Sophie Wörishöffer
Robert des Schiffsjungen Fahrten und Abenteuer auf der deutschen Handels- und Kriegsflotte
Sophie Wörishöffer

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Sechstes Kapitel

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In New York

Von einer kurzen, glücklich verlaufenen Dampfschiffsreise und namentlich von dem, was während derselben ein Heizer erlebt, läßt sich nicht viel Interessantes berichten, wir beginnen daher aufs neue, nachdem sich der Dampfer im Hafen von New York vor Anker gelegt hatte und Robert entlassen worden war. Zwar gab sich der Kapitän alle mögliche Mühe ihn wieder anzumustern und am liebsten ganz für sich zu gewinnen, aber unser Freund schlug das Anerbieten rund ab.

Immer schwarz berußt da unten im glühend heißen Maschinenraum zu stehen und nur von Zeit zu Zeit Kohlen in das Höllenfeuer zu schütten, – daran konnte er kein Gefallen finden. Hoch oben in den Mastspitzen, an Deck im sausenden Nordsturm, wo Menschenkräfte ein Nichts werden, das liebte er, das war sein Leben und dahin sehnte er sich zurück. Der Freiheitsdrang seiner Seele, verschärft durch vierzehntägige Gefangenschaft im Maschinenraum des Dampfschiffs, brach mit voller Macht hervor, als ihm der Mastenwald im Hafen von New York zum erstenmal vor die Augen trat.

Jetzt erst war sein Wunsch erfüllt, jetzt befand er sich in der weiten Welt und sah und staunte, ohne gleich alle diese einzelnen Eindrücke ganz in sich verarbeiten zu können. Was ihm besonders auffiel, waren die riesigen, amerikanischen Flußdampfer mit den drei Stockwerk hoch übereinander gebauten Verdecken, den dreißig Fuß im Durchmesser haltenden Schaufelrädern und dem vierhundert Fuß langen Schiffsrumpf. Daneben lagen die großen Chinafahrer, diese Riesensegelschiffe, gegen welche die »Blume von Frankreich« wie eine Nußschale erschien. Die Unterraa eines dieser gewaltigen Fahrzeuge hätte schon für das französische Schiff als Mastbaum dienen können.

Auf den Dämmen an der Hafenmauer sah er dasselbe Treiben wie auf dem Baumwall in Hamburg, nur ebenfalls in bedeutend erweitertem Umfange und außerdem malerisch belebt durch die verschiedenen Nationaltrachten der Farbigen in allen Abstufungen, der Chinesen und Orientalen. In Hamburg hatte er diese Gesichtszüge und diese Rasseneigentümlichkeiten schon kennen gelernt, aber doch nur unter dem alltäglichen Gewande der Schiffer, jetzt dagegen sah er den Chinesen mit langem Zopf, spitzen Schnabelschuhen, den Türken mit Turban und buntem Kaftan, sah den Armenier im langen dunkelbraunen Rock und den Japanesen mit seiner hellen, weiten, auf große Hitze berechneten Kleidung. Alle diese Leute suchten und fanden Arbeit, schlossen und lösten neue oder ältere Verbindungen, sprachen in babylonischer Verwirrung gruppenweise durcheinander und verrichteten namentlich solche Arbeiten, die nur im Hafen stattfinden; sie löschten und beluden die Schiffe und waren an den Kränen und Landungsplätzen beschäftigt.

Überhaupt hatte unser junger Freund von der Großartigkeit der amerikanischen Einrichtungen bis jetzt noch keinen Begriff gehabt. Wie staunte er, als er z. B. schwebende, von Brückenpfeilern getragene Eisenbahnen sah, deren Wagen über dem Schiffe Halt machten, worauf sich eine Klappe öffnete, und durch dieselbe der Inhalt – meistens Weizen – in den Raum geschüttet wurde.

An anderer Stelle hob ein eiserner Kran spielend die schwersten Lasten aus dem Raum heraus. Riesige Ketten, jede mit einem armesdicken Haken versehen, fuhren rasselnd in die Tiefe und wurden dort an der Kiste oder Tonne, welche heraufzubefördern war, festgelegt. Dann auf ein gegebenes Zeichen drehte ein Mann die Handhabe der Walze und die Last hob sich federleicht empor, worauf wieder ein anderes Rad den ganzen, über zwanzig Fuß hohen und eben so breiten eisernen Kran um seine eigene Achse drehte, so daß nun die Tonne über dem bereitstehenden Wagen in der Luft schwebte und nachdem ein Druck die nötige Senkung veranlaßt, nur von den Ketten gelöst zu werden brauchte.

Was zehn kräftige Männer kaum in einer Viertelstunde vollbracht hätten, das wurde hier durch das Ineinandergreifen der technischen Einrichtungen spielend in wenigen Minuten getan.

Robert ging langsam, um alles zu sehen, alles zu beobachten, namentlich aber, um das Hochgefühl der Freiheit so recht in langen Zügen zu genießen. In seiner Tasche klapperten die Dollar, und unter seiner Mütze wirbelte es von den Plänen und Hoffnungen einer goldenen Zukunft. Jetzt erst konnte er tun oder lassen, was ihm beliebte, konnte seinen Wunsch nach Abenteuern vollständig befriedigen und von Pol zu Pol die ganze Erde kennen lernen. Er war nun bald ein volles Jahr von Hause entfernt und hatte das siebzehnte Lebensjahr beinahe zurückgelegt; seine besten Freunde hatten in dem lang aufgeschossenen, von der südlichen Sonne braun gefärbten Burschen mit dem ersten dunklen Schatten auf der Oberlippe und dem ganzen gereifteren Aussehen wohl kaum das Kindergesicht aus Milch und Blut, welches er vor Jahresfrist noch aufweisen konnte, wiedererkannt. Auch die Stimme hatte den Übergang vom Knaben zum Jüngling so ziemlich vollbracht, und die Schultern waren breiter geworden, mit einen Worte, unser Freund hatte sich, wie man zu sagen pflegt, stattlich herausgemacht, und der Gedanke, nach Hamburg zurückzukehren, erschien ihm unleidlich. Ja, wenn er das Geld seines alten Freundes in der Tasche gehabt hätte! – Aber mit leeren Händen vor den Vater treten? – Nein und tausendmal nein. Erst mußte er es zu etwas bringen, dann sollten die Pinneberger Augen machen und sich zuflüstern: »Der Robert Kroll ist doch ein Teufelskerl, hat richtig draußen in der Welt das große Los gewonnen.«

Dieser Gedanke schmeichelte ihm sehr, obwohl er dabei doch einiges Herzklopfen verspürte. Er wußte, daß das, was er wünschte, nicht das war, was er unter allen Umständen hätte tun müssen, nämlich seine alten Eltern um Verzeihung bitten und sich mit ihnen aussöhnen. Er wußte auch, wie ganz anders er in der Einsamkeit der unbewohnten Insel darüber gedacht hatte, aber – der Hang zu Abenteuern und ungewöhnlichen Erlebnissen riß ihn mit sich fort. Das Gewissen ist ja so leicht zum Schweigen gebracht, und Ausreden findet der Mensch für seine eigene Torheit in Fülle. Aber eben so sicher folgt auch auf jeden Irrtum die notwendige und eben durch ihn selbst hervorgebrachte Strafe. Auch Robert sollte –

Doch greifen wir nicht vor.

Er schlenderte im neuen hübschen Seemannsanzuge am Hafen einher und rauchte eine Zigarre, deren Dampf ihm schon längst kein Unbehagen mehr einflößte. So etwa fünf oder sechs Tage lang konnte er von seinem kleinen Schatz noch zehren, und bis dahin würde sich ja eine Heuer finden, womöglich nach unbewohnten, wilden Gestaden, wie sie z. B. die afrikanische Küste vielfach darbietet, wo in Palma und Lagos die Ansiedelungen der Weißen zwischen den Bambushütten der Eingebornen stehen, wo man mit kleinen Muscheln anstatt mit Geld bezahlt und die südliche Natur in ihrer ganzen Ursprünglichkeit kennen lernen kann. Er wollte sich überhaupt nur für eine Reise heuern lassen, um ganz sein eigener Herr zu bleiben. So sehr, wie jetzt, wo er die schwere Zeit hinter sich hatte, war ihm die Reiselust, die Freiheitsschwärmerei noch niemals zu Kopf gestiegen.

Das reine, gute Herz blieb freilich davon unberührt. Er schrieb an die alten Eltern einen so kindlichen Brief, wie ihn jemals ein liebevoller, gehorsamer Sohn geschrieben hat, und wie er ungekünstelt aus seiner innersten Seele hervorquoll. Dann brachte er das umfangreiche Schreiben, welches natürlich die Erzählung alles Erlebten als Hauptsache enthielt, selbst zur Post und begann aufs neue die Musterung am Hafen. Jedes Segel erregte ja seine Aufmerksamkeit, jede Welle begrüßte er mit lächelndem Auge.

Bild Man trifft ja zuweilen im Leben Naturen, die auf ein bestimmtes Ziel ihrer ganzen Anlage nach gebieterisch hingewiesen sind, und die auch nur diesem einen Gedanken treu bleiben können. Dazu gehörte mit seiner ganzen Leidenschaft für das Seewesen unser Freund.

