Heinrich Wölfflin
Die Kunst Albrecht Dürers
Heinrich Wölfflin

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Das Problem der Schönheit

Wir sehen geren schöne Ding, dann es gibt uns Freud.
                                                                  Dürer.

Observat exacte symmetrias et harmonias.Symmetriae sind die proportionalen Verhältnisse im allgemeinen.
                                            Erasmus über Dürer

1.

Als Dürer starb, wußte man, daß nicht nur ein großer Künstler dahingegangen war – es gab seit den Zeiten des Altertums keinen größeren –, sondern daß der Begriff des Künstlers überhaupt durch ihn einen neuen Inhalt gewonnen hatte. Als einen Verwalter der gesamten Sichtbarkeit hatte Dürer sich betrachtet, hatte ganz unabhängig von handwerklicher Gebundenheit und von der Tradition der Besteller seine Aufgaben sich selber gegeben und in Betreff der Darstellungsmöglichkeit der Welt ungeahnte Perspektiven eröffnet. Was den Zeitgenossen aber am meisten Eindruck machte, war die theoretische Fundamentierung der Malerei. In allen Elogien klingt das als der Hauptton durch. Camerarius, von dem die lateinische Ausgabe des Proportionswerkes von 1532 eine schöne und sachliche Würdigung des Meisters enthält, gibt als letzte Steigerung der künstlerischen Charakteristik dies, daß er »die bloße Praxis (usus) wieder zum wissenschaftlichen System erhoben habe« (quod ad artem et rationem usum revocarat).Thausing (II,104) übersetzt die Stelle offenbar falsch: »Daß er zur Kunst auch die Begründung ihres Gebrauchs ins Leben rief.« Das sei für den Norden etwas Neues gewesen; denn niemand hätte bisher den Grund angeben können, warum ein Werk gut sei. Die Vortrefflichkeit soll aber aus wissenschaftlicher Einsicht und nicht durch einen glücklichen Zufall gewonnen werden (magis scientia quam casu).

Gemeint ist damit gewiß in erster Linie die wissenschaftliche Handhabung der Perspektive. Für uns ist die perspektivische Konstruktion nichts Aufregendes mehr. Wir wissen ihre Sätze längst in Lehrbüchern geborgen. Wir sind im perspektivischen Sehen aufgewachsen und der Künstler, wenn er zur Konstruktion greift, benutzt sie nur zur Kontrolle der natürlichen Empfindung. Damals aber handelte es sich um eine Existenzfrage. Mit der Entdeckung der 300 Sehpyramide rückte das Zeichnen plötzlich in einen anderen Rang: es wurde Mathematik. Dürer ist für die perspektivische Wissenschaft mit Begeisterung erfüllt. Man spürt in seinen Worten noch den ganzen Entdeckerjubel einer Generation, die die Malerei als eine exakt zu lösende Aufgabe der darstellenden Geometrie zu begreifen lernt.

Man sprach auch bereits von den gesetzlichen Verhältnissen zwischen Licht und Schatten, ja die Möglichkeit einer Farbentheorie dämmerte auf.

Im Vordergrund steht indessen, was sich mit Messung fassen läßt. Die Geometrie beherrscht den Geist der Zeit. Die Dinge messen können, heißt die Dinge begreifen. Die Malerei bedarf der Messung nicht nur der Perspektive wegen, um das Gesetz des »Augenbetrugs« zu verstehen, sie muß auch die Maaße der dargestellten Dinge kennen. »Alles Geschaffene ist bestimmt nach Zahl, Gewicht und Maß.«LF. S. 285. Ein Aristoteleszitat des Pacioli, divina proportione, c. II. Dürer ist ein geometrischer Kopf von Hause aus gewesen. In keiner Geschichte der Mathematik wird er übergangen werden können.Eine auch Laien zugängliche Darstellung seiner mathematischen Verdienste gibt Staigmüller, Dürer als Mathematiker, 1891. Auch dem komplizierten Gewächs des menschlichen Körpers nähert er sich als Geometer. Es wird ihm erst wohl, wenn er die Form zwischen die Linien eingespannt hat, die eine mathematisch präzise Bestimmung erlauben. Man wundert sich nicht, daß er schließlich wie ein Architekt verfährt, und z. B. nach italienischem Muster alle Querschnitte eines Körpers übereinander zeichnet, wie man einen Turm architektonisch aufnimmt. Dieses Messen, meinte er, behalte seinen hohen pädagogischen Wert, auch wenn man in der malerischen Praxis keine Anwendung davon mache. Das Wichtige war ihm offenbar, im Vorstellen des Körpers zu vollständig klarer Rechenschaft gezwungen zu sein. Er würde sich aber kaum so angelegentlich damit befaßt haben, hätte er nicht noch ein zweites Ziel im Auge gehabt: die Proportionen des schönen Menschen zu finden. Das ist die andere Seite der theoretischen Forschungen, die wichtigere für Dürer. Ihr war das literarische Hauptwerk gewidmet.

