Sophie Wörishöffer
Robert des Schiffsjungen Fahrten und Abenteuer auf der deutschen Handels- und Kriegsflotte
Sophie Wörishöffer

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Viertes Kapitel

Robinsonleben

Die Nacht verging, und die Räuber arbeiteten emsig. Sie schafften von der Ladung so viel heraus, daß gegen Morgen ihre Bark die »Antje-Marie« ins Schlepptau nehmen und das fast leergewordene Fahrzeug mit sich davonführen konnte.

Als die Sonne hoch am Himmel stand, war von dem gestrandeten Schiff, so weit das Auge reichte, nichts zu sehen.

Robert erhob sich und nahm alle seine Kräfte zusammen. Jetzt war er allein, niemand konnte ihm raten oder helfen, niemand hörte ihn, er mochte rufen so oft er wollte. Im Anfang erdrückte ihn der trostlose Gedanke, machte ihn unfähig seine Lage ruhig zu überblicken oder für die nächste Zukunft irgend einen Entschluß zu fassen, dann aber raffte er sich auf, um wenigstens etwas zu genießen. Der Magen verlangte gebieterisch seine Rechte.

Langsamen Schrittes wanderte unser Freund an der Küste dahin. Es war ihm, als könne er dem Meere nicht den Rücken kehren, als sei er ganz verlassen, ganz unglücklich, wenn erst das dichte Gebüsch ihn umgab. Und vielleicht – vielleicht nahte ja auch ein Schiff.

Wie sich der Abgebrannte nicht trennen kann von der Stätte seines einstigen Besitzes, wie der Mensch bei dem plötzlichen Hereinbrechen eines schweren Schicksals nicht zu glauben vermag, daß wirklich das Entsetzliche geschehen, so sträubte sich Robert, die blauen Wellen aus den Augen zu verlieren.

Wer sollte ihn auffinden, wer ihn erlösen aus der Gefangenschaft der weltabgeschiedenen Insel, wenn nicht das Meer und seine Bewohner, die Schiffe?

Er ging weiter und weiter, aber nichts zeigte sich dem suchenden Blick. Die Küste wurde immer klippenreicher, der Pflanzenwuchs spärlicher und der Sand unwegsamer, je weiter er vordrang; auch der Hunger quälte ihn von Viertelstunde zu Viertelstunde stärker, und der Durst vertrocknete seine Kehle. Zahlreiche Möwen kreuzten über dem Wasser in der heißen Luft, Krebse und Krabben bewegten sich am Ufer, sonst war alles öde und totenstill.

Robert fühlte es, er mußte jetzt essen oder er würde ohnmächtig werden. Schnell entschlossen wandte er sich und ging zurück zu jenem ersten Ankerplatz des Bootes, um von dort aus die Stelle zu erreichen, Bild wo er Wasser und Nahrungsmittel finden konnte. Wohnten die Räuber auf dieser Insel und hatten sie die Niederlage der Strandgüter bereits entdeckt, so war alles verloren, aber Robert ergab sich in das Unvermeidliche. Er hatte alle Hoffnung fallen lassen.

Mit brennendem Kopfe beugte er sich über den Quell, welchen er bereits entdeckt hatte, und trank in langen, durstigen Zügen. Neues Leben rieselte durch alle seine Adern. Er wusch erst Gesicht und Hände, dann, von dem Plätschern und Murmeln des klaren Baches verlockt, warf er die leinenen Kleider von sich und sprang ins Wasser, um zu baden.

Es war, als ob das kühle im Schatten undurchdringlicher Gebüsche dahinfließende Naß ihn von einem Teil seiner Sorgen und Befürchtungen befreie. Er schwamm bald auf dem Rücken treibend, bald mit den zahlreichen langbeinigen Wasserspinnen lustig um die Wette, obwohl dabei der Hunger freilich nur immer grimmiger in seinen Eingeweiden zu toben begann. Aber das schadete ja nicht; er besaß Mundvorrat genug, um den knurrenden Gesellen zu befriedigen, und daher gab er sich dem Vergnügen des Badens erst einmal ungestört hin. Dann schüttelte er den Staub aus seinen Kleidern, rieb und reinigte dieselben so gut als möglich und sprang neu gestärkt auf dem gestern bezeichneten Pfade durch das Gebüsch dahin, um zu dem Stapelplatz der Waren zu gelangen.

Etwas schlug ihm aber doch das Herz, als er näher kam. Wenn vor ihm die Räuber eine Rundschau gehalten und alles weggenommen hatten? –

Dann konnte er Melonen essen, Ananas, rohe Krabben und verschiedene kleine Beeren, die an den Gebüschen wuchsen, ebenso die mehlige, süßlich schmeckende Banane, – weiter blieb ihm nichts übrig. Wenn sich der Magen gegen diese Kost sträubte, so kamen Krankheit und Tod und deckten mit schwarzen Schatten alles zu, Vergangenheit und Zukunft.

Er schlich und lauschte, er spähte durch die Zweige, angstvoll und hoffend zugleich.

Gottlob, gottlob, hier war kein Mensch gewesen. Alles lag und stand, wie es gestern die Matrosen übereinander gestapelt hatten; ein tiefer, durch kein Geräusch, keine Lebensnähe irgend einer Art unterbrochener Friede ruhte auf der ganzen Umgebung.

Robert nahm mit erleichtertem Herzen von seiner künftigen Wohnung Besitz. Er mußte sich einrichten, mußte sich der Verhältnisse ganz bewußt werden und wie ein Geizhals den vorhandenen Vorrat zu Rate halten, das fühlte er klar.

Aber freilich, noch hatte es keine Not. Da waren Erbsen, Reis, Bohnen, Pökelfleisch, Speck und ein Haufen von Mehl. Ferner fand er mehrere Angeln, einen Spaten, ein Fäßchen Salz; eine kleine Kiste mit Zündhölzern und Kochgerät jeder Form, also schien für den Magen ausgiebig gesorgt. Bei näherer Umschau entdeckte er noch eine Kiste mit Schiffsbrot, und als seine Zähne tapfer das harte Gebäck zermalmten, wunderte er sich, wie ausgezeichnet es mundete. Ein tüchtiges Stück Speck, eine halbe Ananas und ein Glas Wein vollendeten das sonderbar zusammengesetzte Frühstück, dann stützte unser Freund den Kopf in die Hand und fing an nachzudenken.

Wo mochten jetzt die Kameraden sein? Lebten sie überhaupt noch?

Wahrscheinlich lagen alle diese Hände, welche gestern hier für ihn, den einzig Überlebenden, die Stätte bereitet hatten, jetzt mit Fesseln umwunden tief auf dem Boden des Meeres, wahrscheinlich hatten die rauhen, aber doch meist so gutmütigen warmen Herzen schon längst aufgehört zu schlagen. Sie waren alle dahin, die Männer, in deren Mitte er die Heimat verlassen.

Ganz, ganz allein hatte ihn das Schicksal dem Strande der unbewohnten Insel zugeführt, ganz allein war er zurückgeblieben ohne einen Freund, einen Menschen, mit dem er sprechen konnte. Unwillkürlich öffneten sich bei diesem Gedanken seine Lippen und ein einziges Wort drängte sich aus dem innersten Herzen hervor – – »Pinneberg!«

Fast erschrak er. Kein Ohr, das ihn hörte, kein lebendes Wesen, das ihn verstand. Allein, furchtbar allein in der Wildnis! – –

So hatte er die alten Eltern zurückgelassen, so verließ ihn die Menschheit.

Er sprang auf und trat ins Freie. Krank durfte er nicht werden, dann war alles verloren. Er mußte sich wieder an den Strand begeben und über das endlose Meer hinwegsehen, darin lag seine einzige Rettung. Es graute ihn, so oft er das Gebüsch und die aufgestapelten Vorräte erblickte. Wenn das alles verzehrt war und noch kein Schiff ihn bemerkt hatte, was dann?

Er ergriff eine große rote Wollendecke und wickelte dieselbe zusammen. Zwischen zwei Bäumen am Ufer ausgespannt diente vielleicht diese Flagge als Notzeichen, führte sie ein Schiff an die Küste, welches ihn aufnahm.

Er dachte nicht daran, daß auch die Räuber auf solche Weise sein Versteck finden und ihn plötzlich überfallen konnten. Der Eindruck des Verlassenseins lähmte noch allzusehr die Tätigkeit aller Geisteskräfte. Beladen mit der Decke, einem großen Stück Segeltuch, einer Trosse Garn und etwas Mundvorrat machte er sich auf den Weg, um nach kurzer Abwesenheit den Strand wieder zu erreichen. Das wellenreiche brandende Meer war doch nicht so entsetzlich einsam wie der schweigende, von heißer, regungsloser Luft durchhauchte Wald.

Aber er ging diesmal einen andern Weg. Anstatt sich ganz links zu halten, bog er rechts ab und brauchte etwas mehr Zeit, bevor er an das Ufer gelangte. Hier spülten die Fluten in tiefe Einschnitte des Bodens hinein, und die Gegend wurde mit jedem Schritt entzückender. War dort an der entgegengesetzten Seite der Insel das Meer von großartiger, überwältigender Schönheit, sprudelte und zischte es in ruhelosem Anprall geheimer unterirdischer Kräfte gegen die schaumbespülten Felsbänke und brach donnernd den gewaltigen Wogenschwall an höherbelegener Küste, – so spielte es hier murmelnd und flüsternd, einem stillen träumenden See gleich, an blumenbedeckten Ufern, unter dem Schatten uralter, tief herabhängender Baumzweige, rings umsäumt von grünen Matten und weiten duftenden Blütenfeldern.