Er saß auf einer zwischen zwei Steinen schwebenden Kette und beobachtete das Verladen eines Chinafahrers, als sich ihm wie zufällig ein Mann näherte, der in englischer Sprache um etwas Feuer bat. Robert hatte durch seinen Aufenthalt unter den Matrosen der Galliote und des Dampfschiffs diese Sprache oberflächlich gelernt, daher reichte er sofort dem Fremden die Zigarre. Aber das Kraut, welches der andere rauchte, mußte wohl nicht besonders viel wert sein, denn das Feuer verlöschte immer wieder, ohne gezündet zu haben.

Der Fremde bat endlich um einen Augenblick Verzug und warf die Zigarre fort, während er eine andere aus der Brusttasche nahm. »Wahrer Schund, was mir der Gauner da gegeben hat!« brummte er in deutscher Sprache.

Robert lächelte. »Sollten wir zufällig Landsleute sein, mein Herr?«

»Ach, Sie sind ein Deutscher?«

»Aus der Nähe von Hamburg, ja!«

Der Unbekannte streckte mit der Miene eines angenehm Überraschten die Hand aus. »Das trifft sich ja allerliebst,« sagte er zuvorkommend. »Auch ich bin ein Hamburger.«

Robert berührte, nachdem er die dargebotene Rechte kräftigst geschüttelt, seine Mütze und rückte etwas beiseite, um auf der Kette dem Fremden neben sich Platz zu machen, dann, als beide Zigarren lustig den blauen Dampf emporwirbelten, folgte erst ein allgemeines Gespräch, das jedoch der Unbekannte schon sehr bald und sehr geschickt auf Roberts persönliche Angelegenheiten hinüberzuspielen wußte.

»Sie sind, wie ich sehe, ein Seemann?« fragte er. »Schon Vollmatrose?«

Robert lachte. »Strenge genommen bin ich noch Junge,« antwortete er, »aber vielleicht gelingt es mir ja, eine Heuer als Leichtmatrose zu erlangen. Leisten kann ich's.«

»Das läßt sich denken. Sie sehen aus, wie ein kräftiger junger Mann von zwanzig oder zweiundzwanzig Jahren.«

Robert errötete ein wenig. Noch hatte ihn niemand »Sie« genannt, und viel weniger war er wie ein erwachsener Mann behandelt worden. – Wirklich, dieser Fremde gefiel ihm außerordentlich. »Ich zähle aber doch erst siebzehn Jahre,« antwortete er bescheiden. »Um eine Stelle als Leichtmatrose zu erlangen, muß ich schon großes Glück haben.«

Herr Hastedt, wie sich der Fremde nannte, lächelte mit einer Art von Gönnermiene. »So wissen Sie nicht, mein junger Freund, daß an tüchtigen Seeleuten immer Mangel ist?« fragte er. »Zwanzig Heuer für eine, und wenn Sie heute noch anmustern wollen. Die Kapitäne suchen ihre Mannschaft mit der Laterne zusammen,«

Robert wußte nun zwar, daß diese Behauptung nicht ohne einigen Grund war, aber völlig so leicht hatte er sich die Sache denn doch nicht gedacht, überhaupt wollte er bei seiner zweiten Wahl vorsichtiger zu Werke gehen und erst alles genau kennen lernen, ehe er den Handel abschloß.

»Hm, hm,« versetzte er, mit der Absicht, seine Unerfahrenheit möglichst zu verbergen, »gute Schiffe haben wohl immer Besatzung genug. Es ist mehr der Ausschuß, welcher, wie Sie sagen, mit der Laterne suchen muß.«

Um die Mundwinkel des Fremden zuckte verhaltenes Lächeln, das er aber sogleich zu unterdrücken wußte. »Doch nicht, mein werter Landsmann,« gab er kopfschüttelnd zurück, »wirklich nicht. Versuchen Sie es und die Erfahrung wird lehren, daß ich recht habe. Selbstverständlich,« fuhr er scharf betonend fort, »dürfen Sie dabei diejenigen Schiffe nicht mitrechnen, zu denen sich die Matrosen drängen, wie die Fliegen um den Honigtopf. Sie wissen, welche ich meine.«

»Natürlich,« beeilte sich Robert zu antworten, »natürlich. Hauptsächlich sind dies wohl –«

»Die Walfischfahrer,« ergänzte der Fremde, unbefangen nickend, »Ich sehe, Sie haben sich ein hübsches Verständnis Ihres Faches schon erworben, mein junger Freund. Ja, ja, die Walfischfahrer sind glückliche Leute. Immer Jagd, anregende Beschäftigung, sehr gutes Leben und Geld wie Heu. Aber freilich, da anzukommen hält schwer.«

Roberts Herz schlug im geheimen wie ein Hammer. Er ahnte von diesen Verhältnissen nicht das geringste, hatte sich über Walfischfahrer und Walfischjagd nur oberflächlich unterrichtet, aber das durfte er ja nicht veraten, und doch brannte er vor Begierde, gerade auf ein solches Schiff zu kommen. Selbst wenn er nicht gewünscht hätte, möglichst viel Geld zu verdienen, so würde ihn die Sache selbst unwiderstehlich verlockt haben.

Seine Miene blieb indessen ruhig, und auch Herr Hastedt sah so gleichmütig über den Hafen dahin, als sei nur vom Wetter die Rede gewesen. »Ich kenne manchen, der auf zwei oder drei Fahrten zum reichen Mann wurde,« setzte er hinzu.

Robert nickte. »Ja, ja, das habe ich auch schon gehört. Die Heuer sind glänzend, und –«

Wieder fiel ihm der Fremde ins Wort. »Und so ein Anteil an der Beute ist auch nicht zu verachten, da haben Sie sehr recht, mein Herr. Überhaupt arbeitet man williger und lieber, wenn es zum eigenen, als wenn es zum Nutzen anderer geschieht. Davon kann sich auch der beste Mensch nicht freisprechen.«

Robert hörte mit gespannter Aufmerksamkeit zu. Einen Anteil der Beute erhielten also die Matrosen auf den Walfischfahrern, sie waren gewissermaßen ihre eigenen Herren und arbeiteten in Teilung. O wer das Glück hätte, auf ein solches Schiff zu kommen!

Aber er wollte sich nichts merken lassen, nicht den Neuling verraten. »Ja,« sagte er leichthin, »es war auch schon gelegentlich meine Absicht, eine solche Reise mitzumachen, aber das muß sich zufällig treffen. Gerade auf diesem Gebiete besitze ich keine Bekanntschaften.«

Herr Hastedt blies den Dampf der Zigarre in Wolken von sich. »Ich wüßte im Augenblick auch nicht,« sagte er bedauernd. »Aber wie wäre es, wenn wir ein Glas Bier miteinander trinken würden?«

Robert willigte ein und die beiden neuen Bekannten schlenderten durch die Straßen bis zu einem Wirtshaus, welches nicht eben als Sammelplatz ausgesuchter Gesellschaft zu dienen schien. Das Schild war verräuchert und schwarz, die Fenster blind von Staub und das Innere selbst in allen Stücken dieses wenig einladenden Äußern würdig. Dennoch aber drängten sich die Gäste Kopf an Kopf, obwohl freilich Robert keinen einzigen Matrosen oder eine sonst zum Seeleben in irgend einer Beziehung stehende Persönlichkeit erblickte.

Die Schenke lag in einer Nebenstraße, und ihre Gäste bestanden aus Bürgern ziemlich niederer Klasse,

Herr Hastedt bestellte für sich und seinen Gefährten das Bier, dann nahmen die beiden an einem Nebentisch Platz, ohne sich in die Unterhaltung der übrigen zu mischen. Alle möglichen deutschen Mundarten klangen zu ihnen herüber, besonders die Hessen und Nassauer waren sehr stark vertreten, ebenso die Württemberger, deren »Schwäbeln« Robert durchaus nicht verstand. Unter diesen biederen Landsleuten, Schustern und Schneidern – insgesamt Auswanderer der ärmsten Sorte – befand sich ein schon bejahrter Mann, dessen Kupfernase den Trinker verriet und dessen Erzählungen die Zuhörer außerordentlich zu ergötzen schienen.

»Geben Sie noch ein paar Geschichten zum besten, Herr Kapitän,« hieß es. »Wirklich, man sollte es kaum glauben, daß ein Mann dem Tode oft so nahe gewesen und so oft entronnen sein kann, wie Sie.«

»Mer gruselt sich so scheene derbei!« sagte ein zweiter, dessen Sperlingsfigur und schäbig-eleganter Rock den Schneider deutlich verriet. »Schießen Se los, Herr Gabedän!«

Der Geschmeichelte lächelte nach allen Seiten und tat dann einen gewaltigen Zug aus dem vor ihm stehenden Grogglase. »Auf Ihr Spezielles! wie wir Studenten zu sagen pflegten,« nickte er dem Schneider hinüber. »Ich war nämlich auch einmal, bevor ich zur See ging, daheim in Göttingen Student, bis mir die Bücherfresserei zu langweilig wurde und ich auf und davon lief. Mein älterer Bruder hatte eben sein Schiff zur Walfischjagd ausgerüstet, also eins – zwei – drei – plätscherte ich im Eismeer.«

Bei dem Worte »Walfischjagd« hatte Robert unwillkürlich seinen Begleiter angesehen, aber dieser zuckte leicht die Achseln, als wolle er sagen: »der Kerl lügt ja!« –

Am anderen Tische ging indessen die Unterhaltung auf das lebhafteste fort. »Sage euch, solche Fahrt macht Spaß und ist das Merkwürdigste, was man erleben kann,« rief der als Kapitän Angeredete. »Ich bin einmal in Sibirien schiffbrüchig geworden und mußte monatelang am Lande leben. Es war hinter Tobolsk, ganz in der Nähe der Behringsstraße, nur noch drei Meilen vom Mond entfernt.«

