheint doch wahrhaftig ein starkes Wagnis.«

»Das ist es nicht. Die Krankheit steckt an, sage ich euch!«

Robert schüttelte den Kopf. Er ging, ohne ein weiteres Wort hinzuzufügen, in die Koje des Kranken, und fragte ihn freundlich, ob er etwas zur Linderung seiner Schmerzen beitragen könne, aber der arme Schelm hörte ihn kaum. »Etwas Säuerliches,« flüsterte er halb verständlich, ach, »etwas Säuerliches zu trinken.«

Roberts gutes Herz empörte sich in diesem Augenblick gegen die Härte des Kapitäns vielleicht noch mehr, als bei den übrigen der Fall gewesen war. Alle anderen dachten an sich selbst, er dagegen dachte an den hilflosen Kranken.

»Ich will versuchen, was ich für Euch tun kann!« tröstete er und blieb dann vor der Tür des Volkslogis überlegend stehen. Eine schneidende Kälte fuhr ihm entgegen, der Schnee wirbelte um seinen Kopf, und der Atem stockte ihm fast in der Kehle. Wie Eisbären, beschneit und von oben bis unten in ihre Munkejacken geknöpft, sahen die wachthabenden Matrosen aus.

Robert blickte über das Schiff weg zur Tür der Kajütte. Ob ich geradeswegs zu ihm gehe und ihm die Sache vorstelle? dachte er. Ich darf es freilich eigentlich nicht, es ist gegen alle Schiffsgesetze, aber wenn noch ein Funke von Menschenliebe in seiner Seele zurückgeblieben ist, so muß er mir verzeihen und den Kranken besser verpflegen.

Der Obersteuermann, welcher gerade Wache hatte, ging in diesem Augenblick nahe an unserem Freunde vorüber. Es schien, als enthalte sein musternder Blick eine stumme Frage, als habe er halb und halb die Absicht stehen zu bleiben.

Robert berührte leicht mit der Hand die Mütze. »Herr Obersteuermann?« fragte er, »wissen Sie, daß einer der Matrosen krank liegt?«

Der Angeredete gab stirnrunzelnd den Blick seines Untergebenen zurück. »Ja,« versetzte er kurz. »Und was kümmert das Euch, wenn man fragen darf?«

»Alles, Herr Obersteuermann. Für den Kranken wie für die gesamte Besatzung des Schiffes. Der Matrose hat den Skorbut.«

Mr. Pikes, der Obersteuermann, sah flüchtig hinüber zur Kajütte, als fürchte er, daß möglicherweise drinnen das schlimme Wort gehört sein könne. »Still!« raunte er in barschem, befehlendem Tone. »Wo hinein mischt Ihr Euch? – Das ist kein Skorbut und auch der Kranke ist nur einer dieser faulen hessischen Brotfresser, welche der Kapitän umsonst füttert, bis später die gefangenen Fische zerhackt und ausgebraten werden. Für diese Weiberarbeiten erhält die Bande den vollen Matrosenlohn, und dann reißt sie noch das unverschämte Maul weit auf. Kümmert Euch nicht um den Patron, Kroll, ich rate Euch Gutes.«

Aber Robert schüttelte den Kopf. Sein alter Trotz, so stark genährt, seit er unter den Räubern lebte und dort das Dasein von der dunkelsten Seite kennen lernte, – brach wieder mit Macht hervor. »Herr Obersteuermann,« antwortete er, »das ist gleichviel, wer von der Mannschaft erkrankt. Keiner darf ohne Pflege bleiben. Wollen Sie den Kapitän bitten, sich des Mannes anzunehmen? Weiß er überhaupt, daß der Skorbut ausgebrochen ist?«

Mr. Pikes stampfte mit dem Fuß. »Woher wißt Ihr es?« rief er.

»Von Sheppard, der die Erscheinungen dieser Krankheit zu kennen behauptet. Ich selbst sah noch soeben den unglücklichen Menschen vor Durst fast verschmachten. Es wird doch an Bord eine Apotheke befindlich sein?«

Mr. Pikes antwortete darauf nicht. »Geht ins Logis, Kroll,« sagte er. »Das ist alles meine Sache, nicht aber die Eure.«

»Sie wollen also dem Kapitän keine Mitteilung machen, Herr Obersteuermann? Dann geschieht es von anderer Seite, verlassen Sie sich darauf.«

»Ah! – Drohungen?«

»Keineswegs. Ich will nur Sheppard und den übrigen das sagen, was ich soeben von Ihnen hörte, Mr. Pikes. Dann begibt sich eine Deputation der Matrosen zum Kapitän und vertritt bei diesem die Sache des kranken Kameraden. Ich hoffe, daß Sie hierin keinen Verstoß gegen die Schiffsgesetze entdecken können.«

Der Obersteuermann, ein Amerikaner von gleichem Holze wie der Kapitän, d. h. geldgierig, herzlos, grausam und mutig bis zur Tollkühnheit, – der Obersteuermann sah mit aufeinander gepreßten Zähnen in das hübsche, frische Gesicht des hochaufgeschossenen Burschen. Er hatte mit dem geübten Blick vieljähriger Erfahrung schon längst den Stand der Dinge erkannt und wußte, daß es nur eines einzigen Fünkchens bedurfte, um das Pulverfaß in die Luft zu sprengen. Er selbst mußte auf der Seite des Kapitäns stehen aber wem zuletzt der Sieg bleiben würde, daran schien denn freilich kein Zweifel denkbar.

»Sprecht nicht vom Skorbut!« sagte er leichthin. »Der Kranke wird natürlich in Behandlung genommen werden, aber wozu gleich Lärm schlagen? Ich will den Kapitän benachrichtigen.«

Robert griff wieder an seine Mütze, und der Obersteuermann sah ihm, als er in das Logis zurückging, heimlich knirschend nach. »Was bis jetzt auf allen Schiffen gelungen ist,« dachte er grimmig, »das mußte gerade hier fehlschlagen. Es war mir unmöglich, unter den Matrosen verschiedene Parteien zu bilden, ich konnte keinen einzigen auf meine, das heißt auf die Seite des Kapitäns bringen. Aber weshalb entzieht er auch den Kerlen ihre beste Lebensfreude, warum knausert er um ein paar Dollar für Grog? – Verdammt, daß ich ihm jetzt die Geschichte melden muß.«

Er zögerte noch so lange als möglich und ging erst, nachdem seine Wache abgelaufen, zum Kapitän in die Kajütte, wo er sagte, daß sich einer der Hessen krank gemeldet habe.

Thomas Wright blickte auf. »Was ist's, Mr. Pikes?«

Dieser zuckte die Achseln. »Kommen Sie selbst hinüber, Herr Kapitän. Faulheit scheint es nicht zu sein. Der Mann hat volles Bewußtsein, aber die Lippen sind blau, das Gesicht leichenblaß und die Augen zurückgesunken. Er klagt über Gliederreißen.«

Der Kapitän zog die Mundwinkel herab. Er fuhr über die Stirn, wie um eine plötzlich entstandene Hitze zu verscheuchen. »Es ist gut«, sagte er rasch. »Ich komme.«

Und fünf Minuten später erschien er im Logis, wo ihn ein unheimliches Schweigen empfing. Der Obersteuermann begleitete seinen Vorgesetzten und führte ihn an die Koje des Kranken. »Hier, Herr Kapitän. Der Mann ist offenbar leidend.«

Thomas Wright beugte sich über den Unglücklichen und untersuchte sorgfältig dessen Zahnfleisch. Mit einem leisen » damn him!« richtete er seine stattliche Gestalt wieder empor. »Es soll sogleich im Raum zwischen den Fässern ein Lager hergestellt werden,« befahl er, »und dorthin bringt ihr, mit dem nötigen Bettzeug versehen, den Kranken. Der Koch soll ihm Pflaumen so zubereiten, daß er sie trinken kann, außerdem muß ihm der Mund dreimal täglich mit Löffelkrautspiritus ausgewaschen werden. Macht fort, daß ihr hinunterkommt, und friert ihn, so legt eine Wärmflasche an seine Füße. Das ganze Logis wird sofort mit Karbolessig gescheuert.«

Er sprach die Worte in festem, befehlendem Ton, er war so vollständig der Herr und Gebieter, daß niemand daran dachte, sich dieser grausamen Anordnung zu widersetzen. Begleitet von einem: »Sehr wohl, Herr Kapitän,« – des Obersteuermannes verließ er das Logis.

Der Kranke kümmerte sich um nichts. Leise wimmernd lag er da.

Sheppard war der erste, welcher wieder Worte fand. »Habt ihr nun den Beweis?« raunte er. »Es ist Skorbut, und der arme Teufel soll da hinunter in die Eisluft, um so schnell als möglich zu – sterben.«

»Nun, nun,« begütigte ein anderer. »So arg braucht man's ja nicht gleich anzusehen. Es geschieht, um uns zu beschützen.«

Sheppard zuckte die Achseln. »In drei Tagen haben wir ein Leichenbegängnis, Maaten,« sagte er. »Bis dahin aber werden auch schon mehr Leute erkrankt sein, paßt nur auf, was ich prophezeie. Wer zwanzig Jahre lang zur See fuhr, der kennt die Geschichte.«

Morris spuckte ingrimmig den Kautabak auf den Fußboden. »Ist es nicht schmählich,« flüsterte er, »daß der Kapitän durchaus Walfische jagen will? Alle diese Eisinseln, an denen wir vorüber kommen, sind voll von Walrossen, die Seehunde gar nicht zu zählen, – aber nein, der Kapitän hat es nur auf Walfische abgesehen.«

»Ich weiß weshalb,« fuhr Sheppard fort. »Dies ist seine letzte Reise. Er will dann den ›Vogel Greif‹ verkaufen und in New York Häuserspekulant werden. Vorher aber soll noch ein guter Fang von Spermfischen das beste dabei tun, wie man zu sagen pflegt. Diese Gattung liefert ja den teuren Walrat für Kirchenlichter, also ist eine Ladung voll solchen Fettes ein kleines Vermögen für sich allein. Daß wir darunter leiden, den filzigen Kapitän reich zu machen, daß vielleicht ein Dutzend von uns um seinetwillen darauf gehen muß, – was fragt er danach?«

Während dieser Unterredung hatten mehrere Matrosen den Kranken aufgenommen, in Wolldecken gehüllt und hinuntergetragen in den Raum, wo er auf altem Segeltuch gebettet wurde. Die Luft war hier schrecklich. Über einer Ladung von Ballast lagen die leeren zur Aufnahme des Tranes bestimmten Fässer, welche einen so abscheulichen Geruch aushauchten, daß es fast unmöglich war, in ihrer Nähe zu atmen. Dazu kam die Kälte des unbeschützten, unter der Oberfläche des Wassers befindlichen Raumes, die feuchte Schwere der eingeschlossenen Luft und die beständige Dunkelheit, welche durch keinen Strahl des Tageslichtes unterbrochen wurde. Hier von einer Krankheit zu genesen schien ganz unmöglich.