Schmale Landzungen liefen zu beiden Seiten, keck und langgestreckt sich dehnend, bis tief in das Meer hinaus, daher war's so still und feierlich am Rande des Wassers, daher verloren sich die letzten Wellen des Ozeans hier unter Blumen zu leisem heimlichem Plätschern.

Robert sah empor. Über dem schmalen Einschnitt, in dessen Tiefe die Fluten so blau und silbern erglänzten, wölbten sich verschlungene Ranken zur Kuppel. Einzelne Sonnenstrahlen durchzitterten das dichte Gewinde, leichter, spielender Süd bewegte die weißen und purpurnen Blüten, Vogelstimmen schmetterten im Chor.

Robert ging leisen Schrittes über den Rasen dahin. Es war ihm wie in einer Kirche, wie damals, als er zu Rellingen, in dem weltabgelegenen kleinen Heimatsdörfchen vor dem Altare stand und feierlich eingesegnet wurde. Der Prediger hatte ihn gefragt, ob er des heutigen Tages eingedenk bleiben und ein guter, wahrhaftiger und ehrlicher Mensch bleiben wolle. –

Sonderbar, auch diese Baumwipfel, diese hüpfenden Sonnenstrahlen, diese Urwaldsstille schienen dasselbe zu fragen. Robert legte das Gesicht an den schlanken Stamm einer Palme und umfaßte das Holz, als sei es ein lebendes fühlendes Wesen gleich ihm. Er dachte an Mohr, an den toten geliebten Freund, dessen Auge und mildes Lächeln er im Traum und im Wachen vor sich sah. Armer, alter Mann, wie glücklich war dein Sterben gegen das deiner gemordeten Kameraden!

Robert erinnerte sich so lebhaft des Toten, daß er ihn in der Tat zu erblicken glaubte. Dort unten, wo die Schatten tiefer fielen, im grünen Blattwerk der Schlingpflanzen, von Orangen und Palmen überragt – – – war es nicht des alten Freundes ernstes und doch so liebes Antlitz, war es nicht Mohr, der da zu schlummern schien, friedlich, still nach vollbrachtem Tagewerk? – Roberts Kniee zitterten. Er bog das Gebüsch zur Seite und schlich näher, pochenden Herzens, leise als beträte er einen Tempel.

Seine Hände falteten sich unbewußt. Der Sonnenstrahl über ihm im Laubgewinde durchdrang golden und rosig das Grün, er glitt wie eine kosende Hand über das weiße Haar und die Stirn des Toten. – –

Heller und heller verbreitete sich sein Schimmer. Einer Verklärung gleich umleuchtete er das Haupt des Dulders, dessen tiefe innige Reue ihm längst den Sieg, den Frieden erstritten.

Ja, es war Mohr, dessen Leiche der Tod an die Muttererde versöhnend und verzeihend zurückgab, nachdem der Lebende in freiwilliger Selbstverbannung nur einer nie endenden Buße und Reue sich gewidmet, nachdem er um seiner Sünde willen die Menschen geflohen, ein neuer Kain, dessen eigenes Bewußtsein ihn gerichtet.

Robert trat ganz nahe an die Leiche heran und zog dann dieselbe mit Aufbietung aller seiner Kräfte völlig auf den Strand. Er sah voll Rührung in das stille Antlitz des Verlornen; ein Gefühl, als sei er nicht mehr so ganz verlassen und allein, bemächtigte sich seines Herzens. Nun konnte er von dem einstigen Freunde Abschied nehmen, nun wußte er, wohin die letzten irdischen Überreste desselben gekommen, das tat ihm wohl und griff zugleich wie mit gewaltiger Hand in die tiefsten Tiefen der Seele.

Robert hatte nie eine Leiche gesehen. Er kannte nur von Hörensagen jenes Etwas, das uns unwiderstehlich packt, sobald das stillgewordene, bleiche Antlitz unseren Blicken begegnet. Es ist eine ernste, eindringliche Sprache, die der stumme Mund dem Lebenden predigt, es ist erschütternd und läuternd zugleich, den Menschen, welchen wir herzlich und innig geliebt haben, nun so regungslos, so kalt und tot vor uns daliegen zu sehen.

Robert handelte wie unter dem Einfluß einer höheren zwingenden Gewalt. Er wusch und reinigte zuerst das Gesicht seines alten Freundes von Blättern und Fasernwerk, dann legte er den Kopf auf ein Polster aus dichtem blühendem Moos und faltete des Toten Hände.

Obwohl er nie mit angesehen, wie man eine Leiche bettet, so sagte ihm doch das natürliche Gefühl, was hier im Augenblick passend und der Würde des Toten angemessen sei.

Nach dreißig Jahren zum erstenmal wieder am Lande, auf dem festen Boden der Erde, die ihn genährt und erzogen, aber nur – um ein Grab zu finden.

Des alten Mannes Geschichte zog jetzt erst ihrem geistigen Inhalt nach an den Blicken des Knaben vorüber. Bisher hatte zu viel Wirkliches, Gegenwärtiges seine Aufmerksamkeit und seine Tätigkeit abgelenkt; er hatte den gebieterischen Anforderungen des Augenblickes nachleben müssen und konnte daher die schrecklich unterbrochene Erzählung seines Freundes nicht voll in sich aufnehmen. Jetzt erst kam ihm die Erinnerung und mit ihr das Verständnis ganz zurück. Was mochte Mohr gelitten haben!

Er streichelte das eiskalte Gesicht, er sprach in Gedanken mit dem teueren alten Manne und vergaß während dieser stillen Feier des letzten Abschiedes, daß es eine pfadlose, unbewohnte Insel im Weltmeer war, wo er an der Seite des Toten so ganz allein in der tropischen Schönheit der Natur dasaß und Träne um Träne aus den Augen wischte.

Er verstand jetzt, weshalb sich der Alte zu ihm so besonders hingezogen gefühlt haben mochte, er sah mit hellerem Blick in seine und in die eigene Vergangenheit. Ernster wurden die Gedanken, welche ihn bewegten, immer klarer die Erkenntnis seines Fehltrittes.

Vielleicht sah er Vater und Mutter niemals auf Erden wieder, vielleicht war der Wind, welcher spielend die Zweige und das Wasser bewegte, auch über ihre Gräber dahingeweht, – sie hatten es nicht vergessen, nicht ertragen können, daß ihr einziges Kind so lieblos gehandelt. Und dann – ja dann war er ihr Mörder, wie der alte Mann, dem ein einziger Augenblick der Leidenschaft die Waffe zum tödlichen Schlage in die Hand gedrückt.

Stille um ihn herum, und so lautes, so angstvolles Pochen in der eigenen Brust! – er atmete kaum. Der Gedanke war schrecklich.

Und ohne zu wissen was er tat, ohne zu wollen oder zu überlegen, beugte Robert die Kniee. Sein Herz suchte den, der nie das Vaterauge schließt, und schluchzend betete er: »O Gott im Himmel, gib, daß das nicht geschehe!«


Die Sonne stand schon im Zenith, – es wurde Zeit, das schwierige Werk zu beginnen. Robert entkleidete mit leiser Hand den Toten, wusch ihn und hüllte ihn in die Tücher, welche er zu ganz anderem Zweck mitgebracht. Dann ging er auf kürzestem Wege zu seiner Niederlassung und holte einen Spaten, Bild um das Grab zu graben.

Die Arbeit war nicht leicht, aber Robert hätte um keinen Preis den entseelten Körper seines alten Freundes unbeerdigt gelassen. Er grub und grub, bis sich das Tagesgestirn neigte und bis ihm die Hände bluteten, dann legte er mit großer Anstrengung, so gut es ging, die Leiche in ihr letztes Bett. Das Grauen mutig überwindend, sprang er in die Grube hinein und brachte den Körper in die richtige Lage. Noch einmal suchte seine Hand unter den verhüllenden Decken die eiskalte Rechte des Toten. »Schlafe wohl, Mohr, ruhe sanft, lieber alter Freund!«

Und dann begann er das Grab zu füllen.

Kein Gefolge betete und kein Priester sprach an der stillen Ruhestätte unter rauschenden Palmen und Mangos, aber die letzten Sonnenstrahlen spielten und glitten bis in die finstere Tiefe und ein Chor von Waldvögeln sang in den Zweigen.

Immer mehr umhüllte Dämmerung die Stätte, immer leiser wurde das Singen, bis endlich nur noch ein einziger Vogel, von Blättern verborgen, mit seiner hellen Stimme das Geräusch der fallenden Erdschollen begleitete.

Robert hielt zuweilen inne und horchte. Brachte ihm der kleine gefiederte Bote eine Antwort aus Himmels Höhen? – – Es klang so jubelnd, so siegesfroh und innig, es atmete solch tiefen Frieden, solche stille wehmütige Ruhe.

Schaufel nach Schaufel fiel die Erde in das Grab, und endlich war es gefüllt. Robert wünschte sehnlichst, irgend ein Andenken, ein Erinnerungszeichen anzubringen, aber nach längerem Überlegen ließ er den Plan fallen. Kamen die Räuber an den Strand, so konnten sie durch den Anblick des frischen Grabes sehr leicht veranlaßt werden, die ganze Insel zu durchsuchen, und was noch weit schlimmer war, sie konnten das Grab selbst durchwühlen, um sein Geheimnis zu erforschen. Nein, ein Kreuz durfte Robert nicht befestigen, er sah es ein.