Einer der Zuhörer hüpfte vor Erregung auf dem Sitz empor. »Vom Mond?« wiederholte er. »Das ist ja wohl nicht möglich.«

Kapitän Witt, so nannte sich der Brave, nickte mit dem ernsthaftesten Gesicht. »Wie ich Ihnen sage, meine Herrschaften. In dieser Gegend neigt sich der Himmel zur Erde herab, müssen Sie wissen, es ist eben die Stelle, wo beide zusammentreffen, am Rande der Welt, wo alles dunkel wird und man nicht weiter kommen kann, weil man sonst ins Bodenlose plumpsen würde. Wenn sich der Mond auf seiner Wanderung gelegentlich in diese Sackgasse verläuft, so ist er der Erde auf drei Meilen Entfernung nahe, und wir wären fast einmal hinaufmarschiert, um den grinsenden Alten zu begrüßen, aber es ist ein unbehagliches Gefühl, so ganz in die Enge zu geraten und sich von der Erde zu entfernen. Man weiß nicht, wie das da oben eingerichtet ist und wohin die Fahrt geht.«

Die ganze Zuhörerschaft hatte andächtig gelauscht, und erst als Kapitän Witt schwieg, atmeten die Beherztesten wieder auf. »Gott, was man nicht alles erfährt!« sagte einer. »Da lebt man so seinen Tag herunter und denkt an nichts Böses, indes andere den Mond von Angesicht zu Angesicht sahen. Wie groß war er denn, so aus der Nähe betrachtet, wohl?«

»O, ein ganz anständiger Kerl, sage ich Ihnen. Ich bin einmal vier Stunden lang mit der Uhr in der Hand unter ihm daher marschiert und hatte noch nicht die Hälfte seines Durchmessers erreicht. Ein Schritt hier auf der Erde macht zehn Meilen im Mond, müssen Sie wissen.«

»Zehn Meilen!« echote die Versammlung. »Aber um des Himmels willen, wie erfährt man denn solche Dinge?«

Kapitän Witt trank sich neue Begeisterung aus dem Glase, welches inzwischen mehr als einmal gefüllt worden war. »Dazu haben wir unsere Instrumente,« antwortete er mit der Miene eines vortragenden Gelehrten. »Es läßt sich alles auf Schritt und Zoll berechnen.«

»O Herrjemine! Herrjemine!«

»Aber wie lebt man denn in diesen Gegenden?« fragte wieder einer aus der Zuhörerschaft. »Was zieht man an und was ißt man?«

Der Erzähler fuhr mit dem Rücken seiner Hand über den Mund. »Die Kleidung ist sehr einfach,« versetzte er. »Ein Gewand von Pelz, das den ganzen Körper bedeckt, wird im Winter mit dem Haar nach innen und im Sommer nach außen getragen. Es ist daher einmal zu heiß und das andere Mal zu kühl, aber davon wissen die Russen nichts. Man findet überhaupt nirgends so abgehärtete und rohe Naturen wie eben hier. Den Kohl essen die Leutchen roh und als Leckerbissen dazu eine Talgkerze.«

Die Ausdrücke des Abscheues und des Entsetzens machten um den Tisch ihre Runde. Auch Robert und Herr Hastedt sahen einander lächelnd an.

»Es ist erstaunlich, was sich diese Landratten aufbinden lassen!« flüsterte der letztere.

»Glauben Sie überhaupt, daß der Mann jemals im Eismeer gewesen ist?« fragte Robert.

»I Gott bewahre. Er hat nie ein Schiff unter den Füßen gehabt. Solche Tagediebe werden von den Wirten freigehalten, weil sie die Gäste durch ihre Aufschneidereien zum Bleiben und zum Trinken veranlassen.«

»Hören Sie nur, jetzt fängt er wieder an,«

Die Biergläser der beiden klangen leise aneinander. »Auf eine gute Heuer für Sie!« flüsterte Herr Hastedt, und dann horchte man um des Spaßes willen nach dem anderen Tische hinüber.

»Von einer Jagd im Eismeere sollte ich Ihnen erzählen, meine Herrschaften?« ertönte des Kapitäns heisere Stimme. »Well! das können Sie haben. Seehunde, Walrosse, Eisbären, Moschusochsen, Rentiere, Füchse, weiße Hasen, Schneehühner, – alles ist von meiner Hand mittels Kugel oder Harpune in die Ewigkeit befördert worden. Welches Abenteuer ziehen Sie vor?«

Die biederen Landleute und Handwerker bestellten massenhafte Neuanschaffungen von Bier, bevor sie noch näher zusammenrückten und sich endlich für das gruseligste Erlebnis des vielgereisten Berichterstatters entschieden.

Dieser räusperte sich, ehe er neuerdings die Stimme erhob »Nehmen wir also das Walroß,« sagte er. »Die Bestie wird gegen zwanzig Fuß lang und mindestens zwanzig Zentner schwer. Ihre Haut hat eine Dicke von dreiviertel Zoll, Sie können daher glauben, daß dieselbe einen kugelfesten Panzer bildet. Und diese Häßlichkeit, sage ich Ihnen! Große Klotzaugen ohne Lider, drei Fuß lange Zähne von einem elfenbeinartigen Horn, und der Rachen umgeben von Borsten, die mindestens so dick sind wie Stricknadeln. Mit diesem teuflischen Aussehen verbindet das Tier eine Stimme, deren Brüllen, Bellen und Pusten auch den herzhaftesten Mann zu erschüttern vermag. Sage Ihnen, ich fürchte mich vor dem leibhaftigen Satan nicht, wenn er nur in fester, körperlicher Gestalt vor mir erscheint, so daß sich seine und meine Kräfte miteinander messen können, aber – diese Ungeheuer haben doch manches Mal das Blut in meinen Adern zu Eis erstarrt. Wenn man so auf dem sechs Fuß starken Eise wie auf dem sicheren Erdboden einhergeht, und von unten her taucht plötzlich ein derartiger Höllenhund empor, um uns die Fangzähne, mit Schlingpflanzen, Seegras und den Überresten erlegter Fische bestens verziert, in den Leib zu jagen, da danke ich für das Vergnügen. Das ist des Spaßes etwas zu viel.«

»Sechs Fuß Eis?« wiederholten ungläubige Stimmen. »Die kann das Walroß durchbrechen?«

»Ach – wie gar nichts. Das gibt ein kurzes Geprassel, vor Ihren Füßen entsteht plötzlich ein Loch, das schwarze Wasser im Grunde desselben schäumt und zischt und mein liebenswürdiges Ungeheuer mit den langen Zähnen klimmt ganz gemütlich empor, um sich über Sie herzumachen, – sehen Sie, das ist die Walroßjagd!«

»Puh! – und dergleichen haben Sie erlebt? sind vielleicht selbst in der Lage gewesen, mit diesen gräßlichen Geschöpfen kämpfen zu müssen?«

»Das will ich meinen. Unser Schiff lag ziemlich von der Küste entfernt, an einer Stelle, die für den Fang der Walrosse sehr geeignet war, aber wir hatten das Unglück gehabt, bei einem plötzlichen Sturm mehrere Fleischfässer zu verlieren und mußten daher soviel als möglich am Lande jagen, um den Ausfall zu decken. Na, das ging auch ganz nach Wunsch, denn die Rentiere sind dort sehr zahlreich, aber eines schönen Tages verfehlten wir den Rückweg und schoben unseren mit vier Stück erlegten Tieren beladenen Handschlitten unglücklicherweise in das Schlampeis hinein, so daß uns der Boden fortwährend unter den Füßen brach, Es ging in dieser Weise nicht vorwärts, das sahen wir nur zu bald und ließen daher den Schlitten, nachdem wir ihn auf eine feste Stelle gehoben, stehen, um ihn später mit dem Boot wieder an Bord zu holen. Aber kaum war die mühevolle Arbeit beendet, als unmittelbar vor uns mehrere Walrosse das Eis durchschnitten und ihre angenehme Gegenwart durch ein satanisches Gebrüll zu erkennen gaben. Wir wie der Blitz über das Eis davongelaufen, – es war, als sei uns der böse Feind auf den Fersen. Wortlos ohne Verabredung, ohne Zeitverlust rannten wir vorwärts, aber das führte zu nichts, weil die schlauen Bestien tauchten, unter dem Eise schwammen und alle Augenblicke rechts oder links von uns wie böse Geister aus dem Boden hervorbrachen. Unwillkürlich verteilten wir uns, um die Feinde irre zu leiten, und das Manöver gelang über Erwarten gut. Unbeschädigt kamen alle an die Boote, aber – der Schlitten war zurückgelassen, und ohne diesen konnten wir durchaus nichts anfangen. Ihn später an Bord zu holen war unerläßlich.

Nachdem wir uns also durch eine gehörige Mahlzeit neu gestärkt und tüchtig bewaffnet hatten, besetzten wir die Boote mit je vier Mann und einem Harpunierer, nahmen Büchsen, Messer und Mundvorrat mit uns und wollten jetzt aus Rache und einmal erweckter Jagdlust unserseits die Walrosse verfolgen.