Daß die Malerei eine Wissenschaft sei, sagte zuerst Lionardo, und er besaß allerdings eine Kenntnis des Wesens der Form und ihrer Erscheinung, wie kein zweiter zu seiner Zeit, nicht einmal unter den Gelehrten. Allein es ist für die ganze italienische Renaissance bezeichnend, daß die Kunst vom Anfang an von einer Theorie begleitet wurde, die, mit der Lehre von den geometrischen Körpern und der Perspektive beginnend, vor allem die optischen Grundsätze theoretisch festlegen wollte, dann zu einer tabellarisch erschöpfenden 301 Übersicht der formalen Möglichkeiten in Bildung und Bewegung der Figur fortschritt und bis zum Problem des schönen Menschen empordrang, d. h. die menschlichen Normalproportionen (zunächst die männlichen) zahlenmäßig festzustellen versuchte. Leon Battista Alberti und Lionardo sind dafür die bekannten Namen.

Dürer muß in Italien von diesen Bemühungen Kenntnis gewonnen haben, obwohl von Alberti gerade der Traktat von der Malerei und die Abhandlung de statua, die die Proportionen enthält, nur handschriftlich existierte und von Lionardo überhaupt nichts gedruckt war. Man nimmt an, daß Lionardos Freund Pacioli zum Vermittler wurde.Eine Zusammenstellung von Parallelstellen aus Dürers und Lionardos Schriften gibt Hans Klaiber, Beiträge zu Dürers Kunsttheorie, 1904 (Tübinger Dissertation). Ebendort eine wesentlich ablehnende Kritik von Justis Konstruktionsnachweisen in Dürers Werk. Jedenfalls, als Dürer von der großen Reise zurückkehrt, ist es ein Lieblingsgedanke von ihm, etwas Ähnliches wie die Italiener zu machen und unter dem Titel: »Ein Unterricht in der Malerei« oder »Die Speis des Malerknaben« eine umfassende Darlegung dessen zu geben, was zur Malerei gehört. Es sind Aufzeichnungen vorhanden, die wenigstens die Kapitel andeuten: Von dem Maß der Menschen – Von dem Maß der Pferde – Von dem Maß der Gebäude – Von der Perspektive – Von Licht und Schatten – Von den Farben. An anderer Stelle kommt etwa noch ein Kapitel über Komposition (Von der Ordnung im Gemälde) dazu und ein ganz großer Entwurf wollte die gesamte Naturgeschichte des Künstlers mit einschließen, wie er geboren und erzogen wird, wie und wo er am besten arbeitet,Auch hierfür sind italienische Quellen nachgewiesen, nämlich die Schrift des Marsilius Ficinus vom gesunden Leben. Vgl. Giehlow in den Mitteilungen der Gesellschaft für graphische Kunst 1903/04. was die Kunst für ihn und für die Welt bedeutet.