Seine Füße traten die aufgeworfene Erde herunter und dann legte er Moos auf die Stelle. Für ihn selbst bedurfte es ja keines Erkennungszeichens.

Noch immer sang in den Orangenblättern der kleine Tröster. Robert konnte sich nur mit Widerstreben entschließen, den Heimweg anzutreten, aber doch fühlte er, daß diese ernsten Stunden in ihm eine Ruhe, eine Sicherheit gereift, die er vordem nicht besessen. Es galt, dem Sturm die Stirn zu bieten, und er wollte nicht zagen, nicht wanken.

Mit einem letzten Abschiedsblick, einem Gruß von Seele zu Seele verließ er die geweihte Stätte. Es rauschte in den Zweigen, an ihm vorüber flog ein Vogel und stieg singend höher und höher empor in die stille Abendluft.

Robert übersetzte die süßen Klänge in zwei Silben: Ade! – Ade! –

Er ging langsam durch das Gebüsch nach Hause, oft nur mit Mühe die eingeknickten oder quer über den Weg gelegten Zweige wiederfindend, an denen er sich vorwärts tastete! Es war fast dunkel, als er im Hintergrunde der Höhle aus den vorrätigen Wolldecken und Segeln ein Lager herstellte und sich darauf ausstreckte, um sogleich in tiefen Schlummer zu versinken.

Am folgenden Morgen begann er sich einzurichten und einen festen Tagesplan zu entwerfen. Der Müßiggang war ihm ebensowohl ein Greuel, als anderseits auch die Arbeiten, welche ihm zunächst oblagen, ganz unerläßlich waren, daher stand er schon beizeiten auf und machte sich daran, erst einmal Ordnung zu schaffen. Selbst der drückende Ernst seiner Lage, die Befürchtungen und Sorgen, welche ihn von allen Seiten bestürmten, konnten es den gut erzogenen Knaben nicht vergessen lassen, daß die ganze kleine Höhle einem Trödelmarkt glich, und daß er wie ein Seiltänzer hüpfen und springen mußte, um von einer Stelle zur andern zu gelangen. Das ging nicht. In solcher Umgebung würde ja der Kleinmut notwendig die Seele unterjocht und gänzlicher Trübsinn auch die Gesundheit untergraben haben. Bevor er seine Lage überdachte und seinen Tag, den Verhältnissen gemäß, einteilte, wollte er erst das Wohnhaus gemütlich herrichten, erst Ordnung schaffen und aufräumen. Wie lange er die Gastfreundschaft dieser Insel noch in Anspruch nehmen mußte, das ließ sich ja nicht voraussehen, vielleicht war es für lange, lange Zeit, und so gut er konnte, dachte sich der Knabe auf den schlimmsten Fall vorzubereiten.

Mohrs Beispiel stand in hellem Glanze vor seiner Seele, Was hatte nicht dieser unglückliche, immer einsame, immer seinen düsteren Erinnerungen überlassene Mann mit wahrhaft unerschütterlichem Mute so lange ertragen.

Robert sprach in Gedanken mit ihm. Er wußte, was Mohr gesagt haben würde. »Du bist einmal in die schwierige Lage ohne dein Verschulden hineingeraten, mein Junge, nun ertrage das Übel wie ein Mann und kehre dir sorgfältig die beste Seite nach oben. Darin liegt der Schwerpunkt aller Lebensweisheit, die sicherste und untrüglichste Anwartschaft auf Glück und Gelingen. Rüttele nicht fortwährend an den Verhältnissen, in der eitlen Hoffnung, dir dieselben dienstbar zu machen, sondern sei im Gegenteil bemüht, dich selbst mit ganzer Seele dem Bestehenden anzupassen, – dann wird der Sieg nicht ausbleiben.«

Mohr hatte während so mancher Freiwache, wenn die übrigen würfelten und Karten spielten, mit dem Knaben über dergleichen ernste Fragen gesprochen, hatte so manches goldene Korn der Erfahrung und des Nachdenkens unvermerkt in Roberts empfängliche Seele gepflanzt, und diese Aussaat trug schon jetzt ihre Früchte. Ein kurzer Rundblick genügte, um den jungen Einsiedler über seine nächsten Pflichten ins Klare zu bringen. Nachdem er gefrühstückt und für das spätere Mittagsessen ein gehöriges Stück Pökelfleisch in kaltes Wasser gelegt, begann er die Kisten mit Manufakturwaren auszupacken und von den Brettern derselben eine feste Wand herzustellen. Nägel und anderes Gerät besaß er in Fülle, ebenso Bindgarn und Segeltuch, daher war die Sache gar nicht so schwierig, namentlich weil weder Kälte noch kräftige Feinde von dem inneren Raume ausgeschlossen zu werden brauchten, sondern nur der Regen und allenfalls die Insekten. Robert zimmerte unverdrossen und übernagelte alle Fugen Bild mit langen Streifen geteerten Segeltuchs; dann machte er auf gleiche Weise eine Tür, die indessen nur kriechend zu passieren war und außerordentlich vorsichtig behandelt werden mußte, weil ihr der nötige Eisenbeschlag fehlte.

Vor Mittag hatte er diese Arbeit beendet und konnte sich nun als Besitzer eines kleinen, lichtlosen, aber gegen Wind und Wetter geschützten Raumes betrachten.

Sinnend und ausruhend saß er vor dem brodelnden Kochtopfe, legte sein Gesicht in beide Hände und wartete auf das Fertigwerden des selbstbereiteten Mahles, über das er sich dann mit regem Appetite hermachte. Nachdem er gegessen, wählte er sorgfältig aus dem ganzen Vorrat dasjenige heraus, was gegen etwaige Feuchtigkeit zunächst und am notwendigsten geschützt werden mußte, nämlich Waffen und Pulver, die hochwichtigen Zündhölzer, das Salz nebst Zucker und Kaffee. Alles dieses brachte er in die Höhle, bedeckte es zum Überfluß mit mehreren Segeltüchern und baute dann für die Lebensmittel einen zweiten kleineren Verschlag, den er mit seinen Vorräten gänzlich anfüllte und außerdem mittels großer Steine für etwaige Angriffe hungriger Tiere unzugänglich machte. Das Fleisch in der Tonne bedeckte er mit einem Haufen frischer grüner Zweige, um es möglichst lange genießbar zu erhalten. So war gegen Abend für das Unerläßlichste einstweilen gesorgt, und als sich Robert noch aus Moos und Decken ein prachtvolles Lager hergestellt, setzte er sich vor seiner Hütte auf eine übrig gebliebene Kiste und überließ sich seinen Gedanken.

Er wollte fortan die erste Hälfte jedes Tages den häuslichen Arbeiten widmen und während der zweiten am Meeresufer Ausguck halten oder die Insel ringsumher untersuchen, um zu erkennen, wie groß sie sei, welche Früchte sie trug und was sich von der Jagd erwarten ließ, ebenso wollte er fischen und Krebse fangen, da doch sein Fleischvorrat schon sehr bald der Hitze erliegen würde. Er untersuchte auch das Kistchen mit Pulver und Blei und überzeugte sich, daß für wenigstens hundert Schüsse gesorgt war.

Nur eins beunruhigte ihn. Sollte er am Strande ein Notsignal befestigen oder nicht? – Die spanischen Bukaniere, ohne Zweifel Räuber von Handwerk, die unter der Maske harmloser Fischer die gefährlichsten Eigenschaften verbargen, diese kecken Frevler wohnten jedenfalls in der Nähe und mußten schon sehr bald seine Flagge bemerken. Was dann geschah, mochte Gott wissen, oder vielmehr, es ließ sich mit ziemlicher Gewißheit voraussehen. Robert wurde ohne weiteres den gemordeten Kameraden von der »Antje- Marie« in die Ewigkeit nachgeschickt.

Und doch war für ihn auch wieder dieses gefährliche Notzeichen die einzige Hoffnung, von der Insel erlöst zu werden. Hier landete kein Schiff, hierher kam niemand freiwillig, das wußte er nur allzu gewiß. Freilich, wenn er eine der höchsten Königspalmen erkletterte – und er hatte es bereits versucht, es gab schlanke Stämme, die er umfassen konnte – dann ließ sich das Zeichen noch immer geben, sobald ein Schiff in die Nähe kam. Es fanden sich unter den Waffen zwei sechsläufige Revolver, mittels derer jedenfalls die Aufmerksamkeit vorüberfahrender Schiffer leicht zu erwecken war; das tröstete ihn sehr.

Nachdem er den Entschluß, von einer Notflagge abzusehen, einmal in sich festgestellt hatte, wurde ihm leichter ums Herz. Er wußte nun, was jeder Tag bringen werde, und nahm sich vor, schon morgen einen größeren Ausflug zu machen. Vorher aber wählte er in nächster Nähe seiner Hütte einen jungen Baum mit schlankem Stamme, und in diesen schnitt er zwei tiefe Kerben, um zu wissen und täglich festzustellen, wie lange er auf der Insel zugebracht. Einen anderen als diesen von Robinson Crusoe Bild erfundenen Kalender besaß er ja nicht, aber es ging auch mit den Kerben ganz gut. Kam kein Schiff bevor die Narben verwachsen waren, dann wehte längst der schwüle Tropenwind über die Stelle, wo er gestorben. – –

Während der Nacht fiel ein starker Regen, der unseren jungen Freund ermahnte, sich einen größeren Vorrat von Brennholz ins Trockene zu bringen. Er sammelte alle Splitter der gestrigen Zimmerarbeit und verwendete außerdem einen Teil des Vormittags, um aus dem Innern der dichten undurchdringlichen Gebüsche mit Beihilfe seiner Axt das trockene Holz hervorzuziehen. Nachdem er in dieser Weise einen hübschen Vorrat unter das Felsendach gebracht, baute er daneben die Küche oder vielmehr den Herd aus Steinen und Felstrümmern, die am Ufer reichlich vorhanden waren. Der Bach gab köstliches frisches Wasser; Bananen und Ananas wucherten überall, er brauchte daher lange Zeit für seinen Unterhalt keine Sorge zu tragen.