Nachdem der Umzug des bedauernswürdigen Menschen beendet war, wurden die Hessen befehligt, das Volkslogis von oben bis unten zu reinigen. Die Matrosen von der Freiwache halfen unaufgefordert, und es schien fast, als ob in den Gemütern die Ruhe wieder einigermaßen hergestellt sei, da brachte ein Zwischenfall neuen erhöhten Grimm. Einer der Auswanderer wollte die Luke öffnen und zu seinem kranken Genossen in den Raum hinabklettern, um aus barmherziger Nächstenliebe nach ihm zu sehen, aber der Obersteuermann vertrat ihm rasch den Weg. »Niemand darf dahin!« befahl er. »Der Kapitän hat es verboten.«

Eine Einrede wurde nicht gewagt, dennoch machte die Sache den allerschlechtesten Eindruck, und Sheppard verfehlte nicht, das Feuer zu schüren. »Der da unten krepiert wie ein Hund,« sagte er, »und nach ihm kommen andere. Vielleicht wandern wir alle in den Raum hinab, um dann in ein paar Tagen den Haifischen vorgesetzt zu werden. Ihr wollt's ja nicht besser haben.«

»Es ist zu gewagt!« meinten einige. »Wir schreiben heute den letzten Februar,« sagten andere, »in wenigen Tagen muß ja unser Ziel erreicht sein, in jedem Augenblick kann sich die erste Walfischherde zeigen, – warum also ein Wagnis gewissermaßen in der zwölften Stunde noch?«

Dabei blieb es, und die Leute taten nach wie vor ihre Arbeit, aber unter einem Schweigen, einem drückenden Ernst, den der Kapitän offenbar sehr wohl bemerkte. Es hatte gewiß seine bestimmten Gründe, als er befahl, die Harpunen hervorzuholen, instand zu setzen und mit Leinen zu versehen. Ebenso ließ er größere Stücke Fleisch kochen und mit Schiffsbrot und Wasser in Körbe packen, damit alles bereit sei, die Boote zu besteigen, wenn sich ein Walfisch zeigen sollte.

Es kam indessen keiner. Walrosse und Pinguinen auf allen Eisschollen, träge Seehunde, die sich im kümmerlichen Sonnenschein ausruhten, Eisbären, die ihre furchtbaren Pranken gegen das Schiff erhoben, weiße Füchse und Robben, alles war zahlreich vertreten, aber weit und breit von Walfischen nichts zu sehen. –

Der Kranke im Raum mußte noch leben, da keine Bestattung angeordnet war, aber keiner seiner Gefährten hörte etwas von ihm. In aller Stille waren auch drei weitere Hessen hinuntergeschafft, worden, und zwei andere klagten heimlich über Gliederschmerzen, aber sie flehten die übrigen an, davon dem Obersteuermann nichts zu sagen, das schreckliche Gefängnis unter Deck war ja schlimmer als selbst der Tod.

Am Abend des vierten Tages ließ der Kapitän sämtliche Harpunen in seine Kajütte bringen. Er selbst, der Obersteuermann und die beiden Untersteuerleute standen vielleicht nicht ganz zufällig hart nebeneinander, als der Befehl gegeben wurde, zwei Stücke Segeltuch, sowie zwei Trossen Bindgarn bereit zu halten und an zwei Brettern kleine Säcke mit Steinkohlen zu befestigen.

Totenstille folgte den Worten. Sheppard streckte verstohlen zwei Finger aus. Zwei Leichen! sagten langsam wandernd seine Blicke.

Und jeder hatte die schauerliche Deutung verstanden. Der Befehl mußte lauter und nachdrücklicher wiederholt werden, bevor er Gehör fand.

Es war ganz klare, heitere Luft, natürlich unter schneidender Kälte, da man sich dem 75. Grad nördlicher Breite nahe befand. Eisschollen, unabsehbar wie weite Länderstrecken, dehnten sich rechts und links, Eisberge segelten in majestätischer Pracht, nickend und winkend von fernher vorüber, eine blutrote Sonne, Kälte verheißend und machtlos, sank gegen den Horizont herab, fast gänzliche Windstille lag über der eingefrorenen Welt.

Der Obersteuermann befahl vier Matrosen, in den Raum hinabzusteigen und die Leichen, in ihre Decken gehüllt, heraufzutragen. Als zu diesem Zweck die Luken geöffnet wurden, ertönten aus dem Innern des Schiffes schwache, wimmernde Laute, die einen Stein hätten rühren müssen. Die unglücklichen Kranken baten um Gottes willen, sie in freier Luft, unter Menschen und wie Menschen sterben zu lassen, aber nicht in dem gräßlichen, lichtlosen, von Pesthauch erfüllten Raum.

»Erbarmen! Erbarmen!« jammerte es. »Um Jesu willen Erbarmen!«

Wie ein Mann drangen die Matrosen bis zur großen Luke vor. Ohne eine Frage, eine Erklärung wollten sie die sterbenden Opfer an Deck bringen, – da ertönte des Kapitäns Stimme. »Die Kranken bleiben im Raum! – Holt die Leichen!«

Ein Schrei der Entrüstung antwortete ihm. »Das ist Barbarei!« rief Sheppard. »Auf, Maaten, das läßt sich kein redlicher Mann gefallen.«

Der Kapitän hatte sich blitzschnell zur Kajütte gewandt und stand dann vor dem ganzen erbitterten Haufen seiner Leute, ehe noch einer Zeit behielt, sich zu entschließen. In der Rechten hielt er die blitzende Harpune.

»Der erste, welcher ohne meinen Befehl in den Raum hinabsteigt, hat das Eisen im Leibe!« sagte er so kaltblütig, als habe er die gleichgültigste Maßregel angeordnet. »Vier Mann vor! Ihr da und ihr!«

Er bezeichnete die Männer, welche nach seinem Willen die Toten heraufschaffen sollten, mit ausgestreckter Hand. »Macht fort!« setzte er hinzu.

»Erbarmen, ach Erbarmen!« wimmerte es unten. »Gott im Himmel, vergib uns unsere Sünden, erlöse uns vom Übel.« –

Robert drängte sich vor. Sein ganzes Gesicht war leichenblaß.

»Herr Kapitän,« rief er außer sich, »Sie versuchen Gott!«

Sheppard jauchzte. »Hast du endlich genug, Kamerad? – Auf, laßt uns die Kranken herholen, selbst wenn dafür einer von uns harpuniert werden sollte, wie eine wilde Bestie. Es ist gewiß, daß alsdann der Mörder von den übrigen in Stücke zerrissen wird.«

Wilde Blicke und wilde Ausrufungen antworteten von allen Seiten. »Herr Kapitän,« rief Robert, »ich bin der, dem Sie gedroht haben, der erste, welcher hinabsteigt. Ich setze das Leben ein für meine Überzeugung des Rechten.«

Er betrat die Leiter und kletterte in den Raum, während Thomas Wright, rasend vor Zorn, die schreckliche Waffe durch die Luft schleuderte.

Das alles geschah im Laufe weniger Minuten.

Sheppard, der ununterbrochen den Blick des Kapitäns verfolgt, hob im gleichen Augenblick, als dieser schleuderte, eine lange Stange, welche er schon vorher ergriffen. Die Harpune, kräftig getroffen, flog wie vom Bogen geschnellt durch das Takelwerk und weit hinaus in das stille, eisglitzernde Wasser. Eben so hurtig hatten drei oder vier Matrosen vor der Tür der Kajütte Posto gefaßt.

Der Kapitän und seine drei Getreuen behielten nur die Wahl, entweder ihre Sache verloren zu geben oder sich mit der Überzahl der vorhandenen Gegner in einen Faustkampf einzulassen. Es war Mr. Pikes, der Obersteuermann, welcher den schäumenden Kapitän an beiden Schultern ergriff und ihn verhinderte, sich auf Sheppard zu stürzen.

»Ruhig, um Gottes willen, ruhig!« mahnte er. »Noch ist kein Verbrechen geschehen, noch läßt sich alles gütlich ausgleichen. Herr Kapitän, versprechen Sie den Leuten Gehör, damit vorerst die Leichenbestattung vollzogen werden kann. Wollten wir denn unsere verstorbenen Gefährten ohne alle Feierlichkeit, im Tumult über Bord werfen?«

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Sheppard lachte. »Die Harpunen heraus, oder wir weichen keinen Schritt.«

»Holt sie!« gebot Mr. Pikes, der für den halb besinnungslosen Kapitän zu handeln schien. »Dann aber gebt Ruhe.«

Sheppard und Morris betraten die Kajütte, um die schweren, mit Widerhaken versehenen Wurfgeschosse, die in der Hand eines geschickten Schleuderers so verhängnisvoll werden können, in das Volkslogis hinüberzubringen. Ersterer nahm auch die beiden in einem Blechkasten befindlichen Revolver des Kapitäns an sich.

Als die beiden Männer das Deck betraten, sahen sie, wie Robert mit mehreren andern die Kranken heraufschaffte. Beide lagen im Sterben, aber dankten dennoch durch rührende Blicke und halblaute Worte ihren Erlösern.

Eifrige Hände hatten inzwischen die Toten eingehüllt und auf ihrem letzten mit einer Last von Kohlen beschwerten Lager befestigt.

»Herr Obersteuermann,« sagte ruhig Sheppard, »wollen Sie das Schiff beilegen lassen?«

Mr. Pikes antwortete ihm keine Silbe. Er beredete den Kapitän, sich mit möglichster Fassung in das Unabänderliche zu fügen und scheinbar nachzugeben. »Über kurz oder lang bietet sich die Gelegenheit zu einem Handstreich!« setzte er flüsternd hinzu, »wir lassen dann die Rädelsführer in Eisen legen und haben gewonnenes Spiel. Gehen Sie jetzt in die Kajütte.«

Thomas Wright mochte das Richtige dieses Rates erkennen, oder er war vielleicht vor ersticktem Zorne unfähig sich zu fassen, genug, er gehorchte wie ein Kind, und nachdem er sich entfernt, gab der Obersteuermann die erforderlichen Befehle, das Schiff beizulegen. Als der »Vogel Greif« mit weitausgespannten Flügeln wie eine Möwe auf dem Wasser lag, regungslos und von den Sonnenstrahlen rosig überhaucht, da traten alle diese wetterharten Männer, diese rauhen, zügellosen und zum großen Teil sittlich verlorenen Burschen still und ernst an den Schiffsrand. Trotz der Kälte waren ihre Stirnen unbedeckt, trotz des bedeutungsschweren, entscheidenden Augenblickes waren ihre Seelen von feierlicher Stimmung erfaßt.

Heute wurden zwei Opfer aus ihrer Mitte dem unergründlichen Schoße des Ozeans überliefert, – nach wenigen Stunden sollten zwei weitere den vorangegangenen folgen und vielleicht stand in kürzester Frist auch ihnen selbst das gleiche Schicksal bevor. Mangel und Kälte und Mutlosigkeit, diese drei furchtbaren Geißeln der Armen und Elenden, hatten sich an Bord des Unglücksschiffes zu einem einzigen Dämon vereinigt, zu einer Pest, die, in seltener Stärke auftretend, vielleicht den »Vogel Greif« seiner sämtlichen Bewohner berauben und ihn führerlos und verloren als Wrack an Grönlands unwirtbare Küste schleudern würde. Niemand konnte voraussehen, wie bald ihn die Seuche ereilen und dem Tode in die gierig geöffneten Arme werfen würde. –

Es ist aber eine sehr ernste Sache, es greift in das tiefste Herz hinein und weckt die Erinnerungen aus fernster Vergangenheit, – so in ein Grab zu blicken, gleichviel ob dasselbe in schwarzer Erde gegraben, oder ob es blaue, glitzernde Wogen sind, die den Toten umfangen und betten sollen. Ja, es rührt und bewegt vielleicht noch stärker, dies Versenken in die kalte Flut, welche den Leichnam schaukeln und wiegen wird, anstatt ihm ein stilles Plätzchen zu gewähren; welche ihn vielleicht meilenweit entführt, ohne ein einziges Erinnerungszeichen, ohne ein Merkmal der Stätte, wo die letzten irdischen Überreste dem Posaunenschall des jüngsten Tages entgegenharren.

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Es ist etwas unendlich Wehmütiges, Ergreifendes, ein Seemannsbegräbnis.

Ernst und still waren die beiden Leichen aufgehoben und halb über den Schiffsrand hinausgelegt. Langsam, feierlich schwebte das Sternenbanner der Vereinigten Staaten am Großmast bis zu halber Höhe dreimal empor und dreimal wieder herab, – letzte Grüße, letztes Lebewohl für die, welche aus dem Kreise der Kameraden geschieden.

