Heinrich Wölfflin
Die Kunst Albrecht Dürers
Heinrich Wölfflin

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Grundlagen und Anfänge

1.

Die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts hat keinen großen Charakter. Es fehlt die Empfindung für das Einfache und Starke. Die Naturanschauung leidet unter einem eigentümlich verzwickten Schönheitsideal, und das Gefühl für das, was im Menschenleben wahr und tief und groß ist, kommt in einen verhängnisvollen Konflikt mit einer gewissen Vorstellung von Zierlichkeit und Feinheit, in der alle höhere Idealität ausgeht. Schongauer ist der typische Vertreter für diesen Manierismus. Wohl haben sich einzelne Meister, ja ganze Gegenden frei halten können davon, aber Schongauer ist das bedeutendste Talent der Epoche und gibt ihr darum seine Signatur.

Versuchen wir den Geist dieser Zeit an einzelnen Beispielen genauer zu kennzeichnen.

Es gibt von Schongauer eine Folge von Aposteln als Kupferstiche. Durchaus ernsthaft gemeint, zeigen sie doch gleich in sehr befremdender Weise, wie alles höhere Dasein für jene Generation an die zierliche Erscheinung gebunden war, und wie das Zierliche jeden Augenblick ins Gezierte überzugehen droht. Ein bedächtig-wählerisches Hochheben des Rockes, ein elegantes Setzen der Füße wie im Tanzschritt und ein manchmal fast kokett anmutendes Fassen der Attribute, das sind die Bewegungsmotive. Der jüngere Jakobus ist einst mit einer Art von Keule totgeschlagen worden: er hält hier das Todesinstrument, das am Boden aufsteht, zwischen zwei Fingern und der fünfte ist delikat hochgehoben. (S. Abb.)

Schongauer, die Apostel Jakobus d. J. und Philippus

Eine Figur, wo man durchaus Kraft und Ernst erwartet, der drachentötende Michael, wird zum bedeutungslosen Modehelden, der nur spielerisch die Lanze handhabt.

Ins Spielerische geht leicht auch das geistige Motiv: das Reden der Propheten, das Weisen des Täufers, das Beteuern der Evangelisten. Ein erschreckendes Beispiel, eigentlich eine Karikatur auf die ganze Richtung ist jener »lesende« Apostel Paulus des Meisters W (Wenzel von Olmütz), der das aufgeblätterte Buch auf dem Arm balanciert und dabei durch hurtige Vorwärtsbewegung sich interessant macht. (Allgemeiner bekannt durch die Abb. in Lützows Geschichte des deutschen Holzschnitts u. Kupferstichs. S. 47.)

18 In der Darstellung einer Verkündigung kann diese Kunst wohl eine eigentümliche Schönheit erreichen: es gibt kaum etwas Vornehm-Zarteres als die Maria aus dem kleinen Stich Schongauers, die den Mantel etwas anzieht, während sie mit leicht geneigtem Kopf nach dem Engel zurückhorcht. Da sieht man dann, wo diese Empfindung hingehört; aber in bedeutenderen Situationen erhebt sich die Stimmung zu wenig.

Die große Szene von Golgatha bekommt etwas Matt-Weinerliches. Wie klein ist der Passionsausdruck bei dem Johannes aus Schongauers berühmtem Dreifigurenblatt: der schief gelegte Kopf, die verlegen greifenden Hände! Und wie weit steht Maria gegen ältere Typen zurück! Für das ohnmächtige Zusammensinken gibt es schöne Beispiele; aber überall da, wo ein aktiver Zustand gegeben werden soll, bleiben wir enttäuscht. Wo findet sich eine Magdalena von wirklich leidenschaftlichem Schmerzensausdruck? Es bleibt bei einem sanften Umarmen des Kreuzesstammes. Der Gekreuzigte selbst nicht furchtbar und nicht triumphal, sondern von einer gemäßigten Jämmerlichkeit.

Schongauer, Christus am Kreuz mit Maria und Johannes

In aller Gebärde ist etwas Kleines, allzu Knappes, Kümmerliches, als ob man Angst gehabt hätte vor dem starken Ausdruck. Vorgänge wie die Taufe Christi, die Himmelfahrt der Maria, die Krönung der Maria – sie haben durchweg etwas Stockendes, bei aller Gewähltheit der Handbewegungen 19 etwas Nüchternes. Es fehlt das Weitausgreifende, aber auch jenes Heimlich-Große, was die ältere Kunst selbst bei mäßigem Bewegungsaufwand besessen hatte. Man mag zu Schongauers Gunsten sagen was man will, seine 20 Krönungen lassen den hinreißenden Zug gotischer Darstellungen völlig entbehren. Bei der Himmelfahrt ist es oft nur ein knieendes Püppchen, was mühsam emporgeschoben wird, und die Handlung des Täufers, bei eng auseinander gerückten Figuren, kommt selten vom Kleinen und Klebrigen los.