Indem er es auf den folgenden Tag verschob, die kostbaren Seidenstoffe und Teppiche des Kapitäns wieder zu verpacken, stapelte er fürs erste nur die Kisten mit Wein und Champagner draußen vor der Höhle übereinander, da ja diese durch den Regen nicht verdorben werden konnten, und dann traf er die Vorbereitungen zu seinem beabsichtigten größeren Ausfluge um die Insel.

Schwere, bis an die Kniee reichende Seestiefel hatten die Matrosen für alle Fälle mit hierhergebracht, aber er besaß nichts, was einer Tasche oder einem bequemen Korbe auch nur im mindesten ähnlich gesehen hätte. Seinen Mundvorrat mußte er daher in ein Bündel knoten und dieses auf den Rücken befestigen. Er steckte eine Pistole in die Brusttasche, ein kleines Handbeil in den Gürtel und schnitt sich aus dem Gebüsch einen tüchtigen Knüttel. So ausgerüstet trat er seine Entdeckungsreise an, diesmal nach der entgegengesetzten Seite der Insel, d.h. über den Punkt der kleinen Ansiedelung hinaus.

Er fand, daß das Unterholz dichter und dichter, der Pflanzenwuchs immer üppiger wurde, je weiter er sich von dem Strande entfernte. Die Landschaft prangte im reichsten Schmuck tropischer Schönheit, während eine Unzahl von buntgefiederten Singvögeln oft in gänzlicher Unkenntnis der Gefahr so traulich nahe herankam, daß Robert glaubte, die Tierchen mit der Hand greifen zu können.

Er bezeichnete rechts und links durch tüchtige Hiebe seinen Weg und fühlte ordentlich das Verlangen nach einem kleinen Abenteuer. Die Pflanzen, welche er sah, interessierten ihn alle höchlichst, da er ja aus der Naturgeschichte ihre Abzeichen genau kannte und wußte, daß diese breitblätterige, zu Tausenden den Boden bedeckende Staude der Tabak sei, und daß dort die Indigopflanze blühte, und weiterhin der Kakao. Er pflückte die reifen Orangen vom Baume, bewunderte die Schoten des grünen Kaffees und machte endlich bei einer besonders schönen Stelle Halt, um ein wenig zu rasten und etwas Schiffszwieback zu essen. War er nicht in diesem Augenblick ein zweiter Christoph Kolumbus, der ja Cuba vor Zeiten entdeckte und mit seiner widerstrebenden Mannschaft durchforschte? – Wie schnell sich doch im Menschenleben die Verhältnisse ändern! Vor kaum vier Monaten noch in dem kleinen unbekannten Pinneberg ein kleiner unbekannter Schneiderlehrling, und nun ein Ansiedler auf dem klassischen Boden, der einst des unglücklichen Genuesen Namen unsterblich gemacht hatte. Roberts Herz schlug höher. Wie oft, ach wie oft hatte er sich in die Lage seines Lieblingshelden so lebhaft hineingedacht, daß er Schritt um Schritt den Wanderzügen desselben folgte und träumend miterlebte, was jener gelitten. Jetzt stand er auf dem Fleck Erde, den Kolumbus betreten, jetzt blühte um ihn herum die südliche Pracht welche er in Gedanken so oft gesehen, jetzt rauschten Palmen über seinem Haupte und dehnten sich weite Ebenen, in deren Tiefe vielleicht der stolze tatkräftige Entdecker mit dem Unverstande, der Dummheit, mit allen Feinden der äußeren Natur und des Menschentrotzes gerungen hatte.

War es nicht auch einiger Entbehrungen, einiger Sorgen und Kämpfe wert, sich für das ganze künftige Leben eine solche Erinnerung bewahrt zu haben? – Gewiß, er wollte sich mutig zeigen und wenn es das Schicksal beschlossen hatte, auch mutig sterben.

In fast heiterer Stimmung setzte er seinen Weg fort. Was jetzt den Boden bedeckte, war Zuckerrohr, und daher schien einige Vorsicht geboten. In der Nähe dieser Pflanze, die auf ganz trockenen Feldern nicht so leicht wild wächst, befindet sich meistens ein Sumpf, ein stehendes oder verschlammtes Wasser irgend einer Art, und diese Bayous, wie sie der Amerikaner zu nennen pflegt, beherbergen das Krokodil, den fürchterlichen Feind des Menschen.

Robert wußte, daß auf den Antillen das Orinokokrokodil zu Hause ist und daß dieses in der Umgebung seines sumpfigen Aufenthaltes kleine Streifzüge zu machen liebt, – Vergnügungen, denen nicht selten sogar Menschen und größere Haustiere zum Opfer fallen; er ging daher Schritt um Schritt weiter und suchte erst einmal das Wasser, welches er in nächster Nähe vermutete. Wirklich sollte ihn die gehegte Erwartung nicht täuschen. Zu seiner Rechten dehnte sich ein schwarzer, mit Schlamm und Moos eingefaßter See, dessen Oberfläche träge im Sonnenschein dalag und grünlich überzogen, von Wasserpflanzen bedeckt, einen widerwärtigen Modergeruch aushauchte.

Frösche quakten in der Tiefe der überhängenden Dickichte, kleine Schlangen glitten wie blitzende Streifen durch das Moos, und die lästigen Moskitos waren hier zahlreicher als an irgend einem anderen Punkte der Insel.

Robert ging weiter, jetzt den Rand des verschlammten Sees als Richtschnur nehmend und sorgfältig die Umgebung musternd. Nur zuweilen stand zwischen den Stämmen des Zuckerrohres ein einzelner Baum, sonst war die Gegend flach, obwohl nicht minder schön als der Wald. Es blühte in allen Farben, namentlich am Rande des Sumpfes, wo purpurne Blüten an langen Ranken auf dem Boden dahinkrochen und zu dem eintönigen Grau des trockenen Schlammes einen lebhaften Gegensatz bildeten.

Auch Wasservögel schienen hier ihre Heimat gesucht zu haben; wenigstens sah Robert einige ganz junge wollige Tierchen durch das Gewirre von Pflanzenresten, dürrem Reisig und lebenden Gewächsen behend dahinschlüpfen.

Robert ließ sich leise auf die Kniee nieder. Wie niedlich wäre es gewesen, in der Höhle, wo er so ganz allein lebte, einen kleinen Kameraden zu besitzen, ein Vögelchen, das nach und nach vertraulich wurde, aus seiner Hand fraß und auf seine Stimme hörte. Er konnte ihm aus einer der Kisten ein Wohnhäuschen herstellen, konnte es täglich mit Würmern und Brotkrumen füttern.

Das Verlangen beherrschte ihn vollständig. Er beugte sich über den Rand des Sumpfes und streckte behutsam die Hand aus ...

Hinter ihm ertönte in diesem Augenblick ein zischender Laut, halb Schnaufen, halb wie das hörbare Schnarchen eines schlafenden Hundes. Die Gebüsche krachten leise.

Robert fuhr auf, als habe ihn ein Schuß getroffen. Er drehte sich gedankenschnell nach jener Stelle, von wo der Laut gekommen – –

Hinter ihm, kaum zwei Schritte weit entfernt, lag am Boden zwischen den Zuckerrohrpflanzen ein Krokodil von etwa zwölf Fuß Länge und mit aufgesperrtem Rachen, dessen natürliche Häßlichkeit noch durch die kleinen raublustigen Augen mit ihren drei übereinander befindlichen Lidern bedeutend verstärkt wurde.

Das Tier schoß im gleichen Moment vorwärts, als Robert, dessen Geistesgegenwart ihn die Gefahr der Lage vollständig überblicken ließ, einen Seitensprung machte. Er wußte, daß die Krokodile am Lande feige und unbehilflich sind, namentlich daß sie sich, des kurzen Halses wegen, nur sehr schwer zu drehen vermögen, aber dennoch blieb immerhin seine Lage bedenklich genug, da ihn zur Rechten der Sumpf am Entrinnen verhinderte, und zur Linken das dichtstehende Zuckerrohr. Ohne die Blicke von seinem greulichen Widersacher zu entfernen, arbeitete er sich rückwärts in das Gebüsch hinein, unwillkürlich seinen Knüttel wie zum Schütze vorstreckend, wobei ihm Hände und Kleider nicht wenig zerfetzt wurden, und wohin ihm die Bestie so schnell als es ihre kurzen Beine erlaubten watschelnd folgte. Auf freier Bahn wäre es unserem Freunde ein Leichtes gewesen, durch eilige Flucht der Gefahr zu entrinnen, ebenso hätte er auch schießen können, wenn nur die Pistole nicht vorher erst hätte geladen werden müssen; dazu aber blieb ihm keine Zeit.