Und dann trat Robert vor. Das hübsche Gesicht des noch nicht ganz achtzehnjährigen jungen Menschen war blaß vor innerer Bewegung. »Maaten,« sagte er, »unser Kapitän ist nicht erschienen, um für die Toten, wie üblich, ein Gebet zu sprechen. So laßt es mich an seiner Stelle tun, da doch die beiden Verstorbenen meine Landsleute waren, arme deutsche Auswanderer, denen eine Gesellschaft von Seelenverkäufern auch noch das Letzte raubte, was sie ihr eigen nannten, Gesundheit und Leben. Laßt mich Gott bitten, daß bald dem schändlichen Treiben dieser Schurken ein Ende gemacht werde, um der vielen Betörten willen, die in ihre Hände fallen, und daß er diesen Unglücklichen, ihren Opfern, eine selige Auferstehung schenken möge. Amen!«

Alle hielten die Mützen in der Hand, auf allen Gesichtern lag trüber, schwerer Ernst. Die doppelt bedeutsame Stunde übte ihr volles Gewicht.

»Los!« befahl halblaut der Obersteuermann.

So weit als möglich streckten sich die Arme, ein letzter Blick, ein Gedanke wie ein Segenswunsch, und das Meer spritzte seine Tropfen über die starke, gewölbte Brust des »Vogel Greif«, leichte Wellen umspielten den schlanken Kiel – –

Unaufhaltsam zur Tiefe zog das mitgesandte schwere Gewicht die Toten.

»Braßt voll, hinten!« ertönte die feste Stimme des Obersteuermanns.

Jeder der Matrosen tat seine Schuldigkeit, die Raaen flogen herum und das Schiff setzte langsam den vorigen Kurs fort, – dann aber scharten sich alle vor der Tür der Kajütte. Sheppard ergriff das Wort.

»Wir bitten den Kapitän, uns jetzt anhören zu wollen,« sagte er.

Mr. Pikes nahm seine ruhigste Miene an. »Bleibt vernünftig, Leute,« antwortete er in überredendem Tone. »Ein schnelles Wort ist bald ausgesprochen, wie ihr alle wißt, aber es wird häufig mit Muße bereut. Der Kapitän wollte aus Fürsorge euretwegen die jedenfalls rettungslos verlorenen Kranken im Raume lassen, um die Gefahr der Ansteckung nach Kräften zu bekämpfen. Ihr habt die Sterbenden eigenmächtig in das Logis heraufgetragen und müßt nun die Folgen auf euch nehmen. Was wollt ihr noch mehr?«

Sheppard lächelte spöttisch. »Eine Kleinigkeit, Herr Obersteuermann,« versetzte er. »Wir verlangen, daß das Ruder gedreht werde. Wir wollen in solchen Breiten, wo Menschen zu leben gewohnt sind, unsere Arbeit verrichten, wir hätten auch bei gehöriger Kost und namentlich den gewohnten Branntweinrationen die Fahrt bis nach Nowaja Semlja unweigerlich fortgesetzt, aber elendig umkommen, damit der Kapitän an unserm Fleisch und Blut eine Handvoll Dollar spart, das wollen wir nicht. Noch sind uns keine Walfische begegnet, und wer weiß, ob das späterhin geschieht – vielleicht, wenn der Skorbut die ganze Jagd unmöglich gemacht hat. Also müssen wir umkehren.«

Mr. Pikes blieb ganz gelassen. »Umkehren, nachdem noch kein Cent verdient worden ist, Leute? Umkehren in dem Augenblick, wo vielleicht goldene Berge euer warten? Jede Stunde kann den Gewinn bringen, jeder Augenblick kann Walfische in Scharen an unser Schiff führen.«

Sheppard schüttelte den Kopf. »Oder auch den Tod für uns alle,« sagte er düster. »Wir sind entschlossen, umzukehren; wir wollen den Kapitän zwingen, seinen Kurs zu ändern. Gebt Raum Sir, oder es geht nicht gut!«

Mr. Pikes ließ seine Blicke von einem zum andern schweifen. »Das ist Meuterei!« sagte er mit ernstem, mahnendem Tone. »Habt ihr die Folgen reiflich erwogen, Leute?«

»Ganz reiflich. Der Kapitän und alle Offiziere müssen vor dem Hafen von New York einen Eid schwören, von dem Vorgefallenen mit niemand zu sprechen, oder – keiner sieht das Land wieder. Wir sind uns unserer Rechte und unseres Entschlusses vollkommen bewußt.«

Der Obersteuermann trat zur Seite. »So versucht euer Heil, Leute. Kommt als Bettler, vielleicht krank und elend nach New York zurück, werft wie die Tollhäusler den eigenen Vorteil von euch, und ruiniert einen braven Mann, da die Gelegenheit günstig ist. Ich wasche meine Hände.«

Er drehte sich heimlich knirschend ab. Sheppard streckte die Hand aus, um den Türdrücker der Kajütte zu ergreifen – – –

Da ertönte vom Vorderschiff her ein lauter, fast jubelnder Ruf. Der Mann am Ausguck verließ seinen Posten und kam zu den übrigen gestürzt.

»Die Fische! – Die Fische!«

Wie ein elektrischer Schlag durchzuckte das Wort die erregten Herzen. Als hätten alle miteinander nur eine Seele, nur einen Gedanken, so folgten die Blicke der Richtung, welche jener Matrose mit ausgestrecktem Arm beschrieb. Vergessen schien der wilde, trotzige Entschluß offenbarer Meuterei, vergessen die Todesangst vor dem Feinde, welcher an Bord seine schwarzen Krallen gegen alles was lebte erhob, vergessen der Groll und das Rachegelüst, – untergegangen in der plötzlichen Hoffnung auf Gewinn.

»Die Fische!« jauchzten zwanzig Stimmen, »die Fische!«

Mr. Pikes atmete auf wie ein Halbertrunkener, den eine unerwartete Hilfe dem nassen Grabe entriß. Er erfaßte im Augenblick seinen Vorteil, er zögerte keinen Augenblick, ihn zu ergreifen.

Ohne den Kapitän zu fragen, befahl er, die Boote herabzulassen und die Körbe mit Lebensmitteln hineinzusetzen. Dann wandte er sich zu Sheppard. »Holt die Harpunen, Maat, – Ihr habt sie in Verwahrung, so viel ich weiß.«

Der Amerikaner übersah düsteren Blickes das Drängen und Treiben der anderen. Niemand beachtete ihn, niemand kümmerte sich um das Verhängnis, welches im entscheidenden Augenblick den Sieg in die Hände des Gegners hinüberspielte. Gewinn – Geld – das war es, was den Leuten vorschwebte, was sie, einer den andern zurückdrängend, an die Boote trieb.

Sheppard kreuzte die Arme. »Holt die Harpunen, Mr. Pikes,« sagte er, »und gebt der wilden Bestie dort, dem Kapitän, die schwerste in die Hand, damit er sein Mordgelüst befriedigen kann. Die Menge ist es nie und nirgends wert, daß sich ein ehrlicher Kerl um ihretwillen aufopfert – ich hab's bitter genug in diesem Augenblick erfahren müssen.«

Der Obersteuermann ließ die Harpunen verteilen und gab selbst eine solche in Sheppards Hand. »Geht mit, Mann,« ermunterte er, »kühlt Euer heißes Blut auf der Jagd. Und dort, seht hin, eine Möweninsel! Taufende von Eiern, ungezählte frische Braten, – macht, daß Ihr fortkommt. Das Vorgefallene ist vergessen, ich schwöre es Euch in des Kapitäns Namen.«

Sheppard lächelte spöttisch. »Wir sind Todfeinde, Sir,« sagte er, »und jeder würde dem andern das Genick brechen, wenn es ihm möglich wäre. Sucht keinen Schleier darüber zu werfen! – Wessen Stunde zuerst schlagt, der packt das Glück beim Schopf.«

Er hob spielend die schwere Harpune zwischen zwei Fingern empor und als der Obersteuermann unwillkürlich zurücktrat, lachte er laut. »Ich bin kein Meuchelmörder, Mr. Pikes, aber ebenso wenig fürchte ich auch einen ehrlichen Kampf, bei dem es Blut absetzt. Das merkt Euch. Die da frei herumlaufen und wie vornehme Herren behandelt werden, das sind oft größere Schurken, als die armen Teufel hinter den Eisengittern des Sing-Sing.«

Er sprang in das letzte Boot, daß die Wellen spritzten, und Mr. Pikes murmelte hinterdrein einige Worte, welche halb wie eine Verwünschung, halb wie ein Ausruf des Spottes erklangen. Dann überblickte er das ruhige Meer.

Die Fische waren in großer Anzahl dem Schiffe immer näher gekommen. Wie Rauchsäulen stiegen geräuschvoll die weißen Wasserstrahlen aus den Nüstern der gewaltigen Tiere empor. Wenigstens dreißig Fische schwammen dem »Vogel Greif« entgegen.

»Das kam zur rechten Zeit!« dachte erleichterten Herzens der Obersteuermann. »Jetzt einige glückliche Züge, etwas Jagdgewinn und wir haben die Meute in unsern Händen. Die beiden Anführer Sheppard und Kroll werden bei nächster Gelegenheit in Eisen gelegt, und wenn einmal diese Hitzköpfe beseitigt sind, so zittert die übrige Kanaille vor einer ungeladenen Pistole.«

Er drehte sich um und klopfte an des Kapitäns Tür, aber niemand antwortete ihm. Konnte Thomas Wright in solchem Augenblick schlafen? Unmöglich!

Er klopfte noch einmal. Wieder keine Antwort. – Einer unbewußten Furcht nachgebend öffnete er die Tür und sah den Kapitän ohne Besinnung auf dem Fußboden liegen. Der furchtbare Blutandrang hatte dem jähzornigen Manne eine tiefe Ohnmacht zugezogen.

Mr. Pikes behielt seine ganze Geistesgegenwart. Er schlug dem Kapitän eine Ader und legte ihm Eis auf die Stirn, ohne irgend jemand zur Hilfe zu rufen. Dann, als das Bewußtsein des Kranken zurückkehrte, teilte er ihm die Nachricht von dem Erscheinen der Walfische mit und hatte die Genugtuung, seinen Vorgesetzten ebenso überrascht, so beglückt zu sehen, wie es vordem die Mannschaft gewesen war. »Sind alle fort?« fragte, sich gewaltsam sammelnd, der Kapitän. » Haben die Frevler endlich Ruhe gegeben? Sind sie in Ketten gelegt worden?«

Mr. Pikes erzählte in kurzer, klarer Schilderung das Vorgefallene und kam dann mit seinem Vorgesetzten dahin überein, es gänzlich totzuschweigen. Kapitän und Mannschaft des Schiffes, hoch oben auf dem 75. Grad nördlicher Breite, verlassen von aller Welt, gewissermaßen der menschlichen Gesellschaft entrückt und in unbekannte, unwirtliche Gegenden voller Gefahren versetzt – Kapitän und Mannschaft eines solchen Schiffes waren zu sehr aufeinander angewiesen, sich selbst zu sehr gegenseitige Lebensbedingung, um nicht den Frieden um jeden Preis erkaufen zu müssen. Später wenn man in bewohnte Gegenden zurückkam, wenn man anderen Schiffen begegnete oder vielleicht irgend einen Handstreich vollführen konnte, dann – –

Bild

Die Blicke des Kapitäns und des Obersteuermannes trafen sich. Sie hatten einander vollkommen verstanden.

Und dann begaben sich die beiden auf das Verdeck. Weder von den Walfischen noch von den Booten war das Allergeringste zu sehen.