Daß manche Situationen ganz innerlich und rein empfunden sind – wer wollte es leugnen? Der Christus in Schongauers großer Kreuztragung ist ein ergreifender Kopf und wie der Gekreuzigte auf dem Peringsdörffer Altar (Germanisches Museum) zum heiligen Bernhard sich neigt, ist vielleicht die schönste Darstellung, die es überhaupt gibt, aber man wird zugestehen, daß all die Schönheiten, die sich nennen ließen, in einer begrenzten Empfindungszone liegen und daß der Zug des Bedeutenden, den z. B. noch die Deckersche Grablegung von 1446 in der Ägidienkirche zu Nürnberg hat, sich kaum mehr finden läßt.Was an Phantastik und ausschweifend übertriebenem Wesen in der Zeit liegt, hat nicht in der darstellenden Kunst, sondern in der Architektur seinen Ausdruck gefunden. Hier entsteht noch immer Großartiges. Allein es ist ein Großartiges, das jenseits des Lebens liegt, nicht das großempfundene Leben selbst.

Und dann ist noch etwas merkwürdig: wie unbedenklich neben dem Innigsten die bare Trivialität vorgebracht wird. Man will natürlich sein und sucht den Eindruck durch Einmengung von allerlei Zügen des gewöhnlichen Lebens zu gewinnen. Das Essen und Trinken wird mit besonderer Sorgfalt dargestellt. In den Bildern vom Auseinandergehen der Apostel kommen rührende Motive vor, z. B. auf dem anonymen Nürnberger Gemälde der Münchener Pinakothek die Umarmung mit dem Wegwenden der tränengefüllten Augen, und niemand wird sich durch das typische Begleitmotiv verletzt fühlen, daß der eine oder andere der Jünger noch rasch an der Quelle seinen Becher füllt, aber warum muß es jetzt gerade die Hauptfigur sein, Petrus, groß im Vordergrund, der das Bedürfnis hat, erst einen tüchtigen Schluck aus der Feldflasche zu nehmen, bevor er auszieht, den Völkern das Evangelium zu bringen? Es kommt den Leuten nicht darauf an, eine einheitliche Stimmung zu wahren. Beim Tod der Maria ist es so recht nach dem Herzen dieser Zeit, wenn eine Kerze flackert und einer der Apostel, die aus aller Welt gekommen sind, der Muttergottes in ihrem Sterben beizustehen, mit Umständlichkeit die Lichtputzschere in Bewegung setzt (Wohlgemut, Hallersches Epitaph von 1487 im Germanischen Museum). Schongauer ist ja schon wählerischer in seinen Motiven, immerhin wird man auch bei ihm Züge finden, die aus der Stimmung herausfallen: ich denke an seinen großen Stich des Marientodes und jenen Apostel dabei, der einem Genossen ins Buch sieht und mit dem 21 abgenommenen Kneifer den Zeilen entlang sucht. Das ist ein überraschend lebendiges Motiv, das aber eine spätere Generation als zerstreuend und seiner Art nach als zu gewöhnlich empfunden hat. Wie sehr die Passionsspiele mit Trivialitäten gespickt waren, ist bekannt; man muß sich fast wundern, daß nicht mehr davon in die bildende Kunst übergegangen ist. Doch kann man bei einem Nachzügler, jenem Rathgeb, der den Altar von 1517 im Stuttgarter Altertümermuseum gemalt hat, eine Nase voll von diesem Geschmack nehmen.Beim Abendmahl schneuzt sich einer von den Jüngern, mit den Fingern natürlich. Judas wirft die Weinkanne zu Boden, die auf Weisung eines Dritten vom Wirt aufgehoben werden muß &c.

Das Zeitalter ist stolz auf seinen Naturalismus. Der Maler sucht den verblüffenden Charakterkopf, aber das Überzeugend-Wirkliche ist alles, und wir kommen aus einer ziemlich ordinären Gesellschaft nicht heraus. Mannigfaltigkeit, aber keine Tiefe. Der Durchschnitt der menschlichen Natur ist ein niedriger. Auch da gibt es natürlich Ausnahmen. Syrlin z. B. hat im Chorgestühl des Ulmer Münsters wirklich bedeutende Köpfe. Im allgemeinen aber kommt für Typen höherer Ordnung das Beste aus der Tradition und man wird kaum finden, daß auch nur für die Stimmung des Ungewöhnlichen die Mittel vorhanden gewesen wären. Auch eine Darstellung wie Schongauers Johannes aus Patmos gibt weder im Kopf noch in der Gesamthaltung das Außerordentliche.