Ernsthaft ist der Plan in diesem Umfang aber nicht lang festgehalten worden, das Interesse konzentrierte sich bald auf die Proportionsfragen und nach 1513 ist es deutlich, daß zunächst nur ein Werk über Proportion veröffentlicht werden sollte. Es dauert aber bis 1523, bis wir von einem druckfertigen Manuskript hören, und selbst jetzt, wo alles in Ordnung zu sein scheint, wird die Publikation hintangehalten und Dürer gibt zuerst sein Buch über Messung heraus (1525). »Unterweisung der Messung mit dem Zirkel und Richtscheit« nannte er es. Es sollte methodisch auf das Hauptwerk vorbereiten. Wer den Euclid kenne, für den sei es überflüssig. Neben ausgewählten Aufgaben aus der darstellenden Geometrie enthält es die Theorie der schönen Buchstaben, Entwürfe zu Denkmälern u. dgl. Noch einmal dauerte es aber jetzt drei Jahre, bis das angekündigte Hauptwerk kam: 1527 wurde die Abhandlung über die 302 Befestigungskunst voraus erledigt, und als man endlich zu drucken anfing, starb Dürer über der Arbeit dahin. Am Ende des dritten Buches findet man die allgemeinen ästhetischen Gedanken Dürers eingerückt, wie er sie sich einst als Einleitung zu dem allgemeinen Lehrbuch der Malerei zurechtgelegt hatte.

Daß dieses nicht ganz aufgegeben war, erfahren wir aus den Schlußworten des Werkes und die Nachschrift bestätigt, daß Dürer noch viel zu schreiben vorgehabt habe, was »für die Kunst des Malens, der Landschaft, der Farbe u. dgl. dienlich« gewesen wäre; vor allem habe eine ausführlichere Perspektive in seinem Plan gelegen.

Neben dem gedruckten steht uns noch das ziemlich umfängliche handschriftliche Material der Vorarbeiten zur Verfügung. Man sieht, wie Dürer mit dem Wort ringt, wie furchtbar schwer es ihm geworden ist, seine Gedanken zu gliedern. Er nennt sich selbst einen Ungelehrten. Aber in aller Unbehilflichkeit wirkt er doch wieder höchst überraschend durch die Kraft des Einzelwortes. Leider ist die Frische der ersten Niederschriften im Buchtext nicht überall erhalten geblieben.

Der Sachinhalt des Proportionswerkes ist durch Winterberg vor kurzem im Repertorium für Kunstwissenschaft ausführlich erörtert worden,Repertorium 1903, in fünf Aufsätzen. wir beschränken uns hier auf die prinzipielle Seite des Problems.

 

2.

»So wir aber fragen, wie wir ein schön Bild sollen machen, werden etliche sprechen: nach der Menschen Urteil. So werdens dann die andern nicht nachgeben und ich auch nicht. Ohn ein rechtes Wissen, wer will uns denn deß gewiß machen?«LF. 221. – Bild heißt Figur, Gestalt. Bei Springer und andern sind Mißverständnisse entstanden, weil der altertümliche Sinn des Wortes verkannt wurde. In diesen Worten der Proportionslehre ist gesagt, was Dürer quälte. Er suchte nach einer Schönheit, die unabhängig wäre von der »Meinung« der Menschen. Das bloße Wohlgefallen entscheidet nichts, Schönheit ist etwas, was sich »beweisen« lassen muß. Der Menschen Urteil schwankt, dem einen gefällt das, dem andern jenes, die wahre Schönheit aber ist zwingend, wie ein mathematischer Lehrsatz, vor dem man »gefangen« steht.

Diese platonisierende Idee von der Schönheit hat Dürer wie in einen Zauberbann geschlagen. Als ihm Jacobo de' Barbari zum erstenmal Andeutungen machte, daß es eine Formel gäbe, nach der man den vollkommenen Menschen 303 konstruieren könne, ist ihm beglückend ein großes großes Licht aufgegangen und es entstand ein so leidenschaftliches Verlangen, dieser Schönheit sich zu bemächtigen, daß man glauben darf, die Sehnsucht darnach habe schon lange in ihm gelegen und nur jetzt erst die Augen aufgetan. Barbari aber sagte ihm nur Unvollständiges; er suchte Rat bei Vitruv, er kombinierte auf eigene Hand, zeitenweise mag er geglaubt haben, das Geheimnis zu besitzen, aber die Idee der Schönheit wandelte sich ihm unter den Händen. Das Menschenpaar von 1507 ist anders als das von 1504, es kommt der Zweifel, die Unsicherheit und schließlich die Resignation: es ist nicht möglich, die ganze Wahrheit zu erlangen, das Höchste, was uns erreichbar bleibt, ist, die Formenharmonie einzelner Gestalten der unendlich reichen Natur zu erkennen. Unsere Schönheit liegt im Umkreis des Wirklichen und die Spekulation über die Idealform verführt ins Bodenlose. Schon aus dem Jahre 1508 gibt es im Dresdener Skizzenbuch (Ausgabe von Bruck, Taf. 79) eine schwere, dicke Frau, deren Bau auf arithmetische Verhältnisse abgezogen ist. Offenbar konnte Dürer gerade solchen Typen ein ästhetisches Recht abzusprechen sich nicht entschließen.