So lange seine Kräfte vorhielten ging alles gut, als jedoch die Stamme des Zuckerrohres anfingen, stärker und umfangreicher zu werden, als sie dem Andrängen seiner Schultern nicht selten einen unbesiegbaren Widerstand entgegensetzten, begann sich die Entfernung zwischen ihm und dem Krokodil langsam zu verringern. Er fühlte, wie sich kalter Schweiß auf seiner Stirn sammelte und wie ihm die Füße den Dienst versagten.

Hätte er nur einen Baum erreichen können! Etwas Mundvorrat, Schiffszwieback und Fleisch besaß er noch, auch die Pistole, um das Tier zu erschrecken, – er mußte also vielleicht die Nacht in den stachlichen Zweigen des Baumes verbringen und das Krokodil auf diese Weise aushungern, indem er es zwang, andere Beute zu suchen. Aber freilich, noch war kein rettender Stamm in der Nähe. – –

Es begann vor seinen Blicken zu kreisen, sich rot zu färben und in verschwommenen Umrissen zu erscheinen. Seine Schläfen klopften, und in seinen Ohren klang es wie das Brausen des empörten Meeres. – –

Es geht zu Ende! dachte er. Gott im Himmel, erbarme dich meiner, ich kann nicht mehr vorwärts! – –

Das Schnaufen des Raubtieres erklang in seiner unmittelbaren Nähe, er sah kaum noch deutlich, was um ihn herum vorging, da – stieß er plötzlich mit dem Rücken gegen einen Baumstamm und jauchzte laut auf vor Freude.

Den Stock, welchen er immer noch unwillkürlich festgehalten hatte, mit Aufbietung seiner letzten Kräfte dem Untier in den geöffneten Rachen schleudernd, flog er, nur zwei Schritt vor seinem Verfolger, blitzschnell in die Zweige des Mango hinauf. Es war zu seinem Glück ein uralter Baum, dessen Äste, bis tief zum Boden herabreichend, die nötige Stärke besaßen, um ihn tragen zu können. Seine Hände bluteten, seine Kleider hingen in Fetzen herab und seine Mütze lag unten zwischen dem Zuckerrohr, aber er selbst befand sich vorläufig in Sicherheit.

Mit beiden Armen den Stamm umklammernd, schloß er die Augen und ließ erst seine Brust wieder zu ruhigem Atmen zurückkehren, bevor er sich nach dem getäuschten Tier umsah. Eine Frucht des Mangobaumes, die unmittelbar in der Nähe hing und deren Saft er begierig einsog, brachte in sein heißes Blut einige Abkühlung. Er trocknete sich die Stirn und blickte hinab. Das Krokodil lag neben dem Baum.

Robert öffnete die Jacke und ließ den Wind unter das schweißdurchnäßte Wollhemd dringen, er glaubte fast ersticken zu müssen, obgleich jetzt die hauptsächlichste Gefahr vorüber war. Das Krokodil blieb vielleicht zufällig in der Nähe, doch jagte es nicht mit Überlegung, wie andere am Lande lebende Raubtiere, sondern zog sich in seinen Sumpf zurück, wenn es das Opfer nicht mehr sah. Wenigstens erinnerte sich Robert keiner anders lautenden Erzählung von den Eigenschaften dieser Bestie, daher hoffte er, daß sich der schwerfällige Feind jetzt nach kurzer Rast auf die Beine machen werde.

Von oben herab zu schießen wäre völlig nutzlos gewesen, da eine Kugel an dem Panzer des Tieres abprallen würde wie an glattem Stahl. Nur wenn der Schuß in das Auge traf, konnte er töten.

Viertelstunde auf Viertelstunde verrann, die riesige Eidechse rührte sich nicht vom Fleck. Sei es aus Absicht, sei es aus Zufall, die träge, riesige Masse blieb in guter Ruhe unter dem Baume liegen und ließ sich die heißen Sonnenstrahlen auf den Kopf scheinen.

Robert fühlte, daß die knorrigen Äste des Baumes keineswegs ein angenehmes Ruhekissen waren und daß seine Glieder anfingen zu schmerzen. Er zog die Pistole hervor, lud sie und drückte ab, dem Feinde gerade auf den Rücken, aber ebenso gut hätte er ein paar Blätter hinunterwerfen können. Das Tier nahm von dem Knall und von der Kugel durchaus keine Notiz.

Robert begann zu klettern, um wenigstens nicht fortwährend von den Baumzweigen gedrückt zu werden. Er schwang sich in die höchste erreichbare Spitze und bombardierte das Tier mit einer wahren Flut von harten, halbreifen Früchten, die er ihm alle geschickt auf den Kopf warf, aber ohne die gehoffte Wirkung zu erzielen. Der Schlammbewohner beachtete ihn beharrlich nicht.

Robert mußte sich mit dem Gedanken, hier für die Nacht Quartier zu nehmen, endlich wohl oder übel befreunden. Nur mit dem Schlafen sah es übel aus, da er nichts besaß, um sich festzubinden. Aber diese Nacht konnte ja nicht ewig dauern, also frisch dem Ungemach die Stirn geboten. Er zog seinen Mundvorrat aus dem Tuch hervor und fand den Zwieback als eine Art von Pulver, das Fleisch aber plattgedrückt wie einen Pfannenkuchen. Jetzt lachte er laut. Seine Berührungen mit den Stämmen des Zuckerrohres hatten die Verwüstung angerichtet und von dem ganzen Mundvorrat war nur sehr wenig in genießbarem Zustande erhalten. Er aß die größten Brocken und das Beste vom Fleisch, um dann den Rest auf die Schnauze des Belagerers zu schütten.

Dieser schien zu schlafen, er rührte kein Glied.

Und so kam die Nacht heran. Starker rauschte der Wind in den Palmen und Mangos, dunkler und immer dunkler wurde es ringsumher, ein leiser Regen fiel auf die dichten Blätter und tröpfelte dann mit hörbarem Fall zu Boden – Robert war nun ein Gefangener, der an Flucht nicht mehr denken durfte.

Er nahm das Tuch, in welchem er bisher den Mundvorrat getragen hatte, und prüfte dessen Stärke. Dann band er wenigstens einen Arm an den nächsten Zweig, um durch den Fall, wenn er etwa dennoch einschlafen sollte, rechtzeitig geweckt zu werden. So erwartete er die Nacht und so senkte sie sich tiefer und immer tiefer herab. Die Regenwolken verdeckten den Mond, Finsternis hüllte mit schwarzem Gewände alle Gegenstände in ihre undurchdringlichen Schatten, nur die Stimmen der Natur erfüllten zuweilen den schweigenden Wald. Ein Klatschen des Wassers, ein vorüberhuschender Vogel, ein Knistern und Brechen im Unterholz oder gar ein leichter, schnell erstickter Angstschrei, das war alles, was Robert hörte.

Er dachte an Pinneberg, an die Eltern und an Mohr, seinen lieben alten Freund, dessen Grab er morgen mit dem frühesten besuchen wollte. Das Geld, welches der sonderbare Mann während eines halben Menschenlebens zusammengespart und ihm selbst vermacht hatte, war mit allem übrigen von den Räubern gestohlen worden, Robert konnte also nicht mehr daran denken, sogleich nach Hause zu reisen und sich mit den Eltern zu versöhnen. Sollte er als Bettler, ohne einen Groschen im Besitz, ohne Kleider oder irgend etwas, das sein war, wieder in das Vaterhaus zurückkehren und bitten: Nehmet mich auf, ich bin hungrig und komme, um von euch Brot zu erhalten?

Nein, dagegen sträubte sich sein Stolz. Er wollte vom nächsten Hafen aus einen langen reuigen Brief schreiben, wollte alles erzählen, was er erlebt hatte, namentlich diese letzte Gefangenschaft auf der verödeten Insel und den Verlust des Geldes, – damit mußten sich die Eltern vor der Hand begnügen. Er dachte so lebhaft an die Heimat, an das kleine niedere Wohnzimmer und die sauberen Möbel, daß er fast glaubte, alle diese Dinge vor sich zu sehen. War es das Rauschen des Regens, so stetig wiederkehrend und eintönig, oder sprach dort seine alte Mutter zu ihm? Ja gewiß, sie tröstete ihn des Schmerzes wegen, der seine Glieder quälte, sie legte die Hand auf ihres Sohnes Stirn und flüsterte Worte voll Liebe.

Es wunderte ihn, daß sie so plötzlich hier auf der entlegenen Insel bei ihm stand, er begriff nicht, wie sie den Argusaugen der Räuber entgangen war und daß ihr das Krokodil kein Leides getan, er wußte auch, wie notwendig es sei zu wachen und sich das volle Bewußtsein zu erhalten, aber trotzdem konnte er doch die Liebkosungen seiner Mutter zurückgeben und den Kopf an ihre Brust lehnen, wie er es als Kind so oft getan.

»Mutter,« flüsterte er, »der Vater irrt sich, wenn er meint, daß ich euch nicht lieb habe, gewiß, er irrt sich. Aber ich wollte ja so gern hinaus in die weite Welt – – das war es.«

Und in den Blättern spielte der Wind, rauschte der Regen, – Robert hörte, wie seine alte Mutter leise sagte: »Wir haben dir alles, alles vergeben!« – –

 

Die Sonne schien hell und lachend auf sein erstauntes Gesicht herab, als Robert am folgenden Morgen erwachte. Er blickte um sich, steif am ganzen Körper vor Schmerz, aber neugestärkt durch den festen, gesunden Schlaf von wenigstens fünf Stunden. Wie der Blitz durchzuckte ihn die Erinnerung an das letzte Erlebnis seines wechselreichen Daseins, er sah durch die Zweige herab auf den Boden und prüfte sorgfältig die Umgebung.