Gedacht, getan. Die Fahrzeuge glitten am Rande des festen Eises dahin, bis zu der Stelle, welche wir als den Lagerplatz des borstigen Völkchens kannten. Durch die Glaser bemerkten wir auch wirklich eine ganze schlafende Herde, aber außerdem auch den Wächter, der regelmäßig, wie bei vielen andern Tiergattungen auch ausgestellt wird, um bei herannahender Gefahr ein Warnungszeichen zu geben.

Das kurze Gebrüll erschallte, und die Herde stürzte sich schon in einer Entfernung von wenigstens fünfzig Schritt Hals über Kopf in das Wasser, aber – ihrer vier Stück schwammen uns geradewegs, wie zur Herausforderung, entgegen. Unser Harpunierer, neben mir im Vorderteil des ersten Bootes stehend, erwartete festen Fußes die Ungeheuer, und als das vorderste herankam, stieß er ihm die Harpune mit voller Macht in den Körper.

Und nun folgte eine greuliche Szene. Die Bestie sank schwer verwundet ins Wasser zurück, aber sie erhob sich nach kurzer Pause, um ein anhaltendes, wildes Geheul auszustoßen. Das mag eine Art von Hilferuf oder Kriegsgeschrei gewesen sein, denn jetzt tauchten plötzlich die borstigen Teufel an zehn Stellen zugleich empor, sämtlich das eine Boot umzingelnd, von welchem aus ihr Kamerad verwundet worden war.

Für uns galt es nur noch, das nackte Leben zu retten. Wir alle stachen, schossen, schlugen und schleuderten mit jedem Gerät, das uns in die Hände kam. Dennoch aber wäre es um fünf unerschrockene Männer sehr bald geschehen gewesen! – Eines der Ungeheuer schob den riesenhaften Körper gerade unter den Kiel des Bootes, hob dasselbe hoch empor, so daß es zu schwanken schien, daß wir fast den Halt verloren, und« – – –

»Hören Sie auf!« riefen schaudernd die lauschenden Auswanderer, denen sich das Haar auf dem Kopfe bereits zu sträuben begann. »Das kann ja kein Pferd ertragen.«

Auch unsere beiden Freunde sahen einander an. »Sollte er nicht trotz alledem ein Seemann gewesen sein?« fragte Robert. »Sollte er nicht diese Jagd wirklich erlebt haben?«

Herr Hastedt zuckte die Achseln. »Ich kann mich irren,« raunte er. »Manchmal will es mir selbst so scheinen. Doch lassen Sie uns hören, wie er aus der verfänglichen Stellung auf dem Rücken eines Walrosses wieder herauskam. Der Wirt versorgt ihn schon mit einem frischen Grog.«

»Weiter! weiter!« drängten einige unter den Zuhörern. »Der Kapitän sitzt ja gesund und wohlbehalten in unserer Mitte, also was braucht es da für Heulen und Zähneklappern? – Nur vorwärts, alter Schwede!«

Der Kapitän tat einen tiefen Zug. »Das Boot schwebte also gleichsam,« fuhr er fort, »schien zu zittern und wohl gar fallen zu wollen, – zwei riesige, weiße Hauer bogen sich von unten herauf über den Rand, ein Schreckensruf aus aller Munde zerriß die Luft. Das Fahrzeug lag jetzt dergestalt auf einer Seite, daß das Wasser hineinzulaufen begann, immer stärker schob und drängte die schnaufende Bestie unter dem Kiel.

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Da richtete ich mich auf, raffte alle meine Kräfte zusammen und holte aus zum Axthieb, der einen Stein hätte zermalmen müssen. Richtig – das Walroß trieb mit gespaltenem Schädel tot aus der Oberfläche des Wassers! – –

Es war aber auch in der zwölften Stunde, wie man zu sagen pflegt. Noch eine Minute länger und wir alle hätten im Meer gelegen, den Ungeheuern zur sicheren Beute. Als die übrigen Boote herankamen, fand sich, daß wir während des kurzen, erbitterten Kampfes die Anzahl von neun Walrossen harpuniert, getötet und verwundet hatten. Die Fahrzeuge schwammen buchstäblich in Blut, das Wasser war ringsumher bedeckt mit sterbenden Tieren, und noch viel Mühe mußte aufgewendet werden, um die riesigen Körper, bevor das Leben ganz entflohen war, mit Seilen einzufangen und am Boot zu befestigen.

Die Schlacht war wild, die Gefahr groß gewesen, aber dennoch hatten wir bei dieser Jagd nicht allein unsern Schlitten geborgen, sondern erbeuteten auch außer den Häuten und Zähnen noch neun Tonnen Tran. Ja, ja, wenn man so an seine Jugend zurückdenkt und wie schön damals das Leben war, welche Kräfte noch Leib und Seele besaßen, – man könnte ganz wehmütig werden. Jetzt spalte ich längst schon keinen Walroßschädel mehr!«

Es schimmerte etwas wie echte Trauer in den Augen des Kapitäns, als er diese letzten Worte sprach. »Die Zeit auf meines Bruders Schiff da oben im Polareis war die reichste, glücklichste, welche ich durchlebt habe,« fuhr er fort. »So lange ich ein junger, kräftiger Mann war, konnten nur Kampf und Mühsal mich entzücken; ich habe oft gedacht, daß bei stets gutem Wind und Hellem Sonnenschein der Teufel ein Schiffer werden möchte, aber nicht ich. Sich hindurchringen, mit allen Naturkräften wetteifern, List an List setzen und besiegen, was sich feindlich entgegenstellt, – das allein ist Leben.«

Robert hatte sich unwillkürlich vorgebeugt. Auf seinen Wangen glühte höheres Rot, seine Augen blitzten und seine Brust hob sich schneller. Was dort der alternde Mann mit dem Feuer langvergangener Tage aussprach, das war ja sein eigenes Glaubensbekenntnis, das fühlte er mit jedem Pulsschlage nach. Nur kein tatloses Dahinleben, kein dumpfes Versinken in enge Grenzen des Gewohnten, des Alltäglichen, nur kein Scheindasein ohne Kampf und Sieg!

Er nahm sein Glas und ging zu dem alten Kapitän, um mit ihm anzustoßen. Wie ihm der Mut dazu so plötzlich wuchs, das begriff er selbst nicht, aber es war geschehen, fast ehe er es noch ganz ausgedacht. »Ihr Wohlsein, Kapitän!« sagte er freundlich. »Wer so viel erlebt hat wie Sie, der darf füglich zufrieden auf seine Jugend zurückblicken.«

Anscheinend sehr angenehm überrascht, erhob sich der Erzähler und tat gründlichen Bescheid, indem er keinen Tropfen auf dem Boden des Glases zurückließ. Seine und Hastedts Blicke begegneten sich dabei wie zufällig und nur auf Augenblicke, aber doch schien es, als hätten beide sich einander ein geheimes Zeichen gegeben. Während sich dieser gleichgültig zum Fenster wandte, schüttelte jener mit gewinnender Herzlichkeit die Hand unseres jungen Freundes. »Ein Landsmann,« sagte er, »und ein lustiger Seewolf obendrein, was? Freut mich ungemein, Ihre werte Bekanntschaft gemacht zu haben!«

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Robert lächelte errötend. »Sie erzählen so sehr launig und anregend!« sagte er mit einiger Verlegenheit. »Folgt nicht noch ein bißchen mehr?«

Der Kapitän blinzelte ihm vertraulich zu, als wolle er sagen »Diese Esel müssen es faustdick erhalten, bevor sie die Geschichte so recht nach ihrem Geschmack finden. Ich lüge ihnen natürlich die Haut voll, daß der Dampf davonzieht.«

Laut sagte er aber mit ermunterndem Lächeln: »Ich muß mich also jetzt verteufelt in acht nehmen, da einer vom Handwerk zugegen ist, nicht wahr? – Sie werden mir gehörig auf die Finger passen, ob ich auch in das Garn ein paar kleine Flunkereien hineinspinne?«

Robert lachte mit. »Immer zu!« versetzte er. »Ging die nächste Reise vielleicht an den Südpol und von da zur Sonne empor?«

Kapitän Witt blinzelte noch stärker. »Sie Tausendsappermenter,« sagte er, »also Sie haben mir die Geschichte nicht geglaubt? – Aber das beweist nur, daß Sie ihre schätzenswerte Nase nicht in jede Windrichtung gesteckt haben, oder – waren Sie bereits in Sibirien?«

Robert schüttelte den Kopf. »Leider nicht,« antwortete er. »Sehen möchte ich allerdings gern die ganze Erde, aber das läßt sich wohl schwer verwirklichen.«

»Hm, hm, Sie haben ja noch ein hübsches Stückchen Weges vor sich, können manchen Knoten segeln und manchen Strand begrüßen, junger Brausekopf. Aber Sie gefallen mir, wenn auch das Ei ein bißchen klüger sein möchte als die Henne, – in diesem Fall freilich als der Hahn. Setzen Sie sich zu uns, und rufen Sie auch Ihren Begleiter herbei.«

Herr Hastedt näherte sich mit artiger Begrüßung, worauf denn der alte Seemann, nachdem der Platzwechsel vollzogen und neues Bier herbeigeschafft worden war, den Faden seiner Erzählung wieder aufnahm.

»Den Eisbären kennen Sie alle aus persönlicher Anschauung, nicht wahr, meine Herrschaften?« fragte er. »Sie haben ihn in den Menagerien und zoologischen Gärten häufig gesehen, aber dennoch ist er in der Freiheit ein Geschöpf, welches mit dem scheublickenden Gefangenen eines engen, unzulänglichen Kerkers nur wenig Ähnlichkeit besitzt.