Die Art der Proportionsbestimmung wechselt. Anfänglich sind es geometrische Konstruktionen mit Kreisen und Rechtecken, die sogar teilweise den Umriß der Figur ergeben, dann – nach der großen Reise – fängt er an, mehr und mehr nur noch Distanzen am Körper zu messen, im horizontalen und im vertikalen Sinn, wobei die formgebende Linie zwischen den festgelegten Punkten dem freien Belieben überlassen bleibt. Das Überzeugende, was einfache Zahlenverhältnisse haben können, verliert sich aber im gleichen Maße, wie Dürer genauer wird und mit dem Wirklichen mehr Fühlung sucht. Im Proportionswerk operiert er mit einer doppelten Methode, einmal mit verschiedenen Bruchteilen der Gesamtlänge, und dann mit dem Einheitsmaß von ⅙ dieser Größe, gemäß dem Verfahren, das L. B. Alberti anwendete. Auf Grund dieser zwei Methoden werden im ersten Buch fünf verschiedene Typen aufgestellt, die, weit auseinanderliegend, auch die Extreme des ganz Dicken und des ganz Dünnen umfassen, und im zweiten Buch (nach der anderen Messung) nochmal acht Männer und zehn Frauen, die nur teilweise mit denen der ersten Reihe identisch sind. Jeder möge nun wählen nach seinem Geschmack. Auch die Extreme gibt Dürer nicht als Karikaturen, sondern nimmt an, daß sich auch dafür Liebhaber finden könnten, obwohl ihm persönlich das dicke Ende der Reihe jedenfalls eher noch sympathisch war als das dünne. Auch sollen die hier ausgehobenen Typen nicht die Summe der Möglichkeiten erschöpfen, es sind natürlich ebensogut noch Zwischenstufen ästhetisch denkbar, abgesehen von den Verkehrungen, die zu dem bloß Charakteristischen hinüberführen. Das Prinzip bei allen Konstruktionen aber ist die Harmonie der Teile. Bei Dürer heißt sie Vergleichung. Darauf kommt es an, daß die Glieder in 304 ihrer ganzen Versammlung sich »wohl zusammen vergleichen« oder, mit anderem Ausdruck, »sich vergleichlich reimen«.

Er hat unsäglich darunter gelitten, daß die Menschen ästhetisch so verschieden urteilen. Was ihm gefiel, gefiel andern nicht. Warum gibt es keine Übereinstimmung der Urteile? Er tröstet sich als Psychologe: nicht alle Menschen sehen gleich klar, der Künstler muß das Recht haben, zu bestimmen, was schön ist. Dann aber warnt er gleich selbst wieder vor eigner Überschätzung und Willkür: »viele sehen mehr als einer«, und es gibt Momente, wo er, sich direkt widersprechend, erklärt: »Das, was von den meisten als schön gehalten wird, das wollen wir machen.«L. B. Alberti gewann seine Maße des schönen Menschen aus einem Durchschnitt von Messungen solcher Körper, die von Kennern (periti) als schön bezeichnet wurden.

Die Beschränktheit des Urteils ist eine allgemeine menschliche Eigenschaft. Er hatte es ja an sich selbst erfahren: nicht einmal seines eigenen Urteils war er sicher. Sein Schönheitsgefühl hatte in verschiedenen Epochen seines Lebens sich ganz verschieden ausgesprochen. Gott allein besitzt die klare Vorstellung. Dürer übernimmt dies platonische Wort von Pacioli. »Und wem er es wollte offenbaren, der wüßte es auch«, fügt er mit biblischer Wendung hinzu. Unser Urteil aber ist so unklar, daß wir nicht einmal zwischen schön und schöner immer zu unterscheiden verstehen, geschweige denn, daß wir uns die letzte Stufe der Schönheit vorstellen könnten. Es gibt keine menschliche Figur, von der man sagen dürfte, eine höhere Vollkommenheit sei undenkbar.Vgl. Cicero, orator, c. 2. Die Stelle behandelt bei Müller, Geschichte der Theorie der Kunst bei den Alten II, S. 199. Nicht einmal bei niedrigen Geschöpfen läßt sich die Linie zu Ende denken, geschweige denn beim Menschen.