Das Krokodil war verschwunden.

Unser Freund atmete tief auf. Jetzt galt es, den günstigen Moment zu benutzen und schleunigst Fersengeld zu geben, bevor der Feind möglicherweise wiederkehrte. Er bewohnte höchst wahrscheinlich den Sumpf zur Linken und konnte sich zu einem Morgenspaziergang veranlaßt fühlen, also mußte Robert auf seiner Hut bleiben.

Er kletterte unter grimmigen Schmerzen vom Baume herab und machte etwa vier Fuß über dem Erdboden auf einigen stärkeren Ästen Halt, um erst die Pistole zu laden. Pulver und Blei hatte er vorsichtigerweise schon in Erwartung des Regens durch eine Blechkapsel vor aller Fährlichkeit beschützt und auch um den Revolver sein Taschentuch gebunden. Beides war in bester Ordnung, daher konnte er es getrost wagen, mit gespanntem Hahn und steter Sorgfalt den Rückweg aus der Umgebung des Sumpfes anzutreten. Schritt vor Schritt gehend drang er, nachdem er seine durchnäßte Mütze wiedergefunden, durch das gestern niedergetretene Dickicht vor und kam bis an jene Stelle, wo er den kleinen Vogel hatte greifen wollen.

Das Ufer war hier sehr breit und senkte sich nur ganz allmählich bis zum Wasser herab. Von der Vogelfamilie sah Robert keine Spur, auch die Ranken schienen an mehreren Punkten gewaltsam zerrissen, und eine tiefe Erdfurche ging von oben bis an den grünschillernden Tümpel herab. Das Krokodil war ohne Zweifel an dieser Stelle ins Wasser gekrochen.

Robert faßte die Waffe fester. Im Besitz von vier Schüssen konnte er das Ungeheuer an sich herankommen lassen; er fühlte daher keine Furcht mehr.

Als er etwa zehn Schritte weit gegangen war, bewegten sich vor ihm auf halber Höhe des Uferrandes die sonnenverbrannten Halme und raubgierige Augen starrten unserem jungen Freunde entgegen. Das Krokodil, jedenfalls soeben gesättigt durch eine reichliche Fischmahlzeit, lag in den Sonnenstrahlen und dehnte die schuppigen Glieder. Es mochte in diesem Augenblicke nicht aufgelegt sein, sich zu erheben und nach weiterer Beute zu spähen, – nur die Augen glitzerten mordlustig und die Kinnladen bewegten sich leise.

Robert zögerte nicht lange. Er sandte, unmittelbar vor der Bestie stehend, seine vier kleinen Revolverkugeln in rascher Folge durch die Augen des Tieres in das Gehirn desselben und tötete es fast auf der Stelle. Der Körper zuckte noch einige Male, der Schwanz schlug in die Luft und die lippenlosen Kiefer bewegten sich im letzten Kampfe, dann waren die Augen gebrochen.

Ein Gefühl des Stolzes schwellte Roberts Brust. Da lag das riesige Tier, von seiner Hand getötet, – er hatte ein Krokodil besiegt! Wie schade, daß sich die Trophäe nicht aufbewahren ließ. Aber so gern er auch den Rückenpanzer abgelöst und mitgenommen hätte, davon mußte er doch absehen. Nachdem ihn ein Schlag mit dem Beil auf die Schnauze überzeugt, daß alles Leben entflohen sei, wagte er sich näher heran und besah das erlegte Ungeheuer. Der Panzer, aus gekielten Schildern zusammengefügt, war hart wie Eisen, so hart, daß Robert auch nicht die geringste Spur seiner gestrigen Pistolenkugel auffinden konnte. Die Zunge fand er, nachdem ihm das Beil den Zugang geöffnet, ihrer ganzen Länge nach festgewachsen und Ohren und Nasenlöcher mit verschließbaren Klappen versehen. Am Unterkiefer saßen Drüsen, die einen durchdringenden moschusartigen Geruch ausströmten.

Robert trennte sich nur höchst ungern von der Hoffnung, irgend ein Andenken seiner ersten Heldentat mit nach Hause nehmen zu können, aber er mußte doch endlich den Gedanken aufgeben und den Weg zur Niederlassung weiter verfolgen. Nachdem er noch einen ziemlich großen Vogel erlegt, ging er durch das taufrische, köstlich duftende Holz unangefochten dahin, bis seine derzeitige Wohnstätte vor ihm lag.

Aber wie war der leinene Anzug zerfetzt und zerrissen, wie viel Flecke hatte er bekommen! Robert seufzte, als er sich auf sein Lager streckte und jedes Stück einzeln untersuchte. Endlich schüttelte er den Kopf. Auch wenn ihm Nadel und Faden zu Gebote gestanden hätten, so wäre hier alle Schneiderkunst verschwendet gewesen, aber dennoch mußte er der Moskitos wegen heile Kleider um jeden Preis besitzen. Zwar befand sich Segeltuch in genügender Menge unter den mitgebrachten Sachen, aber keine Schere, keine Nähnadel und kein Zwirn. Letzteren hätte er freilich aus aufgelöstem Tauwerk zur Not herstellen können, aber die Nadel!

Wie sie sich an ihm rächte durch ihre Abwesenheit, die tückische kleine Nähnadel!

Er begann seufzend den geschossenen Vogel zu rupfen, nahm ihn aus und briet ihn mit einigen Speckschnitten im Kochkessel. Dann schälte er Kartoffeln, die zu dem frischen Braten eine sehr annehmbare Beigabe bildeten, pflückte sich einige Ananas und tafelte im Freien vor seinem hölzernen Palaste wie ein König. Das Jagdglück von heute morgen, die gute Mahlzeit und die weite Fußwanderung hatten ihn in vortreffliche Stimmung versetzt, die nur durch den Gedanken an Jacke und Hose einigermaßen getrübt wurde. Wenn das seine Mutter gesehen hätte, sie, bei der alles in wahrhaft holländischer Sauberkeit glänzte!

Er mußte lächeln, als er das dachte. Waschen ließ sich auch nichts, da er keine Seife besaß. Kopfschüttelnd räumte er die Überbleibsel der Mahlzeit in eine zu diesem Zweck bestimmte Kiste und machte sich dann ans Werk, eine Angel herzustellen. Haken und Schnüre besaß er glücklicherweise, es fehlte also nur der Stock und diesen lieferte das nächste Gebüsch in beliebiger Größe.

Robert befestigte sein neues Jagdgerät, nachdem er die Angelschnur mit einem tüchtigen Stück Pöckelfleisch daran in das Wasser versenkt, an einem Baume und holte nun nach, was durch die unfreiwillige Abwesenheit von Haus und Hof inzwischen versäumt worden war. Er schnitt in den Palmstamm die dritte Kerbe, legte frisches Pökelfleisch ins Wasser, bedeckte die Tonne mit neugepflückten Zweigen und räumte die Seidenwaren in ihre Kisten. Jetzt hatte er alles geordnet, sogar den innern Raum seines Schlafzimmers von Unkraut und Gras gereinigt und mittels eines ausgespannten Segeltuches ein Sonnendach hergestellt. Zufrieden blickte er um sich. »Ich kann nun die meisten Stunden des Tages am Strande zubringen,« dachte er, »und das ist für mich die Hauptsache.«

Dann, nachdem alle Arbeiten des kleinen Hausstandes besorgt waren, legte er sich an das Ufergras und sah nach seiner Angel. Es hatte noch kein Fisch angebissen, daher konnte Robert fürs erste ein wenig ausruhen. Wenn nur die lästigen Moskitos nicht gewesen wären!

Sie drangen überall unter die zerrissenen Kleider und setzten sich keck auf das Gesicht unseres Freundes. Das letztere war noch erträglich, aber daß er so zerlumpt und mit Flecken übersäet einhergehen mußte, ärgerte ihn sehr.

Eine Nähnadel! – Ein Königreich für eine Nähnadel!

Und dann fiel ihm Georgs Schelmenlied wieder ein: »Es tranken ihrer neunzig und neunmalneunundneunzig aus einem Fingerhut.« –

Wie hatte ihn Georg betrogen, wie listig seine Arglosigkeit benutzt, um ihn in die Falle zu locken. Noch glaubte er zu hören, was der Matrose vom »Blitz« damals sagte: »Das ist ein Galgengesicht, und du solltest dich von ihm fernhalten, mein Junge!« –

Er seufzte tief und ließ sich dabei von den Moskitos so lange stechen, bis er aussah, als hätte seine Haut soeben das Scharlachfieber überstanden. Die kleinen geflügelten Unholde prickelten ihm das Sprichwort: »Wer nicht hören will, der muß fühlen,« heute recht empfindlich ins Gedächtnis hinein. Er wollte gerade aufstehen und eine Handvoll grüner Blätter zerquetschen, um sich mit dem Safte derselben einzureiben, als plötzlich die Angelschnur in Bewegung geriet und unter dem Wasser verschwand.