Zur Zeit seiner höchsten Kraftentwickelung vereinigt er mit der Stärke des Löwen die Hinterlist des Tigers und schwimmt dabei wie ein Fisch. Einmal hätte mich solche Bestie doch beinahe erwischt und mir den Garaus gemacht; ich kam wirklich nur mit genauer Not davon. Wir hatten nämlich an Bord nichts zu tun, Sonntag war's ohnehin, und daher ging ich am Lande ein wenig spazieren, um mir die Großartigkeit dieser eingefrornen, gleichsam toten, ewig unter Eis begrabenen Natur aus nächster Nähe zu betrachten. Nichts Böses ahnend, die brennende Zigarre im Munde und die Hände in den Taschen des Pelzrockes wandere ich so dahin, etwa zweitausend Schritt vom Schiff entfernt. Was sie jetzt in der Heimat beginnen mögen? denke ich und werde so ein bißchen wehmütig, als ich mir das Bild des Elternhauses deutlich vor die Seele führe. Die blinde Großmutter im Lehnstuhl am Ofen, der Vater mit kurzer Pfeife die Zeitungen lesend und Mutter und Schwestern am Herd beschäftigt. Alles ist so behäbig und nett, die Blumen blühen am Fenster, die Nachbarn grüßen herein, und das Zimmer wird von dem Ofen angenehm durchwärmt. – Herrgott, denke ich, könntest du auf ein paar Stündchen da hinüberspringen, dich einmal wieder recht gehörig an frischem Fleisch und Gemüse satt essen und von dem alten Kachelofen gründlich auftauen lassen, – das wäre so was! Aber so gut wird dir's nicht, mein Junge, du sitzest am seinen Nordpol und bewunderst Eisblöcke, mehr ist für den Augenblick nicht zu haben.

Und wie ich gerade bei diesem trüben Schlußsatz meiner Gedankenrede ein bißchen stärker seufze, Bild legen sich mir von hinten ein paar Tatzen auf die Schultern, daß ich den freundnachbarlichen Gruß wahrhaftig gleich mit einem Kniefall beantworten muß. Ehe ich mich aber recht besinnen kann, packen scharfe Zähne meinen Kopf – der glücklicherweise von der Natur mit einer recht ansehnlichen Rundung bedacht worden ist, und den außerdem die festgebundene Pelzkappe beschützte, so daß das Maul des riesigen weißen Räubers nicht groß genug war, um gehörig in das Fleisch hineinbeißen zu können. Dennoch aber schleppt er mich fort – unaufhaltsam – wie eine Windsbraut – über Stock und Stein – über Eis und Gletscher, während ich schreie, Kinder, na, – jeder unter euch kann sich vorstellen, wie!

Meine Fäuste bearbeiten das zottige Fell, und meine Kehle springt fast von der unnatürlichen Anstrengung, aber Petz bekümmert sich um nichts, er segelt vorwärts wie eine Fregatte unter vollem Leinen, immer hast du nicht gesehen, hier über einen Eisblock, wo meine armen Beine den Hopser mitmachen müssen, daß ich schier glaube, sie gehören mir gar nicht mehr, – und dort durch einen Tümpel Schlampeis, daß das Wasser wie eine Schlange über meinen Leib kriecht, – Gott im Himmel, das war eine Fahrt, wovon drei auf den Tod gehen. Trotzdem aber verlor ich das Bewußtsein nicht, sondern sagte mir, daß ich den Zähnen der Bestie unrettbar verfallen fei, wenn dieselbe erst einmal mit mir die freie offene Eisbahn erreicht habe. Dann konnte kein Mensch mehr mit dem eingebornen Beherrscher der Polargegenden um die Wette laufen, und ich wurde verzehrt wie ein Seehund oder ein Fisch. Bis also Petz an das Meer gelangte, hatte ich noch Hoffnung von meinen Kameraden gehört zu werden, – ich schrie, daß mir das Blut aus Mund und Nase stürzte.

Na, sie haben es ja denn auch vernommen und die, denen damals bei der Walroßjagd mein Axthieb das Leben rettete, haben den Bären mit Feuerbränden aus der Kombüse und mit Schießgewehren so tapfer verfolgt und von der freien Fläche so beharrlich abgeschnitten, daß er schließlich, um sein eigenes Leben zu retten, mich fallen lassen mußte. Des letzten Endes des Trauerspieles erinnere ich mich nicht mehr, sondern lag wie ein Toter auf dem Schnee und ließ mich von einem Teile meiner Kameraden an Bord schleppen, während die andere Hälfte den Bären jagte. Als ich zur Besinnung kam, trieb das Blut in meiner Koje; Kopf und Hals waren von den Zähnen der Bestie zerfleischt, Arme und Beine an den scharfen Eissplittern zerschnitten, und die Haut von den Fingern fast ganz abgeschält.

Nun, dafür halfen Eis und Pflaster. Ich konnte schon nach acht Tagen das Fell des erlegten Bären von den Füßen herabziehen und machte mir daraus, nachdem ich es gereinigt und mit Alaun gerieben, ein paar Strümpfe, die wärmsten, welche ich jemals besessen habe. Haare und Klauen blieben daran, also konnte ich auf dem blanken Eise laufen wie der beste Schlittschuhkünstler.«

Ein Murmeln um den Tisch gab das Erstaunen der Zuhörer zu erkennen. Kapitän Witt trank und blinzelte hinter dem Glase zu Robert herüber, als wolle er sagen: hast du gehört?

»Mehr, Herr Kapitän, mehr!« rief dieser, dem die ganze Begegnung den größten Spaß machte, und der heimlich noch immer hoffte, auch etwas von der Walfischjagd zu hören. »Sie blieben stehen bei den Strümpfen aus Eisbärenfell.«

Der Erzähler strich den Schnurrbart. »Im Gegenteil, mein junger Freund, ich lief auf diesen Strümpfen höchst geschwinde davon,« lächelte er. »Habe sogar einen lebenden Fuchs mit bloßen Händen gefangen und in den Käfig gesteckt nur zur Kurzweil. Wir stellten den kleinen Kerl in seiner Falle neben dem Schiff auf einen Eisblock, hatten aber nicht bedacht, daß die Nähe der Kombüse den Block allmählich schmelzen müsse, und so fiel denn eines Tages der ganze Bau mit Geprassel in sich zusammen. Reineke schaute verdutzt durch die plötzlich entstandene Lücke auf das Eisfeld hinaus und rannte dann mit gestrecktem Schweif in rasender Eile davon. Wir lachten zu sehr, um ihn aufhalten zu können. – Diese vielen Füchse, weiße, graue und blaue, sind indessen für die Mannschaft des Grönlandfahrers oft eine große Last, da sie in Mondscheinnächten oder beim Nordlicht so anhaltend bellen, daß an keinen Schlaf zu denken ist.«

Herr Hastedt sah verstohlen zu seinem Begleiter hinüber. »Der alte Bursche ist doch im Eismeer gewesen,« flüsterte er. »Hatte es wirklich nicht gedacht, aber diese Einzelheiten überzeugen mich. Nun, wie steht's, Herr Kroll, machen wir noch einen kleinen Spaziergang zusammen?«

Robert schob ihm die Flasche zu. »Bleiben Sie doch!« antwortete er. »Wir sitzen ja ganz gemütlich beieinander.«

Aber der Deutsch-Amerikaner hatte nach der Uhr gesehen und schüttelte jetzt den Kopf. »Bedaure wirklich, Herr Kroll, es ist mir rein unmöglich. Time is money! (Zeit ist Geld) wissen Sie, mein Bester. Freut mich, Ihre angenehme Bekanntschaft gemacht zu haben! – Kapitän, ich empfehle mich Ihnen!«

Er reichte den beiden die Hand, und Robert hörte auch, daß zwischen ihm und dem Erzähler noch einige englische Worte gewechselt wurden, schnell und leise, – er achtete nicht darauf – dann bezahlte Herr Hastedt das Bier, grüßte nochmals mit der Hand und entfernte sich.

»Vielleicht sehe ich Sie morgen oder übermorgen an dieser Stelle wieder!« rief er noch von der Tür her zurück.

»Das hoffe ich, mein Herr. Es ist dann an mir, Sie zu bewirten!« versetzte Robert.

Er verschwand, und unser junger Freund setzte sich wieder in die Reihe der übrigen. Er hatte schon mehr Bier und Kognak getrunken, als ihm dienlich war, ein ganz fremdes Gefühl des Übermutes und der Sorglosigkeit beherrschte seinen Geist. Heute zum erstenmal wurde er in einer Gesellschaft von Männern als vollwichtig mitgezählt, er trank und sprach wie diese, er hatte den »Jungen«, den Untergeordneten und Unmündigen, gänzlich abgeschüttelt. O seliges, dreimal seliges Freiheitsgefühl, jetzt erst war er aus Ketten und Banden erlöst, jetzt hatte ihm niemand mehr etwas zu befehlen.

