Heinrich Wölfflin
Die Kunst Albrecht Dürers
Heinrich Wölfflin

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Vorwort

Seit Thausings grundlegendem Buch, das 1884 in zweiter Auflage erschien, ist ein »großer Dürer« nicht mehr geschrieben worden. Ephrussi (Albert Durer et ses dessins, 1887) gab mehr einen catalogue raisonné als eine Darstellung, und Springer ist über der Ausgabe weggestorben: sein Dürer blieb Fragment; der erste Teil, kurz und lesbar gehalten, ist da (1892), der zweite Teil aber, der erst das kunstgeschichtliche Material in seiner ganzen Fülle ausbreiten sollte, ist nicht über die einleitenden Zeilen hinausgekommen. Was dann Zucker in den Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte veröffentlichte (1900), kann, so genau es gearbeitet ist, doch auch nur als Biographie im Auszuge gelten, von andern Unternehmungen zu schweigen, die das Thema in noch kleinerem Umfang oder nur unter bestimmten Gesichtspunkten behandeln.

Und doch hat das Interesse an Dürer seit Thausings Zeiten gewiß nicht abgenommen. Gerade unsere Zeit blickt mit so verlangenden Augen nach allem sich um, was deutsch heißen könnte, und Dürers Name ist so sehr Symbol aller nationalen Kunst, daß für jede neue Darstellung die Leser vorhanden wären. Es fehlt auch nicht an Forschern, aber ihre Arbeit kommt wesentlich der Kleinlitteratur zugute, wo allerdings seit Jahren ein stetiges und fast unheimliches Schwellen der Produktion zu beobachten ist. Fast jede Nummer unserer kunstgeschichtlichen Zeitschriften bringt irgend einen Dürerbeitrag. Nach allen Richtungen sind die Umrisse seines Werkes klarer und bestimmter geworden und mit der monumentalen Publikation der sämtlichen Handzeichnungen hat Lippmann der Forschung eine ganz neue Grundlage gegeben. Das vorliegende Buch nun möchte nicht als der erwartete Dürer genommen sein, sondern nur als »auch ein Dürer«. Der Verfasser hat sich den Stoff nach seiner Weise zurechtgelegt, mehr das Künstlerische verfolgend als das Biographische, auf katalogmäßige Vollständigkeit in der Beschreibung des Oeuvres ebenso verzichtend wie auf die gleichmäßige Erörterung aller kritischen Probleme, die die Forschung im Verlauf der Jahrzehnte aufgeworfen hat.

IV Es gibt von Buffon einen Satz, den man oft zitiert, aber selten richtig versteht: le style c'est l'homme. An diesen Satz hat der Verfasser während der Arbeit oft gedacht: seine Bedeutung ist, wie Heinrich von Stein nachwies, keine individuelle, sondern eine generelle, und Buffon wollte sagen, daß erst in der »Stilisierung« des Materials, in der rationellen Darlegung das Eigentlich-Menschliche liege und nicht im bloßen Zusammentragen des Rohstoffes. Über Dürer schreiben heißt, von etwa 1200 Zeichnungen, Drucken und Bildern Rechenschaft geben. Es ist versucht worden, das auf »menschliche« Weise zu tun, d. h. die Massen so zu disponieren, daß sie übersichtlich und gelenkig wirken, daß das Wesentliche in seiner Bedeutung sich rasch zu erkennen gibt, daß die Teile in den richtigen Wirkungsverhältnissen zueinander stehen und nirgends eine Einzelheit sich ungebührlich vordrängt. Gerade weil das nur in sehr bedingter Weise gelungen ist, soll wenigstens die Absicht des Verfassers bestimmt ausgesprochen sein. Es ist ein schriftstellerischer Fehler, wenn Thausing von der Apokalypse, die doch der Jugend Dürers die Signatur gibt, erst nach dritthalbhundert Seiten zu sprechen anfängt, nachdem der Leser schon an allen möglichen Materien sich zerstreut und ermüdet hat. Daß die Wertaccente anders sitzen und daß die Begriffe, mit denen wir heute die Kunst Dürers zu fassen versuchen, seit einem Vierteljahrhundert wesentlich andere geworden sind, ist selbstverständlich.