Und doch erschöpft sich diese Zeit nicht im bloßen Natürlichen. Das Wirkliche stößt, wie schon gesagt, zusammen mit dem Verfeinerten, Überwirklichen. Derselbe Schongauer, der mit entschlossenem Griff eine Menge charakteristischer Erscheinungen des Tages fassen konnte, ist der preziöseste Umbildner des Wirklichen bei Idealfiguren. Das Bild der Schönheit, das diese Generation sich machte, ist überhaupt kaum mehr von irdischer Art.

Spätgotische Schönheit ist undenkbar ohne feine Hände, ohne lange Greif- und Tastorgane. Wie Spinnenbeine gehen die Finger auseinander. Mit solchen Händen betet Maria ihr Kind an, die künstliche Form durch eine künstlichere Bewegung überbietend: die Berührung der Finger darf nur eine ganz lockere sein.Die Anfänge dieser modischen Zierlichkeit liegen offenbar in den Niederlanden.

Schongauer, Sebastian

Lang und schmal und eigentümlich zugespitzt sind die Füße und bei schönem Schreiten muß der eine quer vor den andern zu stehen kommen. Man kann diesen Tritt ebensogut finden bei dem Schongauerschen Christus in der Vorhölle wie bei den ritterlichen Figuren eines Syrlin (Fischkasten in Ulm, 1483). 22 Das Eigentümliche verschärft sich durch das beidseitige Biegen der Kniee, was den Gang wippend, tippend erscheinen läßt und den Eindruck körperlicher Schwere fast aufhebt.

Auf das gleiche Ziel hin geht die Bildung des Leibes mit der Magerkeit seiner Glieder. Daß die dünnen Hälse, Arme und Beine wirklich eine durchgehende Eigenschaft der damaligen Rasse gewesen sein sollten, ist doch kaum anzunehmen. Es müßten denn nach dem Jahre 1500 plötzlich ganz andere Menschen geboren worden sein. Jetzt wird selbst der Kinderkörper der Umstilisierung ins Schmalgliedrige unterworfen, am Bein fehlt das Fett über dem Knöchel und die Einschnürung der Form oberhalb des Kniees bringt vollends einen fremdartigen Zug in die kindliche Erscheinung.

In den spitzen Schuhen, der engen Taille, den kurzen, knapp anschließenden Ärmeln, den nahtlosen Achseln ist der gleiche Formwille wirksam gewesen. Aber dazu tritt dann der Reichtum der überschüssigen, hängenden, flatternden, am Boden sich stauenden Stoffmassen mit ihren knittrigen, vieläugigen Faltenhäufungen. Nach ihrer Motivierung darf man nicht fragen, denn es handelt sich dabei nicht um Nachbildung bestimmter Stoffe, sondern um ein Laufenlassen ornamentaler Launen. Und man muß sie ernst nehmen diese Launen: in der Draperie steckt ein Teil der Idealität der Figur. Wie die alte Gotik mit ihren Gewandlinien eine besondere Stimmung erwecken wollte, so will es diese letzte Gotik.

Ihr Geschmack ist ein ausgesprochen malerischer. Nicht als ob man für die Linie unempfindlich gewesen wäre (keine Generation hat z. B. den Reiz des Geästes kahler Bäumchen mehr genossen), aber man kann auch in Linien malerisch denken. Der Begriff »malerisch« wird immer gebraucht werden 23 müssen, wo der Reiz des Verschlungenen, des Unübersehbaren, des Scheinbar-Gesetzlosen und im Zusammenhang damit der Eindruck eines unaufhörlichen Sich-Bewegens gesucht ist. In Bezug auf die menschliche Form heißt das, daß der Körper als Gewächs keinen ästhetischen Eigenwert hat, sondern erst durch die Art, wie er sich gibt, in der Verbindung mit anderen Formen bedeutsam wird. Niemand fragte bei einer Gewandfigur, wie der Leib hinter den Falten auszudenken sei – in den meisten Fällen würde man auch keine Antwort darauf bekommen haben, – man hielt sich an die malerische Erscheinung, an das Gewoge von Höhen und Tiefen, wo da ein Kopf, dort eine Hand oder ein Fuß vorkommt.