Sein Blick streifte herausfordernd die plaudernde Tafelrunde. »Still!« rief er, mit zwei Fingern auf die Tischplatte schlagend. »Still! der Kapitän will von seinen Erlebnissen auf der Walfischjagd erzählen.«

Die übrigen schwiegen, aber Witt schüttelte den Kopf. »Für diesmal nicht mehr,« antwortete er. »Ich habe nur den einen Zug mitgemacht, und der endete, als wir den Wal jagten, so traurig, so bös, daß mich die Erinnerung noch heute schmerzt. Mein Bruder verlor dabei das Leben und unser schönes Schiff ging in Splitter. Dergleichen stimmt trübe.«

Roberts Augen glänzten vor Begier, die Geschichte zu erfahren. »Kapitän,« sagte er, sich halb über den Tisch neigend, »so müssen Sie nicht sprechen. Habe ich eine Gefahr hinter mir, dann sehne ich mich nach der nächstfolgenden; ist ein Kampf beendet, so denke ich an den zweiten. Glauben Sie's nur, auch ich habe trotz meiner Jugend schon böse Stunden durchlebt und dem Tode mehr als einmal ins Auge gesehen!«

Der Kapitän horchte auf. »Sie?« sagte er. »Alle Wetter, das möchte ich genauer erfahren!«

Sein Wink veranlaßte den Kellner, Roberts Glas aufs neue zu füllen, ohne daß dieser es besonders bemerkte. Auch durch die übrigen aufgefordert, begann er eine Schilderung seiner Erlebnisse und redete und trank sich in einen Rausch hinein, der seine Wangen erglühen und seine Bewegungen unsicher werden ließ.

Besonders Kapitän Witt flocht Bemerkungen ein, die alle dazu dienten, das Selbstgefühl und die Lust an abenteuerlichen Fahrten in Roberts Seele nur noch immer mehr zu stärken. Er schlug zuletzt mit der Faust auf den Tisch und schwur, noch die ganze Welt umsegeln zu wollen.

Der Kapitän streckte den Arm aus. »Keinen solchen Schwur,« sagte er finster. »Dergleichen tut nicht gut, – die Schicksalsmächte hören es und fangen den vermessenen Sterblichen in seinen eigenen Schlingen.«

Robert lachte. »Ich bin nicht abergläubisch!« rief er. »Das kommt erst mit dem Alter. Haben Sie solche Geschichte von einem Schwur, den die bösen Gewalten gehört, mitgemacht, Kapitän? Nein, nicht wahr? Nur Ihre Frau Großmutter hat's erzählt, und die hatte es von einer Base, denke ich!«

Ein stummes Kopfschütteln beantwortete die dreiste Rede. Der Erzähler malte mit dem Zeigefinger in dem verschütteten Bier auf der Tischplatte und sprach keine Silbe, – nur Robert vermochte nicht zu schweigen. »War es vielleicht die Geschichte von dem zersplitterten Schiff Ihres Bruders, Kapitän?« forschte er. »War es das?«

Witt blickte auf. Der Ernst in seinen Zügen war unerkünstelt, das Beben seiner Lippen unwillkürlich. »Ja!« antwortete er langsam und deutlich. »Ja, es war der vermessene, gotteslästerliche Schwur, welcher Schiff und Mannschaft den Untergang bereitete. Es war mein Bruder, der sich im Eigensinn hoch und teuer vermaß und den der Tod ereilte, als er seines Sieges gewiß zu sein glaubte.«

Robert stand auf. »Das muß ein tapferer, unerschrockener Mann gewesen sein,« rief er, »ein braver Schiffer, dessen Andenken in Ehren bleiben soll. Stoßen Sie an, Kapitän!«

Der alte Witt nickte und tat Bescheid. »Ich will's erzählen,« sagte er nach einer Pause. »Solchem jungen Brausekopf und Heißsporn kann es gar nicht schaden, einmal eine tüchtige Lehre zu erhalten. Also hören Sie zu, meine Herrschaften, obgleich die Geschichte traurig genug ist.

Wir befanden uns im nördlichen Eismeer und jagten den Wal, hatten aber nur sehr wenig Glück gehabt, nur kleine, unbedeutende Ausbeute an Walrossen oder Seehunden gemacht und keinen größeren Walfisch gesehen. Die Mannschaft murrte auch, daß es zu kalt sei um an Deck arbeiten zu können, daß wir umkehren müßten und daß sie feste Heuer verlange, wenn der Kapitän noch immer an dieser äußersten Grenze der Eisregion verweilen wolle.

Mein Bruder war aber ein Trotzkopf sondergleichen. ›Ich habe noch Mundvorrat für zweihundert Tage an Bord,‹ fügte er mir einmal in einer vertraulichen Stunde, ›mein Schiff ist fest und meine Leute sind gesund, – wer weiß, ob es nicht mir bestimmt ist, daß seit Jahrhunderten vergeblich gesuchte und von vielen sogar geleugnete offene Polarmeer zu erreichen. Wer weiß, ob ich nicht an den Nordpol gelange, Wilhelm, und dann – wäre ich der bedeutendste, am häufigsten genannte und am meisten bewunderte Mann meiner Zeit geworden! Die Leute müssen sich fügen, wie ich will.‹

Bei solchen Reden schüttelte ich wohl den Kopf und malte ihm das Bedenkliche der Sache, aber im innersten Herzen verlockte mich der Gedanke ebensosehr wie ihn selbst. Und wenn unser Schiffstagebuch auch nur einen Breitegrad mehr aufwies, als ihn bislang ein anderes Fahrzeug erreicht hatte, so war das immerhin der Mühe wert, nur nicht für die Leute, welche keinen Ehrgeiz besaßen, sondern Geld verdienen wollten. Über den eigentlichen Strich der Walfischjagd aber waren wir hinaus, das wußten alle.

›In acht Tagen haben wir kein Schiff mehr gesehen!‹ hieß es. ›Man muß umkehren oder man friert plötzlich ein und kann elend verhungern.‹

›Hat keine Not!‹ tröstete mein Bruder. ›Es ist Mundvorrat im Raum, wir jagen mehr frisches Fleisch als wir verzehren können und für den Wasserbedarf sorgt überreichlich der Schnee, für das Brennmaterial die ungeheuren Massen von Treibholz. Was wollt ihr also?‹

Bei derartigen Gelegenheiten mußte der Untersteuermann ein Paar Flaschen Branntwein herausgeben, und so hielten wir die Leute hin, während das Schiff den achtzigsten Breitegrad beinahe erreicht hatte. Da kam uns ein anderes Fahrzeug in Sicht.

Jetzt kehrte den Matrosen der gesunkene Mut zurück, und als vollends der Däne, denn ein solcher war es, mit uns Seite an Seite lag, da ging die Geschichte vortrefflich, obwohl mein Bruder den Zufall heimlich verwünschte. An Bord des »Kong Frederik« waren nämlich die Blattern ausgebrochen, Kapitän und Steuermann gestorben, und der Untersteuermann nicht erfahren genug, um bei so schwierigen Verhältnissen die Lenkung des Schiffes allein zu übernehmen. Der »Kong Frederik« war verschlagen worden, und sein flaumbärtiger Führer bat uns vom Himmel zur Erde um einen Mann, der es verstände, das Schiff wieder nach Europa zu bringen.

Nun, das konnten wir tun, da uns zufällig mehr Kräfte zu Gebote standen, als für unsere Zwecke erforderlich waren, aber mein Bruder, rasch entschlossen und tatkräftig wie immer, verabredete, ehe wir uns trennten, mit dem jungen Dänen eine Art von Tauschhandel. Die beiderseitigen Matrosen sollten gefragt werden, wer lieber auf dem »Kong Frederik« unverweilt nach Hause zu gelangen wünsche oder auf unserem eigenen Schiff in diesen Breiten noch länger kreuzen wolle. Am folgenden Morgen sollte die Übersiedelung stattfinden.

Ich hatte am Abend dieses Tages mit meinem Bruder eine längere und sehr ernste Unterredung. Sein Gesicht strahlte vor Freude. ›Wilhelm,‹ sagte er, ›das Schicksal ist mir gewogen, ich bekomme lauter neue Matrosen. Die Dänen sind überhaupt ein tolldreistes, kühnes Volk, sie fürchten sich vor dem leibhaftigen Satan nicht, und ganz besonders diese Mannschaft gefällt mir. Es sind lauter Seeländer, die Schwarzköpfe vom alten Asenstamm, die Kerle mit den Eisenfäusten und dem eisernen Sinn. Solche brauche ich, alter Junge! – Ja, wenn es mir gelänge, das Polarmeer zu erreichen, wenn ich Zeit genug behielte, in das ewige Eis des Nordpols meinen Namen wie in Granit zu hauen, dann wollte ich gern sterben. Hundert Jahre – tausend Jahre nach mir käme vielleicht ein anderer dorthin und läse es, – ich hätte nicht gelebt, ohne auch für die Jahrbücher der Geschichte unsterblich geworden zu sein.‹

Ich konnte diese Begeisterung nur halb verstehen. Zehn Jahre jünger als er, liebte ich das Leben noch mehr als den Ruhm, und – das sah er vielleicht. ›Du sollst mich nicht begleiten, Wilhelm,‹ sagte er, ›du gehst mit dem »Kong Frederik« nach Hause, und wäre es nur, um unseren Eltern wenigstens einen Sohn zu erhalten. Ich bekomme Leute genug, – die Kerle haben sämtlich vor dem Unglücksschiff, auf welchem der Tod seine Ernte gehalten, einen heillosen Respekt. Sie verlassen es lieber heute als morgen; du gehst mit meinen Einfaltspinseln, die zu verhungern fürchten, an ihre Stelle über.‹

Ich sprang beleidigt auf. ›Johannes,‹ rief ich, ›das darfst du nicht verlangen, mich nicht feige oder unmännlich nennen! Ich bleibe wo du bist und teile dein Los.‹

Aber er schüttelte den Kopf. ›Ich will es nicht!‹ erklärte er. ›Du bist kein Seemann, Wilhelm, bist in die Musterrolle nicht eingeschrieben und noch nicht einmal mündig. Der Vater hat dich mir mitgegeben, um den Herrn Studenten ein wenig zahm zu machen, wie du weißt, also – kann ich Gehorsam verlangen.‹

Mein Blut begann zu kochen. ›War das im Ernst gesagt, das vom Gehorsam, Johannes?‹ fragte ich, zitternd vor Zorn.