Robert sprang eiligst auf die Füße. Er zog vorsichtig einen Fisch von wenigstens fünf Pfund Schwere ans Land und freute sich königlich der gelungenen Jagd. Den wollte er heute abend verspeisen und dann von allen möglichen Resten der vergangenen Mahlzeiten einmal wieder Labskausch braten. Wenn nur irgend ein Beleuchtungsmittel vorhanden gewesen wäre, wenn die Matrosen nur an ein einziges Faß Öl gedacht hätten, – aber da mußte er alle Hoffnung aufgeben. Sobald die Sonne unterging, hieß es wie bei den Hühnern zu Bett! –

Er schuppte den Fisch, nahm ihn aus und legte die Stücke, wie er es von seiner Mutter oft gesehen, in Salzwasser, dann wanderte er fort, um am Strande nach einem Schiffe auszuspähen. Die nach der Havana bestimmten Fahrzeuge konnten zwar unmöglich hierher kommen, aber doch vielleicht ein Fischerboot, ein Schiff, das kreuzen mußte, das Wasser einnehmen wollte oder gar ein Zollschiff, wenn es überhaupt dergleichen gab.

Er nahm die Pistole wieder mit sich, ebenso eine Decke, und ging zum Meeresufer hinab, um einen vollständigen Ausguck einzurichten. Vorher aber besuchte er das Grab seines alten Freundes, den einzigen Ort, welcher ihm teuer und wert war, gewissermaßen das letzte Bindeglied zwischen ihm selbst und der übrigen Menschheit.

Die Mooshalme hatten sich bereits wieder erhoben und in der gelockerten Erde neue Wurzeln geschlagen. Noch wenige Tage, dann überspannte das grüne Netz wie vordem den Boden, und kein Auge sah, daß hier ein müdes Herz den stillen Grabesfrieden gefunden hatte; Mohrs letzte Ruhestätte war vor allen entweihenden Angriffen gesichert.

Robert brach eine purpurne Kaktusblüte vom Stiel und legte sie auf die Stelle, welche das liebe, freundliche Gesicht des Alten bedeckte, dann ging er fort, um seine Seewarte im kleinen einzurichten. – Die Palmen am Ufer waren höher als die Mangobäume, aber der Sitz in ersteren auf die Dauer zu beschwerlich. Robert, als geübter Turner und erfahrener Kletterer, schwang sich zwar mit Leichtigkeit bis in die Krone der schlanken Stämme hinauf, aber er mußte alsdann Hände und Füße gebrauchen, um sich festzuhalten, und konnte auch dies nur für kürzere Zeit. Der astreiche Mango dagegen gestattete in seinem dichten Laubwerk einen bequemen Sitz, weshalb Robert nach längerer Überlegung beschloß, hier Posto zu fassen. Er hieb mit seinem Messer in die Zweige und Blätter eine größere Lücke hinein, so daß der Blick auf den Ozean vollständig frei wurde, und suchte dann einen Platz zum Sitzen, den er von allen Seiten säuberte. Hier konnten ihn die Sonnenstrahlen nicht erreichen, hier hatte er für sich die Möglichkeit freier Bewegung und Umschau nach rechts und links, während er außerdem in den höher gelegenen Zweigen mit leichter Mühe ein Versteck fand, sobald etwa der Piraten wegen ein solches erforderlich werden sollte. Hier saß Robert nun mit einer Flagge versehen, die er sich aus einer Stange und einem daran befestigten Segel gefertigt hatte.

Die abgehauenen Zweige und Blätter warf er sorgfältig in das Meer, um von seiner Arbeit keinerlei Spur zurückzulassen, dann badete er an der Küste, wo ihn salziger Schaum wie ein Sturzbad überflutete. Schon der bloße Anblick des Meeres, der frische Hauch, welchen es ausströmte, belebten und kräftigten seinen Mut. Er wünschte trotz aller Gefahr nichts sehnlicher, als daß die Hütte näher am Ufer läge, damit er das geliebte Element täglich und stündlich vor Augen hätte. Wohl zehnmal sprang er wieder zurück in die klare, durchsichtige Flut, oder schwamm eine Strecke weit hinaus, und ließ sich auf dem Rücken treiben, bis die Sonne zum Abschied mahnte.

Noch ein letzter Blick aus der Höhe des Mangobaumes, sehnsuchtsvoll nach allen Richtungen entsandt, noch das mitgebrachte Notzeichen oben in den Zweigen versteckt, und dann ging es heimwärts durch den grünen Wald.

Die ganze Atmosphäre glühte und die Sonnenscheibe hatte sich mit grauen Wolkenschleiern umhüllt. Einzelne Windstöße fuhren durch den Wald, allmählich verstummte der Gesang der Vögel, und schwere Tropfen fielen in Pausen geräuschvoll auf die Blätter. Robert beeilte sich, vor Ausbruch des Gewitters seinen Fisch zu kochen und die übrig gebliebenen Kartoffeln in Speck zu braten. Er hatte kaum die Geräte vom Feuer genommen, als das Unwetter mit aller Kraft losbrach. Sturm und Donner heulten um die Wette, der Regen schlug klatschend auf das Laubwerk herab, und rote zuckende Blitze erhellten die Umgebung. Robert glaubte, nie vor diesem Tage ein Gewitter erlebt zu haben, so sehr überstieg das, was er sah und hörte, alles bisher Gekannte. Ein Schauer von unreifen Früchten hagelte ins Gras, krachend stürzten ganze Bäume, und hier und da schlug der Blitz in besonders hohe Stämme, die dann bis zum Fußboden herab zersplitterten. Robert verzehrte eiligst seine Mahlzeit und wollte sich unter den Schutz der Höhle zurückziehen, da – als er die Tür öffnete, trieb ihm auf hochgehenden Fluten das Moos der Lagerstätte entgegen, während die Decken, triefend von Nässe, im Winkel lagen.

Einen Augenblick lang stand unser Freund starr vor Entsetzen. Wenn das Salz und die Zündhölzer vom Wasser vernichtet worden waren! – –

Über seine Stiefel rann der Strom ins Freie, bis endlich nur noch ein wenig Schlamm in der Höhle zurückblieb. Robert stand noch immer unbeweglich, von diesem neuen Schlage wie betäubt. Erst langsam erholte er sich hinreichend, um hineinzukriechen und die gefährdeten Gegenstände untersuchen zu können. Gottlob, bis in diesen versteckten Winkel waren die Regenfluten nicht gedrungen, – er fand seine kostbarsten Güter unversehrt.

Für sich selbst blieb ihm freilich nur ein Ausweg, nämlich der, auf mehreren leeren Kisten ohne Decken oder irgend einen Schutz die Nacht zu verbringen. Aber das sollte ihm nicht wieder geschehen. Die ganze Wetterseite der Wohnung mußte durch einen starken Erdwall vor dem Eindringen des Regens geschützt werden, und schon mit Tagesanbruch wollte er diese neue Arbeit beginnen.

Bis auf die Haut durchnäßt streckte er sich zum Schlafen aus. Draußen tobte fort und fort der Donner, zischte Blitz nach Blitz, drangen sprühende Schauer von kalten Tropfen in die Höhle hinein. Der Sturm schwoll zum wahren Orkan, dessen Stöße wie tiefe Orgelklänge, bald brausend und gewaltig, bald langgezogen und klagend die Luft zerrissen. Es war jener Aufruhr der Elemente, den nur die südlichen Gegenden kennen und der häufig bis zu einem Grade anschwillt, welcher den Nordländer an das Hereinbrechen des jüngsten Tages gemahnt.

Ein schlecht befestigtes Brett wurde von der Gewalt des Sturmes hinausgerissen, mit wütendem Anprall fuhr der nächste Stoß in die Hütte hinein und brachte ganze Fluten von Regen auf nassen Fittichen mit sich. Es war jetzt in dem engen Raume womöglich noch ungemütlicher und trostloser als draußen; Robert erhob sich, um ins Freie zu kriechen, wo doch die Luft etwas weniger dumpf und erstickend zu sein versprach. Unter dem Wetterdach stehend kreuzte er die Arme wie jemand, der höheren Gewalten weicht, unfähig, die eigenen Kräfte mit denen des stärkeren Gegners zu messen.

Tief dunkle, undurchdringliche Nacht umgab ihn, der Boden war weich und schlüpfrig, der Sturm raubte im Freien den Lungen die Fähigkeit zu atmen. –

Da, durch das Gebrüll des Donners und der empörten Luftmassen klang ein Ton, der in seiner kurzen Schärfe deutlich verriet, daß ihn nicht die Elemente hervorgebracht, – vom Ozean herüber scholl es bis hierher in den ächzenden, knarrenden Wald und berührte wie plötzliches Feuer die Sinne des einsamen Knaben.

Ein Schuß! – Ein Kanonenschuß! – –

Er hatte es deutlich gehört; Zittern rann durch alle seine Glieder, das Herz schlug zum Zerspringen, – er lauschte atemlos.

Noch dachte er nicht, noch gab er sich von dem erhaltenen Eindruck keine vollständige Rechenschaft, aber er lauschte maschinenmäßig, wie zuweilen in Augenblicken höchster quälendster Aufregung der Mensch gleichsam nur mit dem Sinne lebt, nur sieht und hört ohne zu begreifen.

Und da kam es zum zweiten-, zum drittenmal. Es waren Kanonenschüsse, – es war ein Schiff, das sich in Not befand.

Fieberhitze rann durch alle Adern des Knaben. Er mußte hinaus an den Strand, mußte diesem unglücklichen Fahrzeuge ein Zeichen geben, – er wollte um jeden Preis die Schiffer von seiner Anwesenheit benachrichtigen, und sollte er schwimmend zu ihnen gelangen.