Der Mann am Ruder gab die Richtung, welche die Jäger genommen, als nördlich an, und das Schiff segelte sogleich diesen Kurs. Kapitän Wright ging in brennender Ungeduld fortwährend rastlos auf und ab; er konnte es sich kaum versagen, mit dem letzten noch übrig gebliebenen Boote die Jäger zu begleiten und persönlich an der Verfolgung teilzunehmen, aber die Sonne sank ins Meer herab, ohne daß auf der glitzernden eisigen Fläche desselben das mindeste zu entdecken gewesen wäre. Selbst der ruhige Mr. Pikes zeigte auf seiner Stirn mehrere Falten.

Wo nur die Leute blieben! – Es waren auf dem Schiff außer den beiden obersten Offizieren nur noch vier Mann, – mit diesen allein den Hafen von New York jemals wieder zu erreichen, war eine Unmöglichkeit.

»Lassen Sie alle fünf Minuten einen Kanonenschuß lösen,« gebot der Kapitän, »und dazwischen eine Rakete steigen.«

Mr. Pikes wiederholte den Befehl, aber durch das Ergebnis desselben sollte die Unruhe womöglich nur noch vermehrt werden. Der Schuß widerhallte in hundertfachem Echo; die Rakete, blaue und goldene Lichter über das Meer ausgießend, zeigte den erstarrten Blicken der Männer fast im gleichen Augenblick die Lösung dieses Rätsels: Eisberge umgaben von allen Seiten das schwer bedrohte Schiff.

Es war, nachdem der Widerhall verklungen, totenstill auf dem Verdeck. Nur aus den Kojen der Kranken und Sterbenden drang leises Wimmern herüber – – –

»Wir müssen das Schiff backlegen,« entschied nach einer Pause der Kapitän. »Mir scheint, daß sich der Wind etwas erhoben hat und außerdem wissen wir nicht, welchen Kurs die Boote steuern. Es ist nicht unmöglich, daß unsere beiderseitige Fahrt gerade auseinandergeht.«

Mr. Pikes griff an die Mütze. »In diesem Fall würden wir beide genötigt sein, persönlich Hand ans Werk zu legen, Herr Kapitän,« sagte er.

»Das tut nichts, Sir. Man hat es ja schon oft getan.«

Und Thomas Wright erkletterte trotz des verwundeten Armes die Masten, um mit dem Obersteuermann und den übrigen vier Leuten das erforderliche Segelmanöver auszuführen. Fortwährend krachten die Schüsse und erglänzten die Raketen und Leuchtkugeln, aber niemand beantwortete die Zeichen, niemand gab Kunde von den Verschollenen.

Ein Eisberg, hoch wie ein Haus, schwamm so hart an dem Schiff vorüber, daß es knirschte und rauschte, daß Splitter davonflogen, – Möwen glitten mit schwerem Schlag durch die Luft, der Sturmvogel umkreiste das Takelwerk und stieß eigentümliche, kurze, wie ein Signal klingende Töne aus, – niemand kam.

Da endlich, gegen Mitternacht, durchdrang ein Laut die tiefe Finsternis. Ein langgezogenes »Ahoi! Ahoi!« scholl deutlich zu den beiden horchenden Offizieren herüber, und beide sprangen hocherfreut von ihren Sitzen auf. Die Leuchtkugeln folgten einander in ununterbrochener Reihe, die Zurufe wurden erwidert und das Feuer in allen Öfen geschürt. Welch ein Fang war wohl jetzt gemacht worden, welcher Gewinn stand in Aussicht – wie neu ermutigt und zur Einigkeit mit ihren Vorgesetzten, zum Gehorsam zurückgekehrt waren wohl alle diese trotzigen und verzagten Menschen?

»Herr Kapitän,« sagte bescheiden der Obersteuermann, »sollte es nicht gut sein, wenn in diesem Augenblick Branntweinrationen verteilt würden?«

Thomas Wright schüttelte den Kopf. »Damit die Kerle glauben, daß sie mir Furcht eingeflößt haben, Mr. Pikes? – Arbeiten sollen sie, und die Pistolen kommen nicht mehr aus meinem Gürtel. Überdies ist nichts zu fürchten, wo klingende Belohnung in Aussicht steht.«

Er ging bis zum Fallreep den Ankommenden entgegen und beugte sich vor, um zu sehen, wie groß die Ausbeute gewesen. »Hallo, Maaten,« rief er, ganz gegen seine Gewohnheit gesprächig, »was bringt ihr denn?«

Ein leises Lachen antwortete. Das war Sheppards Stimme, aber er sprach kein Wort.

»Nun.« ermahnte Robert, »so sprich doch, Mensch!«

»Tu du es. Ich würde den Schuft am liebsten mittels der Harpune anreden.«

»Nun, Jungens,« fragte noch einmal der Kapitän, »was habt ihr gefangen?«

»Nichts, Sir!« antwortete durch die tiefe Stille unser Freund. »Wir haben die Walfische, nachdem unsere Boote ziemlich weit vom Schiff entfernt waren, aus den Augen verloren und trotz aller Bemühungen nicht wieder auffinden können.«

»So hat also keine Jagd stattgefunden?«

»Keine, Herr Kapitän.«

Thomas Wright erschrak, aber ohne sich den Leuten gegenüber das Gefühl merken zu lassen. »Schadet ja nicht!« rief er mit ermunterndem Tone. »Wenn erst einmal der Fisch in der Nähe ist, so trifft man ihn bald genug wieder. Morgen wird die Jagd neu beginnen und dann glücklicher sein!«

Er ging in die Kajütte, um sich von dem empfundenen Ärger einigermaßen zu erholen, indes die Matrosen halberfroren, müde bis zum Umsinken das Logis aufsuchten. Sheppards erster Blick galt den Kojen der Kranken.

»Beide eiskalt!« flüsterte er in Roberts Ohr. »Gestorben wie ihre Vorgänger, allein und ohne Pflege! – Hörst du den Sturmvogel?

Seine Stimme bringt Unglück; er ist ein Warner, der nur verfluchte, dem Untergang geweihte Fahrzeuge umkreist.«

Robert lächelte gezwungen. Er dachte zurück an die Erzählung seines alten Freundes und wie hoch oben in der Luft die Möwe lachte, als jener, von tollem Frevelmut getrieben, den fliegenden Holländer herbeirief. »So schicke dem Schreier ein Lot Blei durch die Brust, dann schweigt er gewiß!« antwortete er.

Sheppard hob erschreckend die Hand. »Um des Himmels willen nicht! Wer den Sturmvogel tötet, der zieht das Verhängnis auf sich herab. Gib nur acht, – wir sehen keinen Fisch wieder, wir gehen in dieser unwirtlichen Gegend elend zu Grunde, auch ohne solche Gewalttat.«

Robert antwortete nicht, und die beiden krochen so schnell als möglich unter ihre Wolldecken, um wenigstens die erstarrten Glieder einigermaßen aufzutauen. Am folgenden Morgen waren wieder zwei Matrosen unfähig aufzustehen, obgleich bei ihnen, den abgehärteten Seeleuten, die Krankheit nicht so heftig auftrat, wie bei den unglücklichen hessischen Auswanderern. Sie mußten sich krank melden, aber sie baten flehentlich die übrigen, zu verhindern, das sie in den Raum geschafft würden.

Sheppard nickte, – sonst gab keiner ein Zeichen, daß er das angstvolle Flehen verstanden. Robert, welcher gerade Ausguckwache hatte, war nicht zugegen.

Der Kapitän versuchte indessen keinerlei Zwangsmaßregeln. Er gab den noch vorrätigen Löffelkrautspiritus heraus, ließ Pflaumen abkochen und bewilligte den Kranken etwas Zucker, im übrigen kümmerte er sich um sie nicht. Auch das Begräbnis der beiden in letzter Nacht Gestorbenen wurde auf seine Anordnung so sehr als nur möglich beschleunigt, damit, wenn sich Fische zeigen sollten, dieselben unverzüglich verfolgt werden könnten.

»Heute haben wir einen hellen, trockenen Tag, Jungens,« sagte er, »da kann es uns gar nicht fehlen. Paßt nur auf, sobald sich das Blasen der Fische bemerkbar macht!«

Er ließ auch zur Vorsicht die großen Trankessel und mehrere Fässer an Deck bringen. Gegen Robert und Sheppard veränderte er keine Miene.

Es mochte vielleicht um neun Uhr morgens sein, als der Ausgucker dasselbe Zeichen gab wie gestern. »Die Fische! Die Fische!«

Zwischen den Eisriesen, welche im stillen Wasser überall majestätisch dahinsegelten und langsam der schwachen Windrichtung folgten, zeigten sich die blasenden Walfische. Es war ein eben so schönes als anregendes Schauspiel, der goldene Sonnenschein, welcher die Eisriesen umspielte und mit tausend diamantenen Tropfen überglänzte, – die emporgeschleuderten Wasserstrahlen aus den Nüstern der Ungeheuer, und das stille, beinahe unbewegte Meer mit seinen zahllosen treibenden, größeren und kleineren Eisschollen. Man konnte begreifen, daß sich die Jagdlust aller dieser Männer bis zum Taumel steigerte.

In zehn Minuten stießen die Boote ab. Das des Kapitäns enthielt außer ihm selbst noch unseren jungen Freund und drei Matrosen. In atemloser Eile ging es den blasenden Fischen entgegen.

Thomas Wright stand aufrecht mit der Harpune in der Hand. Sein rotes Haar schien phosphorisch zu leuchten, sein Auge glühte, seine Wangen von seemännischem Braun waren rotdurchschimmert. Eine starke, wilde Leidenschaftlichkeit sprach aus jeder Bewegung.

Nahe und näher kamen die Boote den Fischen. Schon sah man die mit Moos und Schlingpflanzen überwachsenen, von Muscheln, Wassermäusen, Spinnen und Käfern bewohnten breiten Rücken der riesenhaften Tiere deutlich durch das kristallklare Wasser schimmern, schon erwarteten zwanzig Arme den Augenblick, um die tödliche Waffe in das Fleisch des Opfers zu versenken, da – hörte das Blasen auf, das Wasser beruhigte sich, die grünen, inselgleichen Erhöhungen über der Oberfläche verschwanden, und von den Fischen war nichts mehr zu sehen.

Ganz wie am Tage vorher entzogen sie sich den Blicken der Fänger, als eben die Jagd beginnen sollte. Thomas Wright wurde blaß bis in die Lippen.

»Ihnen nach!« rief er finster grollend. »Sie können nicht weit sein, und ich will unter keiner Bedingung ohne Beute zum Schiff zurück.«

Sein Eifer hatte die übrigen angesteckt. Alles ruderte um die Wette, alles überbot sich, zwischen den Eisschollen hindurchzusteuern und die Fährte der entflohenen Tiere zu verfolgen, aber – ohne jeglichen Nutzen. Weit und breit war kein Fisch zu sehen.

»Wir müssen uns geirrt haben!« rief der Kapitän. »Um jene Eisblöcke herum, zwei Boote in gleicher Linie! Dort werden sie sein.«

Ob er sich und die andern betrog, der Himmel mochte es wissen. Sein ganzes Gesicht war aschfahl, als auch hinter dem bezeichneten Eisberge kein Walfisch gefunden wurde, » Damn it,« rief er, »steckt denn der Böse in den Bestien?«

Sheppard und Morris wechselten einen höhnischen Blick. »Der Sturmvogel!« raunte ersterer. »Hast du ihn gestern gehört?«

Und als wolle das Verhängnis seine Worte bestätigen, so zeigte sich in diesem Augenblick der Warner hoch oben in der Luft, und blieb lange flügelschlagend gerade über den Köpfen der Leute gleichsam stehen. Sein Schrei, heftig und ruckartig, tönte weit hinaus.