Sein Blick, sein Ton entwaffneten mich. ›Nein,‹ versetzte er, ›das Wort war schlecht gewählt, mein Junge. Aber du tust mir's zu Liebe, ich weiß es.‹

Dagegen konnte ich nichts machen. ›Johannes,‹ sagte ich, ›noch an einer letzten Hoffnung festhaltend, laß uns das Schicksal fragen und seine Stimme den Streit schlichten. In alten Zeiten wurde alles durch Gottesurteil entschieden, warum nicht auch jetzt noch?‹

Er lächelte. ›Nur zu,‹ antwortete er. ›Aber woher willst du das Orakel nehmen?‹

Ich flog zu meiner Kiste und holte die Würfel hervor. ›Einfach genug, Johannes,‹ rief ich. ›Wer die wenigsten Augen wirft, der ergibt sich. Soll das gelten?‹

Mein Bruder nickte. ›Du bist leichtsinnig, Wilhelm,‹ antwortete er mit ernstem Tone. ›Du willst einen Zufall über dein ganzes ferneres Glück entscheiden lassen, anstatt der Stimme der Vernunft Gehör zu geben.‹

Aber ich hielt die Würfel bereits in der Hand. ›Einerlei Johannes, – soll es gelten?‹

Er beugte sich vor. ›Meinetwegen denn. Wir wollen es als ein Gottesurteil nehmen! – Gib her die Würfel.‹

Ich reichte ihm die klappernden Dinger und verfolgte mit gespannter Aufmerksamkeit jede seiner Bewegungen. Wer hätte wohl gedacht, daß hier Leben und Tod an einem einzigen Auge hingen! – –

Seine Hand ließ die Würfel fallen, so daß einer auf den Fußboden der Kajütte rollte. ›Nimm das Licht!‹ rief er hastig, ›sieh nach, aber laß die Augenzahl, Bild welche nach oben liegt, so bleiben, wie sie ist.‹

Ich nahm ein Streichholz und beleuchtete den Boden. ›Etwas abergläubisch bist du aber selbst, Johannes!‹ sagte ich, mit klopfendem Herzen den Würfel suchend. ›Aha, dort liegt er, und die sechs ist geworfen. Wo befindet sich der andere?‹

›Hier,‹ antwortete er und hob die Hand empor. ›Ich habe ihn festgehalten.‹

›Auch sechs!‹ rief ich bestürzt, während er laut und fröhlich lachte. So war die Frage also zu meinen Ungunsten entschieden.

Und dabei blieb es. Ich bereitete mich mit schwerem Herzen darauf vor, das Schiff zu verlassen und mit dem Dänen nach Europa zurückzukehren. Während der ganzen letzten Nacht gingen wir beide nicht zu Bette, mein Bruder und ich, sondern er schrieb Briefe an Eltern und Freunde, oder wir besprachen noch so vieles, was sich bei dieser ganz unvermuteten Trennung hoch oben im Eismeer unseren Seelen aufdrängte. Vorn im Matrosenlogis war es eben so lebendig. Die Dänen vom anderen Schiff überboten sich in den ihrem Nationalcharakter anklebenden Prahlereien, und mehr als einmal hörte ich die Bemerkung, daß es ihnen gerade erwünscht sei, eine Reise bis zum Polarmeer mitzumachen. ›Unser Volk hat Amerika entdeckt, längst vordem Kolumbus geboren,‹ hieß es, ›wir nannten es »Wiinland« und besaßen daselbst ausgedehnte Königreiche. Die Dänen und Norweger sind die wahren Entdecker Amerikas, – warum sollten sie nicht den Weg zum Nordpol finden?‹

Und dann klangen die Gläser aneinander. Auf dem »Kong Frederik« hatten sich alle Bande der Ordnung gelöst. Die Leute holten ohne zu fragen ein Fäßchen Rum herüber, und man zechte bis nach Mitternacht.

Inzwischen hatte sich der Wind bedeutend verstärkt, es herrschte eine fast unerträgliche Kälte, und als der Tag anbrach, sahen wir in einiger Entfernung vor uns schwimmende Eisblöcke von so riesiger Ausdehnung, wie sie uns vorher nie zu Gesicht gekommen waren. Es schienen erstarrte Gebirge, Gletscher, die bis zum Himmel ragten, deren Formen und äußere Umrisse den Eindruck des Großartigen, Gewaltigen bei uns hervorbrachten.

Ihrer zwei, die beiden größten, trieben in einer Entfernung von etwa einer halben Meile nebeneinander her.

Ich verstand vom Seewesen damals noch nicht viel, aber dennoch ließen mich diese beiden Ungetüme heimlich erbleichen. ›Johannes,‹ sagte ich, ›ist nicht gerade das der Kurs, den du steuern wolltest? – Natürlich muß dein Plan jetzt fallen.‹

Aber er schüttelte den Kopf. ›Mein Plan fällt nicht, Wilhelm. Der Wind ist günstiger als je, – ich wage die Sache.‹

›Johannes! – du wolltest zwischen den Eisbergen deinen Weg suchen?‹

›Ja. Sie können mich auch im Atlantischen Ozean zermalmen, wenn das mein Los werden soll. Hier heißt die Sache ein tollkühnes Wagestück, dort ist sie unvermeidlich und überfällt vielleicht den hasenherzigsten Kapitän auf der kurzen Reise zwischen Hamburg und New York. – Ich will den Versuch wagen.‹

Wenn er in diesem Tone sprach, dann ließ sich mit ihm nichts machen, aber ich hoffte noch, daß sich die Mannschaft weigern würde, und als der Umzug bewerkstelligt war, raunte ich unserem auf das dänische Schiff übergehenden Steuermann die Geschichte ins Ohr. Er erschrak offenbar sehr.

›Kapitän,‹ hörte ich ihn sagen, ›die Sache geht schief. Das müssen Sie aufgeben.‹

›Bei diesem Wind?‹ rief mein Bruder. ›Nimmermehr tue ich es, Steuermann. Haben wir während der ganzen letzten Wochen solchen Wind gehabt?‹

›Das nicht, Kapitän. Es ist in dieser Beziehung allerdings ein sehr günstiger Augenblick für die Weiterreise nach Norden, wenn nicht eben jene Eisblöcke – –‹

Johannes kehrte sich plötzlich gegen uns beide herum. Sein Lieblingsgedanke beherrschte ihn vollständig. ›Und wenn ich bis zum jüngsten Tage zwischen diesen Eisblöcken kreuzen müßte, so gebe ich meinen Plan nicht auf!‹ rief er mit flammenden Blicken. ›Ich will hindurch um jeden Preis!‹

Der Steuermann schwieg. Er reichte seinem bisherigen Vorgesetzten die Hand und wünschte ihm Abschied nehmend eine glückliche Fahrt. Dann ging er auf den »Kong Frederik« hinüber, um das Kommando des Schiffes anzutreten.

Ich mußte wider Willen folgen. Der Augenblick der Trennung ließ sich nicht länger hinausschieben, da das dänische Schiff aus Mangel an Mundvorrat und Mannschaft so schleunig als möglich den Heimweg antreten wollte. Jetzt berührten sich unsere Hände, unsere Lippen zum letztenmal. ›Johannes,‹ bat ich innig, ›laß mich bei dir bleiben.‹

Aber er schob mich fort. ›Nein, nein, Kind, du machst mich nicht irre. Geh und grüße zu Hause die Eltern. Vielleicht komme ich ja glücklich und – berühmt zu euch zurück. Das Schiff ist mein Eigentum, die Leute folgen freiwillig, und zudem hast du meinen Schwur gehört. – Ich kann nicht anders, will nicht anders handeln. Behüt dich Gott, Wilhelm, und – nun geh.‹

Noch eine Umarmung, noch ein fester Händedruck, und dann wurden die Planken weggenommen, die Befehle auf beiden Schiffen gegeben und ausgeführt, die erforderlichen Veränderungen an den Segeln und dem Ruder gleichzeitig vorgenommen. Während der »Kong Frederik« nur schwerfällig, gleichsam kriechend seinen Weg gegen den immer stärker anschwellenden Wind zu verfolgen suchte, flog meines Bruders unglückliches Schiff wie eine weiße Möwe über den Ozean dahin. Es war eine schreckliche Stunde! –

Von Minute zu Minute verstärkten sich die Windstöße. Die Eisberge taumelten und neigten sich gleich Berauschten, sie stießen mit Donnergepolter gegeneinander, sie trennten sich auf bedeutendere Entfernungen und drängten dann wieder ganz nahe Seite an Seite.

Meines Bruders Schiff war jetzt mitten zwischen ihnen. Es tanzte vor dem Wind, es gehorchte jeder Bewegung des Ruders, schien der drohenden Gefahr zu spotten. –

›Ein tolles Stück!‹ raunte der Steuermann. ›Ein halber Wahnsinn, und dennoch – fünf Minuten solcher Fahrt bringen ihn hindurch.‹

Mir stockte das Blut. Ich konnte kaum sprechen. ›Denken Sie, daß es gelingt, Steuermann?‹ fragte ich.