Das alles durchzuckte seine Seele, drängte sich ihm gewissermaßen auf, ohne eine bestimmte Form anzunehmen, und mechanisch tastete er nach dem Ausgang des Gewölbes. So oft ein Blitz die Umgebung erhellte, wurde es dem Knaben möglich, einige Schritte weit zu gehen, dann aber versperrten Bäume den Weg oder zeigten ihm verschlungene Ranken, daß er die Richtung zum Ufer im Dunkel verfehlt hatte. O wie glühend, wie verzweiflungsvoll wünschte er das Tageslicht herbei, wie bedeckte sich vor Ungeduld seine Stirn mit großen Schweißtropfen, wenn ihn ein erneuerter heftiger Anprall des Sturmes zwang, sich an einen schützenden Stamm zu klammern.

Rechts und links lagen herabgerissene Zweige, ja zuweilen ganze Bäume dann und wann quer über den Weg geschleudert, an anderen Orten mit ihren laubreichen Kronen den engen Fußpfad vollständig versperrend. Immer schneller und schneller folgten einander die Blitze, fast ununterbrochen krachte der Donner, und in jede Pause hinein dröhnten die Notschüsse des bedrohten Schiffes.

Robert kämpfte mit der Kraft der Verzweiflung, um an den Strand zu kommen. Schritt vor Schritt vorwärts dringend brauchte er wenigstens eine Stunde, ehe der Weg von zwanzig Minuten zurückgelegt war. Zerschunden im Gesicht, mit blutenden Händen und fieberheißem, brennendem Kopfe sah er endlich die freie Fläche vor dem Meere und dann das bewegte Wasser selbst. Brandend, zischend und kochend, den weißen Schaum turmhoch emporschleudernd, brach sich die See an der klippenreichen Küste. Welle nach Welle überspülte das Ufer, hoch in der Luft kreischten flügelschlagend die Möwen, pfeifend und heulend kam der Sturm über den Ozean daher.

Robert hielt beide Hände vor die Augen. Am Rande der Brandung spähte er, den nächsten Blitz erwartend, hinaus auf die tobende, in ihren tiefsten Tiefen erregte See. Ein neuer Kanonenschuß zeigte ihm die Richtung, in welcher das Schiff lag.

Und dann zuckte aus den schwarzen Wolken der elektrische Strahl herab – dann sah er für Augenblicke das Fahrzeug. Es war ein großes Schiff, im Sturm fast ohne Segel und von den Wellen wie ein Ball von einer Seite zur anderen geworfen. Jeden Augenblick konnte es der Sturm mit voller Gewalt auf den Strand treiben.

Die Schiffer glaubten vielleicht sich in der Nähe einer bewohnten Insel zu befinden, aber selbst wenn ein Boot zur Stelle gewesen wäre, so hätte es in dem schweren Wetter unmöglich auslaufen können. Die Wellen gingen haushoch.

Robert schwang in ohnmächtigem Kampf gegen das Toben der Elemente sein Tuch. Vielleicht betete drüben auf dem gefährdeten Schiff kein Herz so innig, so glühend zum Himmel wie das seine. So nahe vor sich die Erlösung aus der Gefangenschaft, so nahe in der grauenvollen Nacht ihm, dem Einsamen, die Menschen, aus deren Mitte ihn ein schlimmes Geschick verbannt! Er glaubte es nicht ertragen zu können, wenn diese Hoffnung getäuscht werden würde.

Bald sah er bei dem Scheine der Blitze das Schiff in größerer und bald in geringerer Entfernung vom Lande, endlich so weit hinaus auf dem Meere, daß er nur noch die Umrisse erkannte. In jeder Pause des Donners hielt er beide Hände vor den Mund und rief, so laut es ihm möglich war, den Seemannsruf »Schiff ahoi!« – in die Nacht hinaus, aber ohne selbst eine Antwort zu erwarten. Der schwache Ton konnte in dem Wüten der Elemente nicht bis zu den Ohren der Schiffer gelangen.

Allmählich verstummten draußen auf dem Meere die Kanonenschüsse und allmählich verminderte sich die Wucht des Sturmes. Blitz und Donner wurden schwächer, der Regen hatte nachgelassen, einzelne Sterne zeigten sich am Himmel.

Robert lauschte voll Verzweiflung. Allein in der undurchdringlichen Finsternis, überwältigte ihn der Schmerz so sehr, daß er weinte. Noch lange Stunden mußten vergehen, bevor ihm der neue Tag gestattete, auf das Wasser hinauszublicken, – aber gab es alsdann für ihn noch eine Hoffnung, das Schiff an der alten Stelle wieder vorzufinden? Ach, er wußte ja nur zu wohl, daß der Kapitän den ersten günstigen Augenblick benutzen werde, um von der gefahrdrohenden Küste fort und in das offene Meer zurückzukommen.

Erschöpft an allen Kräften warf er sich auf den durchnäßten Sand und wiederholte nur von Zeit zu Zeit jenen langanhaltenden Ausruf, mit welchem sich Seeleute anzureden pflegen, aber immer ganz vergeblich. Seine Ungeduld wuchs von Viertelstunde zu Viertelstunde. Wie lang, wie endlos lang war die Nacht! –

Er versuchte zu schlafen, aber es mißlang gänzlich. Selbst nicht einmal ein Halbschlummer, der sonst dem Wartenden, Einsamen so leicht naht, erlöste ihn auf Augenblicke von der Qual der Ungeduld. Er ging, als endlich jene Totenstille, die auf heftige Ausbrüche zu folgen pflegt, ihn rings umgab, rastlos am Ufer auf und ab. Jetzt lag das ungestüme Meer wie ein wildes Kind, das sich müde getobt und das nun sanft schlummert, ganz lautlos und fast unbeweglich, als bereue es sein zorniges Wüten. Die Luft war abgekühlt, die letzten Tropfen von den Zweigen gefallen und der Wind vollständig zur Ruhe gegangen. Nichts regte sich in der stillen Sternennacht.

Robert strengte sich an, mit den Blicken das Dunkel zu durchdringen, er überredete sich, ein Licht, einen weißen Streifen zu sehen, und schloß die Augen, um sich zu vergewissern, ob ihn keine Einbildung täuschte. Aber dann, wenn er wieder aufsah, begegnete dem forschenden Blick die alte Nacht, – er mußte seufzend erkennen, daß ihn ein Blendwerk der eigenen überreizten Sinne getäuscht hatte.

Und auf die Nacht folgte endlich graue Morgendämmerung. Nebel und Schatten, hier Heller, dort tiefer, wogten und lagerten sich über dem Wasser, spielten in allen Formen, täuschten das Auge und schienen wie neckende Geister das ruhelose Herz des Knaben nur noch ärger foltern zu wollen.

Sah er nicht dort im halben Dunkel das Schiff mit ragenden Masten und weißen flatternden Segeln? Sah er es nicht hart an der Küste, fast so nahe, daß es die Stimme erreichen konnte?

Er rief laut, so laut, – es drohte ihm die Brust zu sprengen. Aber keine Antwort schallte herüber, kein Zeichen verriet, daß in der Nähe Menschen lebten. Und die Nebel verzogen sich, zerflatterten; das, was eben noch ein Schiff gewesen, erschien nun als Turm, als riesiges, vorsündflutliches Fabeltier, als Bergspitze mit wallenden Baumkronen. –

Hundert Gestalten formten die fliehenden Schatten, tiefe Täler öffneten sich dem Blick und hohe unzugängliche Zinnen schauten von beiden Seiten herein – Robert starrte unverwandt in das Chaos, immer noch hoffend, noch festhaltend an dem Gedanken der Erlösung. Was er, als Nacht und Sturm jede Mitteilung verhinderten, so nahe an der Küste gesehen, das rettende Schiff, – sollte es am Morgen im hellen Sonnenglanz, wo ein einziger Blick genügte, um ihn aus der schrecklichen Einsamkeit zu befreien, nun zu weit entfernt sein, viel zu weit für jede Verständigung? –

Es war ja unmöglich, ganz unmöglich! –

Und heller und heller wurden die Nebelmassen, mehr und mehr nahte der junge Tag. Es glitt wie ein kühler Hauch durch die regenschweren Blätter, einzelne Tierstimmen erhoben sich, und gelbe und rote Wolkenränder umsäumten den Horizont.

Roberts Zähne schlugen gegeneinander. Jetzt kam die Entscheidung.

Er erkletterte den Baum, aus dessen Krone sich das Meer weithin überblicken ließ. Nun teilten sich die Schatten, ein goldener Streif schoß plötzlich hervor, andere folgten, und die ganze blaue leicht bewegte Wasserfläche lag glänzend im Lichte des jungen Tages. Weit aus der Ferne, kaum noch erkennbar, schimmerten die vollentfalteten Segel des Schiffes.

Robert stieß einen herzzerreißenden Schrei aus. Er sah das Fahrzeug, er erkannte es deutlich, aber es gab für ihn kein Mittel, sich der Mannschaft bemerklich zu machen. Seine Blicke folgten den weißen verschwindenden Segeln, bis ihm die Augen schmerzten und er verzweifelt den Kopf in die hohle Hand stützte.

Nach langer Pause, als er über das Meer dahinsah, war auch der letzte weiße Punkt versunken. Nur das Wasser dehnte sich in blauer Unendlichkeit vor seinen Blicken.

 


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