Thomas Wright blickte wild empor. »Verfluchter Bild Vogel, was willst du?« rief er zähneknirschend, während seine Hand die kurze Kugelbüchse ergriff. »Da – nimm das?«

Der Schuß krachte, und das getroffene Tier stürzte unmittelbar neben dem Boote des Kapitäns in das Meer. Nur der rechte Flügel war hart neben dem Körper abgetrennt worden, daher lebte es, und setzte, heftig um sich schlagend, sein Geschrei in verstärktem Maße fort. Die Augen sahen dem Kapitän voll ins Gesicht, der Schnabel hatte sich gegen ihn geöffnet.

»Der Wahnsinnige,« flüsterte Sheppard, »er selbst hält über sich Gericht.«

Von allen Booten waren stumme, erschreckte Zuschauer nur mit diesem Vorgang beschäftigt. Alles sah auf den Kapitän, der blind vor Zorn vorwärts stürzte und offenbar den Vogel mit bloßer Faust erwürgen wollte, denn er griff so heftig und unvorsichtig über den Bootsrand hinaus, daß er das Gleichgewicht verlor und kopfüber ins Wasser fiel.

Die Eisschollen, neben dem Boote treibend, gerieten in verstärkte Bewegung, schlossen sich über- und nebeneinander, schaukelten in den blau oder grünschillernden Fluten – von Thomas Wright war keine Spur zu sehen.

Totenstille herrschte einen Augenblick lang in der ganzem Umgebung. Unsicher suchten einander angstvolle, schadenfrohe oder erschreckte Blicke. Sheppard hob das Ruder, welches er in der Hand hielt, wie um zu sagen – »Wer ihn auftauchen sieht, der schlage zu!«

Aber nur einen Augenblick währte der Druck auf allen diesen Seelen. Dann war Robert ohne Zeitverlust, ohne eine andere Erwägung, als daß vor ihm ein Mensch in der Gefahr schwebe zu ertrinken, dem Kapitän nachgesprungen und wie eine Ente in das Eiswasser hinabgetaucht.

Sheppard ließ das Ruder fallen. »Wie schade, wenn um dieses Schurken willen der brave Junge verunglücken sollte!« rief er.

Morris schüttelte den Kopf. »Die beiden sind verloren!« meinte er.

Es schien indessen, als sollte die schlimme Befürchtung vor der Hand noch nicht eintreffen. Roberts Kopf kam in einiger Entfernung vom Boote über der Oberfläche zum Vorschein und bald danach auch der des Kapitäns, obwohl letzterer besinnungslos schien. »Hilfe! Hilfe!« rief mit lauter Stimme unser junger Freund. »Kommt, so rasch ihr könnt, hierher.«

Ohne Zögern wurden alle Ruder eingesetzt und schon nach weniger als einer Minute nahm das vorderste Boot die beiden Verunglückten an Bord. Robert war völlig unversehrt, aber der Kapitän blutete aus mehreren Kopfwunden, namentlich jedoch aus der Wunde am Arm, deren Verband sich gelöst hatte und die nun ganze Ströme des roten Lebenssaftes über die Bootsplanken dahinsandte. Thomas Wright öffnete wohl zuweilen die Augen, ohne indes anderes als verworrene Worte zu sprechen. Er litt offenbar an epileptischen oder ähnlichen Zufällen, deren Einwirkung sich vielleicht gerade in Augenblicken größerer Erregung zu äußern pflegte.

Robert preßte, nachdem er den Rockärmel aufgeschnitten, Daumen und Zeigefinger über die verletzte Ader. Dann band er mit Hilfe einiger anderer um den ganzen Arm ein festgedrehtes Tuch. Ohne daß weiter gesprochen worden wäre, kehrte die kleine Flottille zum Schiff zurück.

Im Wasser schrie fortwährend der angeschossene Sturmvogel. Als das letzte Boot an Bord geheißt worden, sahen alle in der Ferne die speienden Fische.


Am folgenden Morgen und an noch vielen anderen wiederholten sich die Ereignisse der letzen beiden Tage. Mann nach Mann erkrankten die Matrosen, Leiche nach Leiche wurde in das Meer versenkt und immer trüber gestaltete sich die Stimmung der Leute.

Der »Vogel Greif« kreuzte auf und ab, verfolgte zuweilen nach dieser, zuweilen nach jener Richtung meilenweit die Spur der Fische und kämpfte beharrlich gegen Wind und Wetter, immer noch nach der Absicht des starrsinnigen Kapitäns bestimmt, unter jeder Bedingung mit einer reichen Ausbeute heimzukehren.

Es war, als hätten sich geheimnisvolle Mächte verschworen, an jedem neuen Tage Scharen von Fischen in die Nähe des Schiffes zu führen, immer wieder die Hoffnungen der Leute zu erregen und dennoch dieselben eben so häufig auf das grausamste zu täuschen. Manche von den Matrosen weigerten sich bereits, diese schreckliche Jagd mitzumachen, sie blieben zur Bedienung des Schiffes zurück und sahen dann den übrigen nach, wie sie in rasendem Eifer die Boote vorwärts trieben, um den blasenden Tieren näher zu kommen, und wie dann im Augenblick, wo die Harpunen geschwungen werden sollten, – die Fische verschwanden.

»Geht das mit rechten Dingen zu?« fragte einer den anderen.

Ein Kopfschütteln war die Antwort. »Ich glaub's nimmer, und ich weiß auch wohl, woran die Sache liegt. Der Kapitän ist es, welcher dem Schiffe Unglück bringt.«

»Pst!« warnte der erste. »Du redest dich um deinen Hals, Maat.«

»Ach, was ich viel auf den herzlosen Patron gebe! – Sag doch, bist du kürzlich unten im Raum gewesen?«

Der andere schüttelte sich. »Du, seit wir die armen Kerle da unten ächzen und um eine ruhige Sterbestunde bitten hörten,« antwortete er, – »brr! ich gehe nicht hin.«

Sein Kamerad neigte sich noch dichter zu ihm. »Du,« raunte er, »die da unten ächzen noch. Glaub es, oder glaub es nicht, aber wenn dich der Steuermann hinunterschickt, so sprich vorher ein Gebet, denn ich sage dir, daß es im Raum nicht geheuer ist. War auch eine Schändlichkeit sondergleichen, die armen Kerle in der Pestluft ersticken zu lassen.«

Eine Pause verging, dann spuckte der erste den Kautabak über Bord und nickte geheimnisvoll. »Daran liegt's auch, daß wir keine Fische fangen,« flüsterte er. »Der Wüterich konnte ja nicht einmal dem unschuldigen Vogel das Leben schenken.«

»Sheppard sagt, er möchte gern in New York ein Häuserspekulant werden, so ein Wucherer und Kehlabschneider, der den Leuten das letzte wegnimmt und sich mit fremdem Blute mästet, wenn er wirklich jemals seine Heimat wiedersieht!«

»Ja, wenn! – Da hast du recht, Maat. Sieh, die Boote kommen schon zurück, es ist kein Zweifel, daß über Schiff und Besatzung ein Fluch ausgesprochen worden. Wäre der Mörder vom Bord, so sollte es schon anders vorwärts gehen.«

»Pst! laß das den Sheppard nicht hören. Er dürstet ohnehin schon längst nach dem Blute unseres Peinigers. Was kommen soll, das kommt doch!«

Die Unterhaltung wurde hier durch das Erscheinen der Boote gestört. Nur noch zwölf Matrosen, der Obersteuermann und der Kapitän befanden sich auf dem »Vogel Greif,« die übrigen waren der schrecklichen Pest erlegen, während noch zwei andere, der eine Untersteuermann und ein Matrose, krank umherschlichen.

Die Stimmung war eine äußerst gedrückte, obwohl Sheppards unausgesetzte Hetzereien jetzt selten mehr ein geneigtes Ohr fanden. Der Gedanke, nur mit elf anderen den Gewinn einer vollen Ladung zu erzielen, der Gedanke, vielleicht durch diese einzige Reise wohlhabend zu werden, berauschte jedes Gemüt. Die sehnlichst erhoffte Jagd konnte ja nicht immer täuschen! Speiende Fische zeigten sich überall, kamen bis auf fünfzig Schritt an das Schiff heran, folterten in der Nacht durch ihr Blasen die aufgeregten Männer und schwammen in langen Zügen an den Eisbergen vorüber – sie mußten doch einmal gefangen werden können!

Und dann malte sich jeder das Bild weiter aus. Vier- bis fünfhundert Dollar würden auf seinen Anteil fallen, er brachte vielleicht ein kleines Vermögen mit nach Hause! – Nein, nein, jetzt nicht schwankend werden, nicht unverrichteter Sache heimkehren! Morgen hatte man möglicherweise schon den ersten Fisch an der Harpune, – mit Tagesanbruch kam das langersehnte Glück! – –

Sheppard nickte, wenn ihm derartige Einwendungen entgegengehalten wurden. »Well, also glaubt ihr, daß das Glück dem verfluchten Schiff nahen kann?« fragte er. »Die hier von den Haifischen verzehrt worden sind, deren Gebeine im ewigen Eis begraben liegen, – die haben ihren Mörder bei Gott verklagt und um derer willen wird der ›Vogel Greif‹ wenn ihr nicht endlich zur Einsicht kommt, hier mit Mann und Maus zu Grunde gehen. Jetzt sind wir vier Monate lang unterwegs, – woher soll wohl der Mundvorrat genommen werden, um uns wieder nach New York zu bringen? Und wenn auch noch der Obersteuermann stirbt, wie wollen wir es machen, mit so geringer Mannschaft das Schiff zu bedienen?«

»Sieh doch nicht so schwarz!« hieß es dann. »Der erste Maat ist ja ganz gesund.«

»Heute noch!« versetzte der Amerikaner. »Aber wißt ihr, was morgen geschieht?«

»Morgen fangen wir vielleicht den ersten Wal!«

Sheppard lachte spöttisch. »Denkt an mich, – ihr fangt ihn nie!«

Die beiden Matrosen, deren Gespräch wir neulich belauscht, nickten finster. Für heute schwiegen sie noch, aber bei der nächsten Gelegenheit traten sie offen auf Sheppards Seite. »So kann die Sache nicht länger gehen,« sagte der eine. »Wenn nur die größere Hälfte der Mannschaft mit uns wäre, dann ließe sich noch etwas hoffen, aber unter den augenblicklichen Verhältnissen steuert die Geschichte in den Abgrund, das ist sicher.«

»Morris steht zu uns!« flüsterte Sheppard. »Wollen wir einen Handstreich wagen?«

Der eine Matrose hob den Arm, wie zum Schlage. »Du meinst so?« fragte er bedeutsam.

»Ja,« antwortete kurz und kalt der Amerikaner. »Wenn es darauf ankommt, ob vierzehn Menschen zu Grunde gehen sollen oder ob einer ins Gras beißt, so kann, deucht mich, die Entscheidung nicht zweifelhaft sein.«

Jetzt war das Eis gebrochen und die vier Verbündeten hielten heimlichen Rat, wie der verbrecherische Plan am leichtesten auszuführen sei. »Wenn wir nur den verwegenen Kroll zu uns herüberziehen könnten,« meinte der eine, »das wäre schön. Dieser Bursche fürchtet sich vor dem leibhaftigen Satan nicht!«

Sheppard schüttelte den Kopf. »Aber ebensowenig willigt er in das, was er nun einmal einen Mord nennen würde!« versetzte er. »Laßt ihn ganz aus dem Spiel, – er ist gerade der Rechte hinzugehen und den Kapitän zu warnen. Hat er ihn doch neulich mit Gefahr seines eigenen Lebens aus dem Wasser gezogen.«

»Laßt ihn ganz beiseite,« meinte auch Morris. »Wir vier können es gut allein, und wenn einmal der rothaarige Judas den Haifischen vorgeworfen ist, so kommt das Schiff aus dem Bann los. Wir fangen Fische. bis die Ladung voll ist, und sind wohlhabende Leute. Der Obersteuermann muß nach unserer Pfeife tanzen.«

Die vier Verbrecher reichten einander die Hände. »Heute noch?« fragte Sheppard.