Im eigentlichen Sinne als lesbares Buch kann diese »Kunst Albrecht Dürers« nicht gelten, weil sie immer noch der Ergänzung durch Bilder bedarf, auf die der Text über das gewiß reichliche Illustrationsmaterial hinaus Bezug nimmt. Das kostbare Lippmannsche Handzeichnungswerk wird wenig in Privathäusern vorhanden sein und muß in den öffentlichen Sammlungen eingesehen werden. Holzschnitte und Kupferstiche sind in Reproduktionen jetzt jedem erreichbar, doch haben nur die besten einen wirklichen Wert. Ein billiges Anschauungswerk wie die Gesamtausgabe der Deutschen Verlagsanstalt ist bequem als Nachschlagebuch, aber brauchbar eigentlich nur für den, der die Dinge kennt und Kritik üben kann, auf den ungebildeten Betrachter muß sie durchaus irreführend wirken: der Größeneindruck, Papier- und Linienqualität – alles ist unrichtig und noch dazu in wechselnder Beziehung, nicht in einem konsequenten Sinn. Auch unsere Illustrationen, für die der Verleger aufs rühmlichste gesorgt hat, wollen nur als Anweisungen auf das Original, nicht als Ersatz gelten.

Mit der Popularisierung der Kunstgeschichte hat das Gefühl für das Echte bedenklich abgenommen. Es ist gut, von Zeit zu Zeit darauf aufmerksam zu V machen, daß ein einziger originaler Druck von Dürer für die Erkenntnis seiner Kunst unendlich viel wichtiger sein kann als die vollständige Folge in verfälschten Nachbildungen. Von einem feineren künstlerischen Verhältnis zu Dürers Graphik aber darf erst da gesprochen werden, wo die Empfindung für die Qualität verschiedener Abzüge wach geworden ist. Auf solche Distinktionen einzugehn, liegt außerhalb der hier gestellten Aufgabe.


Man nennt Dürer gern den deutschesten der deutschen Künstler und gefällt sich in der Vorstellung, wie er zu Nürnberg gesessen habe in seinem Hause am Tiergärtnertor, geruhsam vor sich hinarbeitend nach der Väter Weise, mit recht innigem Behagen an der heimatlichen Erde und überzeugt, daß die Kunst nur herzlich und wahr sein müsse, die äußere Schönheit aber gleichgültig sei. Die Romantiker haben diese Vorstellung aufgebracht. Sie ist falsch. Wenn irgend einer sehnsüchtig über die Grenzen des Landes hinaussah nach einer fremden großen Schönheit, so ist es Dürer gewesen. Durch ihn ist die große Unsicherheit in die deutsche Kunst gekommen, der Bruch mit der Tradition, die Orientierung nach italienischen Mustern. Es war nicht Zufall oder Laune, daß Dürer nach Italien ging: er ging, weil er dort fand, was er brauchte, aber es rächt sich immer, wenn man einem andern in die Hefte sieht und abschreibt. Er hat schließlich die Ausgleichung zwischen Eigenem und Fremdem gefunden, aber wie viel Kraft ist dabei verloren gegangen!

Dürers Leben fiel in eine Zeit des Übergangs. Es war alles dazu angetan, die natürliche Empfindung in ihrer Entwicklung zurückzuhalten oder aus dem Geleise zu bringen. Die Darstellung mußte erst auf die moderne Basis des körperlichen und räumlichen Sehens emporgehoben werden; am Horizont erschien das Bild eines neuen Stils und warf seine Schatten vorzeitig beunruhigend über das Land, ein Stil der antiken Formen, mit Betonung der Breitenlinie und der Vorliebe für Rundung und volles Volumen; und gegenüber den menschlichen Dingen war das Gefühl ebenfalls in einer Umwandlung begriffen: es bereiteten sich jene großen Erschütterungen vor, aus denen die Reformation hervorgegangen ist. Italien hat in seiner Kunst eine Entwicklung ähnlicher Art auch gehabt, aber dort kommt das Neue natürlich und allmählich, nicht stoßweise und als ein Gegensatz wie in Deutschland, das von einem fertigen Vorbild überrascht wird. Raffael und Tizian haben Klassiker werden können, weil alles vorbereitet war, als sie erschienen: bei Dürer war VI das bloße Handwerk noch nicht ausgebildet. Mit gewaltigem Krafteinsatz hat er dann der Kunst die neue Art des Darstellens errungen, hat die Gotik in den »Renaissancestil« hinübergeführt und hat den Menschentypus der Reformationszeit geschaffen: es ist Großes, was er getan hat, aber vielleicht liegt das Größere in dem, was er dabei überwunden hat. Die Resultate seines Lebens sind kaum so interessant wie der Weg, auf dem er sie gewann.

Mit den italienischen Meistern des klassischen Zeitalters kann man ihn nicht unmittelbar vergleichen, weil er in ganz andere Prämissen hineingeboren wurde, aber am Ende hat er sich doch mit ihnen getroffen. Es ist die Tragik seines Lebens, daß es am Ende war. Zur vollen Klarheit und Reife ist er erst gelangt, als sein Blut schon anfing zu erkalten. Er selbst hat sich bei der Meinung beschieden, der Bahnbrecher einer neuen Kunst zu sein, nicht der Vollender.

 

Berlin, im Herbst 1905

Heinrich Wölfflin

 

 


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