»Die Schönheit, was das ist, das weiß ich nicht«, ist darum Dürers SchlußgeständnisDieser oft zitierte Satz (der übrigens nur im Manuskript vorkommt) hat nicht den psychologischen Sinn, den man ihm gewöhnlich gibt, Dürer will nicht sagen: »ich weiß nicht, warum gewisse Dinge uns schön vorkommen und andere nicht«, sondern nur: »ich weiß nicht, wie die Schönheit, d. h. die schönste Form aussieht«. Die erste Fragestellung klingt anderwärts allerdings auch an: z. B. »es sind mancherlei Ursachen der Schönheit, der Nutzen ist ein Teil der Schönheit« (LF. 304). Wir bleiben auf ein bloß annäherndes Wissen angewiesen. Aber weil wir zum allerbesten nicht zu gelangen vermögen, sollen wir darum ganz »von unsrer Lernung lassen«? Nein. Die Menschen haben Gutes und Arges vor sich, der vernünftige Mensch hält sich ans Bestmögliche.

Sicher ist es nicht Dürers Meinung gewesen, die Variationen seiner Proportionslehre seien im absoluten Sinne alle gleich gut. Die Konsequenz der 305 Bildung ist ein Moment der Schönheit, aber nicht das einzige. Er würde keinen Augenblick gezögert haben, den mittleren Proportionen einen Vorrang einzuräumen und die Idee von der einen vollkommnen Form bleibt immer im Hintergrund, wenn sie auch eben nicht bestimmt faßbar ist.

Soviel aber ist ihm jetzt gewiß, daß das Schöne nur aus der gegebenen Natur entwickelt werden kann. Alle aus der Luft gegriffenen Konstruktionen sind wertlos. Niemand kann aus eigenen Sinnen eine schöne Gestalt machen. Darum ruft er mit eindringlicher Stimme: »Geh nicht (ab) von der Natur in deinem Gutdünken, daß du wolltest meinen, das Bessre aus dir selbst zu finden; denn du würdest verführt.« Und dann im weiteren Verlauf nochmal: »Nimm dir nimmermehr vor, daß du etwas besser möchtest oder wolltest machen, denn es Gott seiner erschaffnen Natur zu wirken Kraft gegeben hat. Denn dein Vermögen ist kraftlos gegen Gottes Schöpfung.«

Die Schönheit, wie sie Gott gewollt, ist zerstreut in der Natur, aber sie ist drin. Man muß das Gute zusammensuchen, selten oder nie gibt es einen Menschen, der an allen Gliedmaßen gut wäre. Aus vielen wohlgestalteten Menschen nehme man, was bei jedem hübsch ist: das gibt ein löbliches Werk. Nur muß die Art durch den ganzen Körper gleichförmig sein. Dieses wählerische Vorgehen nennt Dürer: die Schönheit aus der Natur »herausziehen«, er sagt wohl auch »herausreißen«, jedenfalls ist das der Sinn des berühmten und, soviel ich sehe, immer anders erklärten Satzes: »Denn wahrhaftig steckt die Kunst in der Natur – wer sie heraus kann reißen, der hat sie.«

Die höchste Schönheit ist uns unerreichbar, aber die sinnlich-gegenwärtige ist schon so groß, daß der Mensch kaum sie zu fassen vermag. »Obgleich wohl wir nicht sagen können von der größten Schönheit einer leiblichen Kreatur, so finden wir doch in den sichtbaren Kreaturen eine solch übermäßige Schönheit unserm Verstand, also daß solche unser keiner kann vollkommen in sein Werk bringen.«

Daß die Figuren seines Proportionswerkes in der Natur wirklich vorkämen, will Dürer nicht behaupten. Es mögen auch noch Fehler in der Konstruktion sein, daß sie von der Wahrheit und Schönheit des Möglichen abweichen: mag ein anderer es besser machen. Den Ruhm aber glaubt er in Anspruch nehmen zu dürfen, daß er der erste sei, der in deutschen Landen solche Dinge behandelt und daß er es ohne Meister und Vorbild zustande gebracht habe.