»Je eher, desto besser, denke ich. Der Kapitän muß jetzt Wache halten, so gut wie irgend einer von uns, also überfallen wir ihn, während Mr. Pikes schläft.«

»Ganz gut. Das geschieht am besten zwischen zwölf und ein Uhr mitternachts, weil dann die ermüdeten Leute im festen Schlummer liegen und also der Kapitän keine rechtzeitige Hilfe herbeiholen kann. Eins nur beunruhigt mich.«

»Was denn?« fragte Morris.

»Daß wir nach dem Tode des Kapitäns nur einen Steuerkundigen an Bord haben. Der zweite Steuermann lebt zwar noch, aber er kann es nicht mehr lange machen. Wir wären also verloren, wenn Mr. Pikes das Geringste zustieße!«

Morris zuckte die Achseln. »Das muß gewagt werden,« sagte er.

»Und das soll es,« nickte Sheppard. »Also um Mitternacht.«

Sie gaben sich noch einmal das Versprechen gegenseitiger Treue, dann ging jeder einzelne seiner Arbeit nach. An diesem Tage wurde nicht versucht, auf die Walfische zu jagen, obwohl sich dieselben ebenso zahlreich wie sonst in der Nähe des Schiffes zeigten. Kapitän Wright stand an der Schanzkleidung und sah düsteren Blickes über das Meer hinweg. Wie war der Mann verändert!

Dunkle Ringe umgaben seine Augen, fahles Grau bedeckte das früher so braune, frische Gesicht, und wie gebrochen war die ganze markige Haltung. »Heute ist Montag,« dachte er, »und an diesem Tage soll man keine Entschlüsse fassen, nichts anfangen und nichts vollenden, aber morgen – morgen will ich noch einmal diese unheimliche, schreckliche Jagd beginnen, will auf den Ausgang derselben mein Schicksal bauen! Wird wieder keiner dieser gespenstischen Fische gefangen, so kehre ich um und begnüge mich mit Robben und Walrossen. Damn it! – es ist die schwerste Stunde meines Lebens, wo ich befehlen muß, das Ruder zu wenden und wo mir diese Satansbrut ins Gesicht lachen darf.«

Seine Zähne preßten sich knirschend aufeinander. »Ich kann mein Ziel noch nicht erreichen,« dachte er, »kann nach den schweren Verlusten dieser Unglücksfahrt das Seeleben noch nicht aufgeben. Der Böse hole die verwünschten Bestien, welche mich an der Nase herumführen.«

Er sah nach allen Seiten und seine bleichen Lippen zuckten vor Erregung. »Vier – sechs – zehn Fische!« murmelte er, »und dort noch einer, und dort, aber was nützt es mir, sie zu verfolgen? – O der Wahnsinn könnte mich erfassen, so oft ich daran denke!«

Seine Blicke schweiften wie im halben Irrsinn über das Wasser. »Der dort kommt immer näher,« dachte er, »immer näher! er fordert mich heraus – ob ich das Boot aussetzen lasse und ganz allein die Jagd beginne? Wahrhaftig, das Tier schwimmt bis unter den Bug des Schiffes! Es ist ein Riese seiner Art, wenigstens sechzig Fuß lang und mit welchem Umfang! – ob er eine Art von Anführer, ein Walfischkönig wäre – ob ich ihm eine Musketenkugel in den Kopf jage, nur um ihn zu töten, aus Haß, aus unversöhnlichem Haß?« – –

Er schlich auf den Zehenspitzen zur Kajütte, als könne das Geräusch seiner Tritte den Fisch verscheuchen und nahm von der Wand die doppelläufige Muskete. Aber als er zwei Minuten später zu der verlassenen Stelle zurückkehrte, scholl ein heiseres halblautes Gelächter über das Verdeck.

»Schon den Gedanken lesen diese Teufelssöhne aus dem Hirn heraus!« knirschte er. »Nur der Absicht bedarf es und sie verschwinden! – Ich möchte mich ins Meer stürzen und die Bestien auf dem untersten Grund suchen, und sie mit den bloßen Fäusten anfallen!« –

Er warf das Gewehr von sich. Seine Augen funkelten wie die eines Tigers, seine Nägel gruben sich in das eigene Fleisch, bis rotes Blut die Hände überrieselte.

»Ich wollte, daß mich der deutsche Bursche nimmer gerettet hätte,« dachte er in bitterem, maßlosem Groll. »Was nützt es zu leben, wenn der Einsatz verloren ist? – Diese Meuterer werden mir von morgen an offenen Hohn sprechen!«

Er verbarg das Gesicht auf Augenblicke hinter der vorgehaltenen Hand. Niemand sollte sehen, daß es in seinen Zügen arbeitete, wie die rasendste Verzweiflung. – –

Und weiter und weiter lief der Zeiger des Chronometers, mehr und mehr neigte sich der Abend, »Morgen noch!« dachte der aufgeregte Mann, »morgen noch, und dann – gebe ich das Spiel verloren.«

Er wanderte an Deck auf und ab, bis um acht Uhr abends seine Wache, zu der auch Robert gehörte, abgelöst wurde, und er sich in der Kajütte auf das Sofa strecken konnte. Wirre Bilder umgaukelten die erhitzten Sinne. Bald sah er seine vierzehn toten Matrosen, wie sie ihn aus hohlen Leichengesichtern anstarrten und kläglich um Erlösung aus dem dumpfigen Räume sichten, wie sie ihm zunickten und die Knochenhände erhoben: »Das kam alles von deinem unmenschlichen Geize, von der Härte, mit welcher du uns die notwendigsten Lebensbedingungen entzogst, nur weil wir dir wehrlos überliefert waren, weil uns die Möglichkeit fehlte, das Gesetz gegen dich anzurufen!« – –

Und wieder an anderer Stelle lachten die Töten. »Merkst du nichts? – Wir rächen uns da, wo es dich am empfindlichsten straft, an deinem Geldbeutel; wir machen mit den Fischen gemeinsame Sache und zwingen dich zu dem, was du aus Menschlichkeit, um sterbender und leidender Unglücklicher willen, nicht tun wolltest!« –

Im Traume wälzte sich der gefolterte Mann unruhig von einer Seite zur andern. Er erwachte endlich in Schweiß gebadet, zuckend an allen Gliedern. Nur langsam aus dem heftigen Anfall sich erholend, rief er die Gegenwart in sein Gedächtnis zurück. Ja, ja, er hörte es, das Blasen der Fische rings ums Schiff, er hörte es mit einem Ingrimm, den zu beschreiben keine Feder vermöchte.

»Diese Qual muß ein Ende haben,« dachte er, »oder es ist mein Tod.«

Als ihn Mr. Pikes weckte, hatte er keinen Augenblick ruhig geschlafen. Fieber glühte in allen seinen Adern, seine Hände zitterten. »Es ist gut, Sir,« sagte er, »ich komme gleich. Alles in Ordnung, nicht wahr?«

Der Obersteuermann griff an die Mütze. »Alles beim alten, Herr Kapitän,« antwortete er doppelsinnig.

Thomas Wright unterdrückte einen Seufzer. »Ich verstehe Sie sehr wohl, Mr. Pikes,« begann er wieder, »und ich weiß auch, daß Sie recht haben. Morgen mit Einbruch der Dunkelheit wird das Steuer gewendet, wenn nicht – – die Jagd begonnen hat.«

Der Obersteuermann trat seinem Vorgesetzten einen Schritt näher. »Herr Kapitän,« sagte er, »wenn es möglich wäre, einen Einfluß auf Ihre Entschlüsse auszuüben, so würde ich dringend raten: Lassen Sie uns schon heute, schon in dieser Stunde umkehren! – Auf den Gesichtern der Leute liegt nichts Gutes!«

Thomas Wright schüttelte den Kopf. »Heute, am Montag. Sir? Ich kann es nicht, und ich muß auch noch den morgigen Tag haben, um meine Frage an das Schicksal erst stellen, um seine Antwort erhalten zu können. Morgen soll noch eine Jagd gehalten werden, eine letzte, angestrengte Jagd, und das Ergebnis derselben soll als Urteilsspruch gelten. Fangen wir auch nur einen Fisch, ja, haben wir auch nur mit einem solchen einen Kampf zu bestehen, so bleibe ich noch, andernfalls – –«

Eine Handbewegung vollendete den Satz. – »Haben Sie übrigens an der Mannschaft irgend welche besonderen Merkmale beobachtet, Sir?« setzte er hinzu.

Der Obersteuermann zuckte die Achseln. »Nichts, dem ich einen bestimmten Namen beilegen könnte, Herr Kapitän, aber dennoch – ich weiß nicht – –«

Der Kapitän reichte ihm die Hand. »Gut, gut, gut, Mr. Pikes,« sagte er freundlich. »Sie erfüllen Ihre Pflicht im ausgedehntesten Maße und zu meiner vollen Zufriedenheit. Das soll Ihnen nicht unbelohnt bleiben. Was Ihre Vermutungen betrifft, so wäre es wohl das beste, wenn wir beide bis morgen abend nicht mehr zu Bette gingen, damit keiner von uns den Meuterern allein gegenübersteht. Was denken Sie davon, Sir?«

»Ich bin vollständig Ihrer Meinung, Herr Kapitän. Doch dürfen wir die Leute nicht aufmerksam machen. Also bleibe ich bei halbangelehnter Türe in der Kajütte, bis etwa im unglücklichsten Falle meine Gegenwart an Deck notwendig wird.«

Thomas Wright nickte. »Well,« sagte er, »ich werde gleich erscheinen.«

Der Steuermann zog sich zurück, und zwei Minuten später hatte der Kapitän seine Wache übernommen. Robert stand am Ruder, als er das Deck betrat.

Der schwache Wind der letzten Tage war in vollkommene Windstille übergegangen. Die Segel hingen schlaff herab, das Meer glich in seiner Unbeweglichkeit einer schwarzen, nur von einzelnen Lichtstrahlen überglänzten Decke, deren Stille und Einförmigkeit die Seele bedrückte. Kein Laut ringsumher unterbrach das Einerlei.

Kapitän Wright blickte musternd zu den Wolken empor. Eine tiefschwarze, breite Bank, nach oben von grauen Streifen umsäumt, stand regungslos wie ein Fels am nördlichen Himmelsgewölbe. – »Aha,« murmelte der Seemann, »ich dachte es wohl. Diese Ruhe konnte nur ein Vorbote sein.«

Er ließ die leichten Segel wegnehmen und beobachtete dann den dunkeln Horizont. Über der Wolkenbank erhob sich allmählich ein breiter, scharf begrenzter Lichtbogen, der in steter, wellenförmiger Bewegung hier zu wachsen und dort in sich zu verschwinden schien. Die Mitte dieser Erhöhung von schönstem, prachtvollstem Rot nahm plötzlich eine glänzendere, durchsichtigere Färbung an, es entstand eine Feuerkugel, aus welcher in schneller, blendender Reihenfolge einzelne blitzartige Strahlen Hervorschossen, die nun stärker und immer stärker die schwarze, untere Bank durchdrangen. Sich nach allen Himmelsgegenden ausdehnend, flatternd wie ein windbewegtes Band, sich krümmend in plötzlichen, anmutigen Bogenwindungen gleich einer Schlange, so erschienen diese purpurnen, lichtdurchschimmerten Streifen an ihren äußersten Spitzen bald in grünem, bald in blauem oder gelbem Farbenglanz. Ein eigentümliches zischendes Geräusch, ein Knattern und Rollen wie von zerplatzendem Feuerwerk begleitete diese Naturerscheinung, deren höchster Glanz nur an den beiden Polen der Erde in voller Pracht beobachtet wird.