Ein Schrei von seinen Lippen antwortete mir. Er streckte nur die Hand aus.

Zwei der schwimmenden Ungeheuer waren von rechts und links an das Schiff herangekommen. Wie eine Nußschale lag es zwischen den riesigen Eismassen auf dem Wasser, – nahe und näher rückten die eisenharten, spiegelglatten Wände. – –

›Johannes!‹ rief ich unwillkürlich, obgleich er viel zu weit entfernt war, um meine Stimme hören zu können, ›Johannes!‹ – –

Noch in diesem Augenblick schwebt mir das Entsetzliche vor, als sei es gestern geschehen. Ein Windstoß trieb die Eisberge gegeneinander, ein Krachen wie von stürzenden Welten erschütterte die Luft, das Meer zischte und schlug hohe Wellen, dann – glitten die Massen zur Seite, spielend, als sei nun ihre furchtbare Aufgabe vollbracht. – –

Der Raum zwischen den beiden Eisriesen war leer, nur Trümmer und Splitter bedeckten die Oberfläche des Wassers. – –

Meines unglücklichen Bruders vermessener Schwur hatte sich buchstäblich erfüllt. Er kreuzt bis zum jüngsten Tage zwischen den Eisbergen des Nordmeeres.«


Der Erzähler hatte geendet, und auf seinen Zügen las man, daß wenigstens diese traurige Geschichte nicht erfunden war. Alles schwieg achtungsvoll, um die schmerzliche Erinnerung des Alten ungestört verhallen zu lassen, selbst Robert war stiller und etwas nüchterner geworden. – Mochte auch Kapitän Witt seit einer Reihe von Jahren schon ein Gewohnheitstrinker und Wirtshausläufer sein, – diese Stunde voll Entsetzen und tiefster Erschütterung hatte er wirklich durchlebt, und wer weiß, vielleicht war ja mit dem geliebten älteren Bruder für ihn der Führer und Freund verloren, vielleicht hatte das untergegangene Schiff sein ganzes Erbteil mit sich in den bodenlosen Schlund hinabgezogen und ihn gezwungen, als Kajüttswächter eine neue schwere Laufbahn zu ergreifen.

Die Verhältnisse bestimmen ja nur zu leicht den Menschen. –

Der Alte erhob sich trotz seiner ansehnlichen Leistungen auf dem Gebiete des Grogs dennoch ohne ein Zeichen von Trunkenheit. »Das ist's«, nickte er, »was ich von den übereilten Schwüren sagen wollte. Sie tun niemals gut. Und nun, ihr Herren, – auf Wiedersehen.«

Er ergriff seinen Hut, um sich zu entfernen, – Robert eilte ihm nach. »Kapitän«, bat er, »lassen Sie uns noch eine Strecke Weges miteinander gehen. Ich suche eine Heuer, habe nichts zu versäumen, also möchte ich gern ein wenig plaudern. Wissen Sie kein Schiff für mich?«

Der Alte stand lächelnd still. »Geraden Weges ins Eismeer hinein, nicht wahr?«

»Offen gestanden, ja. Ich habe mir die tropische Sonne auf den Kopf scheinen lassen, habe Palmen rauschen hören und die ganze Pracht des Südens gesehen, – jetzt drängt es mich, den Nordpol kennen zu lernen. Ewiger Schnee, Gebirge von Eis, – das sind Sachen, die nirgends verlockender erscheinen als da, wo man das Gegenteil bereits von Angesicht zu Angesicht gesehen. Bin ich aus dem Eismeer zurück, so mache ich vielleicht eine Landreise, klettere auf die höchsten Gebirge und in die tiefsten Täler, oder – –«

»Ich komme von der sibirischen Küste nie zurück!« ergänzte trocken der Alte.

»Möglich. Aber dann habe ich, bis meine Todesstunde schlug, gelebt, – was ich leben nenne!« versetzte unser Freund.

»Also, um die Sache kurz zu machen, Sie hätten gern eine Heuer als Leichtmatrose auf einem Walfischfahrer?«

»Ja, Kapitän. Aber es soll schwer daran zu kommen sein, wie ich höre.«

Der Alte ging eine Strecke weit neben seinem jugendlichen Begleiter, ohne zu sprechen, dann legte er plötzlich die Hand schwer auf dessen Achsel. »Junge«, sagte er, »wenn das nun alles ein verfluchter Schwindel wäre, wenn die Nordlandfahrer für Geld und gute Worte keine Besatzung zusammenfinden könnten, ja, und wenn Herr Hastedt ein ›Schlepper‹ wäre, ein abgefeimter amerikanischer Gauner, der an dir ein paar Dollar zu verdienen hofft, he? Was würdest du dann sagen?«

Robert schwieg anfänglich vor Erstaunen. »Das verstehe ich nicht«, antwortete er endlich.

»Well, so will ich dir's auseinandersetzen, denn du dauerst mich, um deiner frischen Jugend und Unerfahrenheit willen. Siehst du, kein Matrose heuert gern auf einem Grönlandfahrer, weil die Strapazen der Reise doppelt sind, weil, wenn ein Unglück geschieht, die Küste keinen Schutz bietet, weil sich die Gefahren häufen, Hunger und Frost das Schiff umlauern und der Gewinn vielleicht ganz ausbleibt. Wolltest du alle diesem trotzen, junger Schlingel?«

Robert kämpfte mit sich, ehe er antwortete. Also sein liebenswürdiger Landsmann, Herr Hastedt, hatte ihn gründlich hinters Licht geführt, und er war ihm wie ein erzdummer Junge, ein ganz »Grüner« ins Garn gelaufen? Alles Blut schoß in seine Wangen, der Eigensinn raubte ihm das Nachdenken. Niemand sollte erfahren, daß er getäuscht worden war.

»Ich trotze alle dem!« rief er. »Die Mühen und Gefahren kann ich mir natürlich lebhaft vorstellen, die Kälte und die Beschwerden zwischen starren Eisklumpen lassen sich ohne besonders rege Einbildungskraft denken, aber hochinteressant muß die Sache dennoch sein!«

Der Alte nickte. »Das ist sie auf jeden Fall. Unvergleichlich, unbezahlbar in ihrer Weise, aber kein sicheres Geschäft, nichts Nützliches, außer wenn das Glück besonders günstig ist. Dann freilich regnet es Geld, da die Mannschaft außer ihrer Heuer von vier Dollar monatlich auch ein Sechstel des Reingewinnes zu beanspruchen hat. Im Durchschnitt wird aber der gewöhnliche Matrosenverdienst nicht überschritten, und alle solche Annehmlichkeiten, die das Seeleben anderweitig bietet, fallen weg. – Jetzt überlege dir die Geschichte, du Tollkopf. Schlaf darauf, wie man in Deutschland zu sagen pflegt. Ich habe dir die reine, ungeschminkte Wahrheit berichtet, und was du tust, das tust du auf eigene Rechnung und Gefahr.«

Robert schlug herzhaft in die Hand, welche ihm der Kapitän darbot. »Ich will es!« rief er. »Ihre Schilderungen haben meinen Entschluß unwiderruflich gemacht. Aber vor allen Dingen gehört dazu ein Schiff, das nach Grönland fährt. Wissen Sie ein solches?«

Der Kapitän deutete mit der Rechten auf den Hafen hinaus. »Alle diese schwarzen Schiffe mit hohem Bord und mehreren Booten sind Grönlandsfahrer,« sagte er. »Das dritte in der Reihe wird schon binnen wenigen Tagen die Reise nach dem Eismeer antreten; der Kapitän ist ein persönlicher Bekannter von mir. Jetzt aber will ich mit dem ganzen Plan nichts mehr zu schaffen haben, Bursche. Du bist gerade ein solcher Charakter, wie es mein Bruder war, und – ich mag dich nicht in den Tod schicken.«

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Robert errötete. »In den Tod?« wiederholte er.

»Ja. Wenn von der Wasserseite der dänischen Herzogtümer, aus Holstein oder Schleswig, vor Zeiten die Jugend des Dorfes hinauszog auf den Walfischfang, dann wurde an jedem Sonntag von der Kanzel herab für die Bedrohten gebetet. Jeder Name wurde genannt, für jeden sprach der Geistliche eine Fürbitte, – das erwäge wohl, junger Freund!«

Er nickte und ging dann fort, ohne sich umzusehen. In ihm, dem tiefgesunkenen Gefährten des »Schleppers« von Handwerk, dem Manne, der für freie Zeche in den verachteten Lagerbierkneipen des Matrosenviertels von New York die Gäste unterhielt, – in ihm hatte das hübsche, offene Gesicht seines jungen Landsmannes doch so viel Ehrgefühl wieder erweckt, daß er wenigstens den Sündenlohn verschmähte. Wenn Robert jetzt in das Bierhaus und in Hastedts Gesellschaft zurückkehrte, so war er gewarnt und mußte seine Haut zu Markte tragen.

»Ein aufgeweckter, liebenswürdiger Bursche,« dachte er, »schade um das junge Blut, schade! – Ach, wer wieder siebzehn Jahre alt wäre! – wer noch einmal von vorn anfangen könnte!«

Und kopfschüttelnd lenkte er in den nächsten Keller, um für ein Beefsteak und ein Glas Grog sein Garn wieder weiterzuspinnen.

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