 

3.

Wie weit uns Dürers Bildungen gefallen und ob seine Vorstellung eines schönen Armes, Beines, Gesäßes auch die unsrige sei, kann füglich hier 306 unerörtert bleiben. Moderne Künstler werden von der ganzen Proportionsgeschichte nicht viel wissen wollen. Sie werden einwenden, daß es feststehende Maaße für schöne Gestalten überhaupt nicht geben könne, weil diese Maaße je nach der Umgebung ihre Wirkung änderten, geschweige denn daß sie in den verschiedenen Bewegungen des Modells sich behaupteten. Sie werden weiter sagen, Dürers Naturgefühl müsse doch irgendwo eine Lücke gehabt haben, unmöglich hätte er sonst Jahre darauf verwenden können, solche Schemen auf dem Papier zu erzirkeln; wäre er wirklich von der Schönheit des lebendigen Körpers ergriffen gewesen, so würde er statt dieser Gesellschaft von Gliederpuppen uns ein paar richtige Bilder hinterlassen haben. Und der Uneingeweihte wird überhaupt geneigt sein, in all den theoretischen Bemühungen nur den Ausdruck seniler Impotenz zu finden.

Der letzte Vorwurf ist mit den Tatsachen leicht zu widerlegen. Es sind gerade die Perioden höchster Produktivität, wo Dürer mit dem Problem der Proportion ringt, abgesehen von dem Hochgang schöpferischer Stimmung, der nach der niederländischen Reise das Buch flott machte, gravitiert das eine Maximum der Proportionsstudien um das Jahr 1503/4 und das andere um das Jahr 1512/13. Der große Unterschied zwischen Anfang und Fortführung ist aber der, daß die Konstruktionen anfänglich unmittelbar in künstlerische Gestalt sich umsetzen, während nach den Madrider Tafeln von Adam und Eva (1507) Theorie und Bildwerk definitiv getrennt bleiben.

Es hieße Dürer völlig verkennen, wenn man glaubte, die Frage habe später wirklich nur noch einen theoretischen, oder sagen wir anthropologischen Wert für ihn gehabt. Das Problem der Schönheit ist nach wie vor das Zentralproblem der Kunst für ihn. Wir bewundern ausschließlich seine Begabung für das Individuelle, die Kraft der Charakteristik, mit der er dem Wirklichen zu Leibe ging, und man hat uns daran gewöhnt, andere Forderungen an die Kunst überhaupt nicht mehr zu machen, für Dürer war dies aber nur die eine Seite der Kunst, eigentlich nur die Vorbereitung für die andere höhere Aufgabe: das Vollkommene zu gestalten. Dieses Vollkommene ist für ihn in erster Linie der schöne Mensch, aber er hat auch über die Proportionen des schönen Pferdes gearbeitet und prinzipiell gibt es gar keine Schranke: er müßte auch eine Proportionalität der Pflanzen anerkannt haben. Die Sehnsucht nach dem idealen Typus von Mann und Weib füllt seine Jugend, und als nachher der Begriff seine Ausschließlichkeit verliert, glimmt das Feuer doch unter der Asche weiter und läßt ihn nicht ruhen, bis er seine Untersuchungen über die Schönheit in den »vier Büchern menschlicher Proportion« unter Dach gebracht hatte. Diese Theorie aber hat er nie anders denn als ein Hülfsbuch für Künstler angesehen. Er selber konnte keinen Gebrauch mehr davon machen, aber er wollte seine 307 Resultate an die Öffentlichkeit bringen, damit der Größere, der nach ihm kommen würde, die Wege bereitet fände.