Das Nordlicht, in unseren Breiten ein dunkler und ein rötlicher, am Himmel feststehender Streif, dem besondere Schönheit nicht beigemessen werden kann, bietet in den Polarregionen als entweder »Südliche Aurora« oder als »Nordlicht« ein so wundervolles, so entzückendes Schauspiel, wie es keine Feder zu beschreiben, keine Phantasie zu erfinden vermag.

Auf dem Meere hundert und aberhundert Eisschollen und zwischen diesen die Eisfelsen mit ihren oft acht und zehn Fuß langen Zapfen, die neben» und übereinander den ganzen Bau wie Erker und Türmchen, Vorsprünge und Säulen umgeben. Wilde weiße und schwarze Vögel horsten auf den Zinnen dieser märchenhaften Burgen; langes Schilf und Schlingkraut, wie es nirgends so gedeiht als hier im Umkreis des ewigen Eises, hat sich tief unten auf dem Boden des Ozeans gleich einer immergrünen Wiese ausgebreitet, es ist mit tausend Armen emporgewachsen und ergreift im Fluge den Fuß des schwimmenden Felsens, der dann die ganze kleine Welt von Fasern und Gestechten aus ihren Angeln hebt und sie spielend mit dem Rechte des Stärkeren entführt.

Über die treibenden Schollen springend und im gewaltigen Ansatz hinwegstürmend eilt der weiße, beutegierige Wolf, und mit furchtbaren Tatzen sich anklammernd steht horchend der Eisbär.

Über alle diese Geschöpfe, über Lebendes und Totes ergießt das Nordlicht seinen roten Zauberschein. Was am Tage nur Eis war, das ist jetzt ein Palast aus Rubinen und Smaragden, das schwimmt in flüssigem Silber und glänzt mit vergoldeten, seltsam geformten Kuppen und Zinnen.

Schatten fallen in die Tiefen, sie mit gesättigtem Purpur füllend, helle Lichter umspielen die Gipfel, und rauschend und grollend tönt aus den Wolken die Stimme des Ewigen. Wie eine Botschaft von Pol zu Pol zittert langhallend der donnerähnliche Ton über das Firmament dahin.

Muß nicht das enge, staubgeborene Menschenherz in solcher Weihestunde der göttlichen Offenbarung den Sündenbann von sich abstreifen, muß nicht Anbetung das Gemüt erfüllen und die Seele mit sich ausdehnen, allem Schönen offen, allem Großen und Erhabenen entgegen? – Können Haß und Rache und kleinliche Gewinnsucht ihre Häupter erheben in solcher Wundernacht?– –

Verhülle dein Antlitz, guter Engel der Menschheit! Es gibt eherne Stirnen, die dein Liebesblick nicht rührt, es gibt Herzen, an die dein Finger vergeblich pocht! – –

Du wendest dich ab und eine nur, aber eine furchtbar-heilige, ernste Antwort schwebt auf deinen Lippen. – –

»Alle Schuld rächt sich auf Erden.«


Eine halbe Stunde mochte vergangen sein. Noch stand das Nordlicht am Horizont und noch schlief der Wind wie zuvor. Kapitän Wright lehnte mit gekreuzten Armen an der Kombüse und beobachtete die Naturerscheinung, welche selbst er, der vieljährige Grönlandsfahrer, in so seltener Pracht noch niemals gesehen. Vielleicht hatte er, seinen Gedanken überlassen, im Augenblick ganz vergessen, daß ihn aufrührerische und erbitterte Matrosen umgaben, vielleicht war er zu furchtlos, zu unerschrocken, um überall sorgfältig nach Verrat und Gefahr zu spähen, genug, er bemerkte nicht, daß zwischen der Kombüse und dem Volkslogis mehrere dunkle Gestalten am Boden kauerten und daß zuweilen ein leises, kaum vernehmbares Flüstern die Nacht durchdrang. Seine Augen suchten in den Segeln nach dem ersten, stärkeren Luftzuge, und seine Ohren vernahmen mit stillem Ingrimm das ferne Geräusch der blasenden Walfische.

Er stand unbeweglich gegen die Wand der Kombüse gelehnt.

»Damn him!« flüsterte hinter ihm, von dem Geräusch der Nordlichts übertönt, Sheppard, »wie lange will er uns noch den Rücken kehren?«

»So gib ihm den Stich zwischen die Schultern!« raunte Morris. »Vier Zoll kaltes Eisen schmecken auch da nach dem Tode.«

»Wenn es erst sitzt!« nickte Sheppard. »Mir ist der Hals lieber.«

»Pah!« meinte einer der Deutschen, »wozu überhaupt die Heimlichkeit? Freunde hat er nicht, und sich gegen uns alle wehren kann er ebensowenig.«

»Das freilich nicht, aber Freunde dürfte er doch finden. Zum Beispiel Kroll! Wo steckt der?«

»Pst! Er hat die Wache am Ruder. Hört zu, Leute, ich will in dem Augenblick, wo sich der Kapitän zufällig hierherwendet, ihm den Stich in die Brust versetzen, – dann aber müßt ihr anderen mir beistehen. Morris schießt die Pistole gegen ihn ab, damit er ganz sicher genug hat, du, August, verriegelst die Tür der Kajütte, und du, Emil, wirfst dich denen entgegen, die etwa an Deck stürzen und Miene machen, ihm beizustehen. Vor allen Dingen aber, – das laßt euch um eures eigenen Heils willen gesagt sein! – vor allen Dingen ist die Person des Steuermanns unverletzlich. Wir spielen um hohen Einsatz, wenn wir mitten im Eismeer den einen der beiden vorhandenen Steuerkundigen töten, das wißt ihr alle, und darum bedenkt wohl, was ich euch sage. Mr. Pikes ist selbst in einem etwa eintretenden Kampfe unverletzlich.«

Die Verbündeten gaben leise ihre Zustimmung zu erkennen, und dann warteten alle, bis sich der Kapitän aus seiner jetzigen Stellung entfernen würde.

Dieser Augenblick kam schnell genug. Ein weißlicher Schaum kräuselte empor an dem glockenförmigen Bug des »Vogel Greif«, ein kalter Hauch wehte über die Stirnen der Männer, und ein leiser, pfeifender Ton durchfuhr das Takelwerk. Die Himmelserscheinung war, wie das in diesen Breiten häufig der Fall zu sein pflegt, ein Vorläufer des Sturmes gewesen.

Kapitän Wright ging mit langsamen Schritten über das Deck. »Da hätte ich höchst wahrscheinlich schon den Ausspruch des Schicksals,« dachte er. »Morgen wird es mir kaum möglich werden, mit der geringen Anzahl von Leuten die nötigen Segelmanöver auszuführen, viel weniger kann ich an eine erfolgreiche Jagd denken, Damn it, das Verhängnis ist gegen mich!«

Diese Worte – ein Fluch – sollten seine letzten sein. Er hatte sich im Rückwärtsgehen der Kombüse wieder genähert, und diesen Augenblick benutzte Sheppard, um wie eine Tigerkatze vorzuspringen und ihm das Messer bis ans Heft in die Brust zu stoßen. Ein wilder, gellender Schrei aus dem Munde des tödlich Getroffenen weckte im gleichen Augenblick die ganze Mannschaft.

Morris, der erhaltenen Anweisung getreu, erhob die Pistole, um auf den noch im Sterben ringenden Kapitän zu schießen, als von der Kajütte her Mr. Pikes, bewaffnet und voll angekleidet, dem Kampfplatz zustürzte.

»Schurken,« rief er. »Feige Schurken, ihr –«

Weiter kam er nicht. Der Schuß krachte und ins Herz getroffen stürzte Mr. Pikes neben dem sterbenden Kapitän auf das Deck. Ströme von Blut liefen über die Planken, – noch wenige Augenblicke eines starren, wortlosen Entsetzens, dann waren beide Verwundete verschieden.

Der erste, welcher sich aufraffte, war Sheppard. »Unglücklicher,« rief er, »was hast du getan? – Jetzt sind wir samt und sonders verloren.«

Morris stand totenbleich. Seine Hände zitterten, sein Auge rollte wild. »Ich habe geschossen,« antwortete er mit heiserer Stimme, »wie du es befahlst, Sheppard. Kann ich dafür, wenn mir ein anderer, als der, dem die Kugel galt, in den Weg läuft?«

Niemand widersprach ihm. Bleiche, entsetzte Gesichter sahen einander an; der tödliche Schreck lag auf den Zügen aller. Die Frage »Was nun?« drängte sich unwillkürlich jedem einzelnen auf.

Auch Robert sah von einem zum andern. Da trafen sich seine und Sheppards Blicke. »Was willst du?« rief mit steigender Wut der Amerikaner. »Mich einen Mörder nennen, uns alle ans Messer liefern, wenn das Schiff jemals einen Hafen wiedersieht, nicht wahr? – Geh fort, hole ein Rumfaß, ich befehle es dir.«

»Sheppard, im Angesichte der Leichen willst du trinken?«

Der Amerikaner lachte. »Auf diesem Schiff regiert der Teufel,« rief er. »Es wird bald genug als Wrack am Strande liegen, also laßt uns die paar Tage genießen, so gut es geht. Den Rum her, sage ich.«

Zwei von der Mannschaft, begierig und unbändig wie er selbst, waren bereits in den Vorratsraum hinabgestiegen, hatten die Tür mit Axtschlägen geöffnet und schleppten jetzt eines der Branntweinfässer herbei. Um keine Zeit zu verlieren, schlug man auch hier den Boden heraus, so daß sich Blut und Branntwein auf dem Verdeck miteinander mischten. Dann begann das Gelage.

Nachdem die Leute während vier Monaten das gewohnte und dem amerikanischen Matrosen geradezu unentbehrliche Labsal des Branntweins an jedem neuen Tage vermißt hatten, stürzten sie jetzt wie die wilden Tiere darüber her, so daß schon nach einer Viertelstunde die Augen glühten und die Zungen stammelten. Einmal in den doppelten Rausch der Seele und des Körpers hineingeraten, schreckten sie vor keiner Abscheulichkeit mehr zurück.

»Faßt an!« gebot Sheppard. »Über Bord mit den Toten!«

Ein rohes Lachen antwortete ihm. »Eins, zwei, – – drei!«

Das Wasser spritzte hoch empor, das Meer zog weite Kreise, und ein Hai, der dem Schiff schon längere Zeit hindurch gefolgt war, öffnete gierig das Maul mit den sechs Reihen nach innen gebogener, sägenförmig ausgefeilter Zähne – – – noch einmal wiederholte sich die barbarische Bestattung, dann wurde notdürftig das Blut abgewaschen und fortgetrunken, bis alle Teilnehmer des empörenden Gelages unfähig waren, auch nur noch die Hände aufzuheben.

Ihrer fünf lagen regungslos an Deck und hätten unbedingt erfrieren müssen, wenn nicht die Mehrzahl der übrigen barmherzig genug gewesen wäre, sie in das Logis zu schleppen. Als die wilden Stimmen verhallt waren, hielten jene Besonnenen einen verzweifelten Kriegsrat.

Einige rangen im bittersten Schmerz die Hände, andere stießen Verwünschungen aus und baten laut die Vorsehung, diesen entsetzlichen Frevel zu ahnden. »Was soll aus uns werden?« fragten die Mutlosesten. »Dieser Sheppard wird jetzt wie ein Teufel an Bord regieren und uns alle, sobald es ihm gefällt, dem Kapitän nachschicken.«

»Morgen haben wir Sturm!« warf ein anderer ein. »Es ist gleichgültig, was wir wünschen und was wir beschließen, – das Schiff wird ein Wrack sein, ehe noch die nächste Nacht vergeht. Sheppard muß unsere Seelen vor Gott verantworten, – uns rettet nichts.«

Eine unheimliche Stille folgte dieser nur zu wahren Auseinandersetzung, dann fuhr der Sprecher fort: »Ist einer unter euch, welcher etwas Steuerkunde versteht?«

Alle schüttelten die Köpfe. »Aber der zweite Steuermann lebt ja noch!« rief plötzlich Robert.

Man eilte zu seiner Koje. Der Mann war noch warm, aber – vor einer Viertelstunde etwa gestorben.

»Es nützt nichts!« sagte dumpf der Matrose. »Wir sind verloren. Hört ihr, wie es durch das Takelwerk heult?«

Wirklich pfiff und ächzte der Wind in den Segeln. Das Schiff flog wie eine Möwe durch die Wellen dahin. Niemand beobachtete den Kurs, niemand befahl und niemand gehorchte. Bange Todesstille herrschte in dem kleinen Kreise.

»Wäre nur Sheppard erst einmal nüchtern,« meinte Robert. »Er versteht vielleicht das Notdürftigste, da er es war, welcher die ganze Sache leitete.«

Der andere schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht, und ebenso gewiß ist es auch, daß Sheppard nicht mehr nüchtern werden wird, bis seine Seele zur Hölle fährt. Du kennst diese Sorte von Seeleuten nicht, – sie sind wilde Bestien, wenn der Branntwein ihre Sinne umnebelt. Sheppard hätte bei täglichen, mäßigen Rationen seine Arbeit treu erfüllt und wäre vernünftig geblieben, bei vollen Fässern aber wird aus ihm ein Teufel, der alles Menschtum verlacht. Er trinkt, trinkt – und geht bewußtlos mit den letzten zerschellenden Planken des ›Vogel Greif‹ in die Tiefe. Uns zieht er nach sich, das ist das Schlimme.«

Roberts Augen glühten. »So laßt uns jetzt gleich die Fässer an Deck rollen,« rief er, »und laßt das fluchwürdige Gebräu aus den Speigaten laufen. Dann bleibt Sheppard nüchtern, ob er will oder nicht.«

Der Kamerad lächelte. »Willst du ihm sagen, daß du es warst, der den Branntwein verschüttete?« fragte er.

»Ja. Weshalb nicht?«

»Weil er dich auf dem Fleck totschlagen würde, mein Freund!«

»Das ist wahr!« sagte eine andere Stimme. »Wir können es nicht tun. Alles, was uns übrig bleibt, ist – Gott um Gnade zu bitten. Wüßten wir wenigstens, wo wir im Augenblick sind und ob eine Küste in der Nähe ist.«

Der erste Matrose nickte. »Das glaube ich euch sagen zu können, Maaten. Die letzten Wale, welche ich gestern abend gesehen, waren Breitnasen, – eine Gattung, die man an der nördlichsten Küste von Lappland vorfindet. Dort also müssen wir sein.«

Robert atmete auf. »Lappland!« wiederholte er, »das ist immer noch besser als Grönland oder gar Nowaja-Semlja, die beide gegen ihre Eismeergrenzen hin ganz unbewohnt sind. Werden wir an die Küste geworfen und kommen mit dem Leben davon, so ist doch einige Aussicht, daß uns ein Stamm der Wanderlappen begegnet, – daß wir zu Menschen gelangen.«

Die übrigen seufzten. »Welch einen Mut du besitzest, Kamerad! Als ob man daran denken dürfte, lebend den Strand zu erreichen.«

Roberts frisches Gesicht sah aus, wie die verkörperte Jugendkraft und Zuversicht. »Maaten,« sagte er, »das ist nicht der Weg, der zum Ziele führt. Wir müssen der vielen Schiffbrüchigen denken, die schon gut an das Land kamen, und müssen alle unsere Tatkraft einsetzen, um den Tod aus dem Felde zu schlagen. Jeder Augenblick kann das Schiff an den Klippen zerschellen, darum laßt uns gerüstet sein. Einer muß an den Ausguck. Wen wählt ihr dazu?«

Der frühere Sprecher reichte ihm die Hand. »Geh du selbst, mein Junge. Dein Herz und deine Augen sind frisch, geh du! An Rettung ist nicht zu denken, aber warne doch bei Zeiten, daß man im letzten Augenblick ein Vaterunser spricht und wenigstens selig von hinnen scheidet. Ist das eine unerhörte Sache, so mit den Händen in der Tasche zuzusehen, wie ein schönes Schiff auf den Strand gesetzt wird, ohne daß man's ändern könnte. Hätte nicht der arme Kerl, der Kapitän, noch im letzten Augenblick seines Lebens die kleinen Segel bergen lassen, so wäre schon kein Fetzen mehr vorhanden.«

Robert hörte nicht auf das, was die Mutlosen sprachen. Er kletterte trotz des wilden Wetters so gelassen über den Schiffsrand hinaus und an den Strickleitern empor, als sei es der schönste Sommerabend, und als wolle er da oben im Mars den ersten Frühapfel brechen, um ein kleines Naschgelüst zu befriedigen.

Der Wind flog durch sein dichtes Haar, riß und rüttelte an den schwachen Strängen, denen er sich so sorglos anvertraute, bog die Raaen unter seinen Füßen und peitschte das lose Takelwerk hoch oben am Messingknauf, den die Strafwache putzen muß, und an dem er selbst so manchesmal gehangen hatte, aus reiner Lust am gefährlichen, übermütigen Spiel, an einer Hand vielleicht und ohne alle dienstliche Veranlassung.

Er atmete tief auf und sah ringsumher, so gut es die herrschende Finsternis gestattete. Nichts als weißer, schäumender Gischt, haushohe Wellen und schwarze, gähnende Abgründe zeigten sich dem Blick.

»Jetzt sterben?« dachte er. »Unmöglich, das kann Gott nicht wollen. Ich glaube, daß ich mich retten werde und vielleicht die anderen dazu. Dann gibt es eine Wanderschaft durch die Eiswüsten. Rentierblut oder gar Tran als Nahrung, Kampf mit Bären und Wölfen, meilenweite Einsamkeit in Schnee und Kälte, – dann heißt es, jeden Augenblick, um das Dasein zu ringen und ihm jeden Zollbreit Bodens abzulisten. Mag es schwer werden, mögen die Hände bluten und die Füße den Dienst versagen, ich will's aushalten, aber – nur nicht sterben!«

Er schlug die Arme umeinander und hielt scharfe Wacht, bis der Morgen dämmerte, aber keine Küste zeigte sich seinem forschenden Blick. In unaufhaltsamer Fahrt stürmte der »Vogel Greif« durch die Wogen dahin.

Als es heller Tag geworden, kam der Neger, um Roberts Wache zu übernehmen. Drinnen in der Kajütte brannte ein behagliches Feuer, ebenso war Kaffee gekocht worden und etwas kaltes Fleisch hervorgesucht. Die fünf Berauschten vom gestrigen Abend taumelten und krochen überall umher, um sich mühsam der letzten Vergangenheit zu erinnern und dann wieder an die Branntweinfässer zurückzukehren. Vergeblich war Roberts Mühen und Bitten, vergeblich seine eindringlichsten Vorstellungen. Sheppard brummte einen Fluch. »Wer kann gegen das Geschick,« sagte er, »wer kann mit dem Teufel rechten? Das Schiff ist ihm verfallen, seit jener verruchte Mörder, den nun die Haifische gefressen haben – den Sturmvogel erschoß. Da hilft nichts, also laßt uns lustig sterben, wenn doch einmal gestorben sein muß.«

Robert gab indessen die Sache noch nicht auf. »Sheppard,« sagte er, »willst du nicht lieber Hand ans Werk legen, um uns allen zu helfen, als dich sinnlos zu betrinken und vielleicht aus dem tierischen Rausche nie wieder zu erwachen?«

»Geh zum Teufel mit deinem Geplärr!«

Und das zweite Rumfaß wurde in die Kapitänskajütte geschleppt, wüste Gassenhauer wurden angestimmt und fortgezecht und fortgejubelt, bis tiefe Stille eintrat, – bis da unten in dem kleinen, gemütlichen Raum wieder fünf leblose Körper auf den Dielen lagen wie gestern.

Indessen, auch die übrigen hatten keineswegs die Hände in den Schoß gelegt, sondern getan, was sich im Augenblick tun ließ. Man spannte schwere Seile quer über das Verdeck, um für die notwendigsten Bewegungen auf demselben einen einigermaßen festen Anhalt zu besitzen, dann wurden auch die großen Segel eingezogen und auf diese Weise die Fahrt des steuerlosen Schiffes etwas ermäßigt. Da sich kein Kurs verfolgen und kein Segelmanöver ausführen ließ, so kam es ja einzig und allein darauf an, der Strömung zu folgen und das Weitere abzuwarten.

Der Wind schwoll gegen Mittag immer stärker an. Das Barometer fiel plötzlich sehr tief und der Orkan brach los, so daß sich das Schiff mit kahlen Masten ganz auf die Seite legte. Nachdem es eben so schnell in seine frühere Stellung zurückgefallen, setzte es die Fahrt in unheimlicher Eile fort, wohin, das wußte freilich niemand. Der Druck des Windes war so groß, daß er keine hohe See mehr aufkommen ließ, sondern alles Wasser gleich in Schaum verwandelte.

Und durch das Toben der Elemente klang ein Schrei, wie ihn der Mensch nur in Bild höchster Todesnot ausstößt, wie er schrecklich und tief erschütternd aus der Brust des Mannes erst dann hervordringt, wenn Verzweiflung das Herz packt und halber Wahnwitz die Sinne umflort.

»Land! – Land! Gott im Himmel, das ist die Küste!«

Zwischen den aufgespannten Seilen hielten sich mühsam die Matrosen aufrecht. Aller Augen starrten auf die verhängnisvollen Eisblöcke, welche sich dort in einer Entfernung von tausend Schritten so riesig und unbeweglich empuitürmten. Ja, unbeweglich! Das schwamm nicht, das stand trotzig im Sturm und streckte seine letzten Ausläufer bis hinab in das brodelnde, zischende Meer, dessen Wellen es zuweilen hoch überspülten und für den Augenblick ganz in ihrem Schöße vergruben.

Wie ein Pfeil schoß das Schiff geradewegs der Brandung entgegen. Noch einige Minuten, und es mußte, zu tausend Trümmern zerschellt, in Splittern auf den empörten Wogen treiben.

Der alte Neger stand zufällig zwischen den Haltetauen neben Robert. »Jetzt ist es vorbei,« sagte er. »Der Tod breitet die Arme aus.«

»Noch nicht!« rief mit Aufbietung aller seiner Kräfte Robert, »noch nicht, Mongo! Es ist noch Hoffnung, so lange das Leben währt.«

Fast im gleichen Augenblick stand das Schiff in einer fürchterlichen Brandung und stieß mit solcher Heftigkeit auf den Grund, daß der Stoß die ganze kleine Besatzung zu Boden warf.

Die Masten drehten sich knarrend, schwankten und stürzten gleichzeitig über Bord, das ganze Hinterdeck wurde wie ein Federball fortgeschleudert, für Sekunden sahen Roberts entsetzte Blicke die Leichengesichter Sheppards und seiner Genossen, dann kam die Katastrophe.

Ein unheimlicher, donnerähnlicher Krach spaltete das Schiff von einem Ende zum anderen, weiße Sturzseen gingen darüber hin, Robert fühlte sich emporgehoben, vom Wirbel fortgerissen und geblendet von den rauschenden Fluten. –

Dann verlor er die Besinnung.

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