Gewiß, es liegt hier ein Widerspruch vor zwischen Kunst und gelehrtem Geist. Zwar wird kein Kenner der Kunstgeschichte zugestehen, daß das Suchen nach bestimmten Proportionen an sich ein unkünstlerisches Unterfangen wäre, wie moderne Antipathie uns glauben machen will, ein lebendigeres Körpergefühl würde sich aber doch nicht bei den starren Buchfiguren beruhigt haben. Sie sind im Umgang mit der Natur entstanden, Dürer spricht von Messungen am lebendigen Körper und sogar in beträchtlichem Umfang, hie und da glaubt man auch das Modell in der Zeichnung zu sehenZ. B. bei der Frau mit Haube, die Conway (literary remains) abbildet, 1513. und eine Randskizze deutet etwa auf eine »Modellpause«, aber er hat den Körper nie so genossen wie ein Mantegna oder Signorelli, in der Pracht voller und starker Bewegung. Die Versuche seiner Jugend blieben ohne Folge. Warum hat er keinen Herkules mehr gemalt, sondern nur noch einen Adam mit Schamzweig und Spielbein? Die Bewegung tritt ganz zurück hinter dem Interesse an dem Bau der Gestalt. Seine Kenntnis der Form war groß genug, daß er ohne Schwierigkeit beliebige Akte aufs Papier phantasieren konnte, und wenn man an die Federzeichnungen von 1514/16 denkt, so sind auch bewegte Figuren darunter, allein von all den Gliedern ist doch keines so gezeichnet, daß der Funke aus dem Gelenk zündend auf den Beschauer überspränge. Man stößt hier fühlbar an Grenzen seiner Begabung. Zu einem rechten tiefen, freien Atemholen ist es nicht gekommen.Dieser Ausdruck ist freilich kaum mehr erlaubt angesichts der merkwürdig großartigen, ganz späten Federzeichnung einer Gruppe von fünf nackten Männern (1526), die teilweise knieen, teilweise stehen und wo zwei mit ausgebreiteten Armen, den Kopf weit zurücklegend, zum Himmel emporblicken. Thausing, der das Blatt abbildet (II. 288; damals bei Dr. Jurié in Wien) sah darin den Entwurf zu einem Bild vom jüngsten Tag und vermutete, es hätte das Mittelstück zu den Münchner Aposteln abgeben sollen, die Zeichnung ist aber zu fragmentarisch, um ein bestimmtes Urteil nach irgend einer Seite möglich zu machen.

Allein mit einer bloßen Atelierkritik kann man Dürers Proportionswerk niemals fassen. Sein geschichtlicher Wert liegt darin, daß die Frage nach den gesetzmäßigen Verhältnissen im natürlichen Gewächs getan und daß in dieser Gesetzmäßigkeit die Schönheit gesucht wird. Das Mittelalter hatte eine Schönheit der Natur nicht anerkannt. Alle natürlichen Bildungen sind sinnlos oder unvollkommen. Erst die Renaissance brachte den Begriff der ratio naturae und wendet ihn gleich ins Ästhetische, indem sie alle Schönheit in der Natur vorgebildet sieht. Man muß formen, wie sie formt, wenn man das Wohllautende gewinnen will. Die natürliche Vollkommenheit der Geschöpfe ist der tiefste Gedanke dieses 308 Zeitalters gewesen. Und indem man den Zusammenhang der Teile als einen notwendigen empfinden lernte, kam man zu dem Begriff jener Harmonie, in der L. B. Alberti die letzte Stufe der Schönheit verehrte, wo nichts einzelnes mehr verändert werden könnte, ohne das Ganze zu zerstören. Wir würden heute von der Notwendigkeit organischer Fügung sprechen. Auf diesem Boden hat Italien seine wunderbare Kunst entwickelt: es ist derselbe Gedanke, der in Dürers Geist lebendig geworden ist.

Ein neues Auge und ein neues Herz hat er der deutschen Kunst gegeben, aber wenn man ihn um sein eigentliches Vermächtnis befragt hätte, ich glaube, er würde es darin gesehen haben, daß ihm die Idee einer schöpferischen Kunst aufgegangen ist, die der Natur ihre verborgenen Harmonien »entreißt« und ohne den Grund des Wirklichen zu verlieren, aber doch über das Wirkliche hinaus das Bild der Schönheit an den Tag bringt.

 

 


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