Als Inbegriff spätgotischer Form kann das Sakramentshäuschen genannt werden, das Adam Krafft in der Lorenzer-Kirche zu Nürnberg hingestellt hat. Gibt es ein anderes Gebilde, das so wie dieses die Phantasie ständig in Bewegung hält? Nirgends ein Abschluß, nirgends klare Gelenke: alles ist Übergang, ein Teil durchdringt den andern. Das Auge muß suchen. Überschneidende Glieder verdecken wichtige Ansätze und die Figuren bergen sich in tiefen Schattenhöhlen. Es ist das Unantikste, was der germanische Boden hervorgebracht hat, für italienische Empfindung ein Greuel.

Offenbar ist diese malerische Phantasie mit schuld gewesen, die Entwicklung der deutschen Kunst hintanzuhalten. Jedenfalls entwickelte sich erst auffallend spät und mühsam ein Gefühl dafür, was klare Darstellung sei. Je mehr man den reichen Anblick erstrebte, desto langsamer kam man dazu, ein Motiv klar durchzubilden. Man berauscht sich an der Fülle und empfindet kein Unbehagen am Unklaren. Die Vorstellung hat sich von der bloßen Flächendekoration emanzipiert, aber für das Räumliche ist die Empfindung noch nicht reif. Es geschieht, daß man schwierige Verkürzungen wagt, aber eben doch nur deswegen, weil man der Schwierigkeit nicht bewußt geworden ist und Mängel nicht als etwas Unleidliches empfindet.

Und nun besaß die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts nicht mehr den großen Blick des Anfangs. Viel Reichtum im einzelnen, aber kein Gestalten im großen. Man vergnügt sich an der klein gebrochenen Linienbewegung, an der vielteiligen Flächenbehandlung. Gewiß, der vorigen Generation gegenüber detailliert jetzt die Zeichnung feiner; man sieht nuancierter; man sucht auch den vorübergehenden Moment zu fassen, Doppelmotive in einer Figur – ein Zeichner wie der sog. Meister des Hausbuchs entwickelt sogar eine wahre Genialität im Fixieren des Momentanen –; aber bei alledem ist die alte Kunst größer gewesen.

Ich wüßte nichts zu nennen, was sich dem mächtigen Realismus eines Konrad Witz an die Seite stellen ließe. Wie er die Wirklichkeit packt mit 24 gewaltigen Händen, das hat ihm auch von denen keiner nachgemacht, die die malerischen Kunststücke der Niederländer nach ihm an der Quelle studierten.Auf der kunsthistorischen Ausstellung in Düsseldorf 1904, wo das Straßburger Bild des Konrad Witz ausgestellt war, konnte man das besonders deutlich sehen: alles andere erschien flach daneben. (Die Kunst Pachers natürlich steht außer Vergleichung.) Die große Gesinnung, sich auf weniges zu beschränken, war eben so selten geworden wie das starke Temperament. Die Anschauung verlor sich nur allzu leicht in Einzelheiten. Man sah das Geäder, aber nicht den Körper, und über dem illusionistisch-frappanten Detail einer Holzmaserung oder einer Metallplatte vergaß man das Bildganze. Wenn aber von Bildklarheit gesprochen werden soll, so ist meiner Meinung nach Martin Schongauer der einzige in diesem Zeitalter, der konsequent daran gearbeitet hat. Wir kommen darauf zurück.

 

2.

Das ist die Atmosphäre, in der Dürer aufwuchs. Daß er zu einer neuen Gesinnung und zu einer neuen Anschauung durchbrach, ist seine historische Tat. Kein Mensch wird sagen können, woher ihm die Kraft dazu kam. Selbst wenn das ganze Stromnetz offen läge und man sähe, was er alles für »Einflüsse« in sich aufgenommen hat, wäre keine Antwort zu geben, da das Genie aus Addition von Einflüssen doch nicht zu erklären ist.

Er ist als Nürnberger geboren und hat bei Michael Wohlgemut seine Lehrzeit durchgemacht.

Die Anlage Nürnbergs geht mehr auf das Zeichnerische als auf das Malerische und mehr auf das Charakteristische als auf das Schöne. Von allen Nürnbergern hat Wohlgemut aber wohl am wenigsten Talent gehabt für das, was mit seinen Händen angefaßt und mit subtilen Sinnen genossen werden muß. Man darf ihn nicht gleichsetzen mit Nürnberg, aber es bleibt doch bezeichnend, daß solch ein Künstler dort gedeihen konnte. »Nüchtern wach« nennt ihn Robert Vischer und von »fast galligem Ernst«. Er hat das Fränkisch-Sachliche und manchmal bemerkt man auch eine Absicht auf die Wirkung des Großen, aber er ist innerlich doch arm und kalt, auf Nachahmung angewiesen und bei der Nachahmung nur um so deutlicher verratend, was ihm fehlt. Seine Farbe ist schwer und seine Form ist grob. Wo er die modisch feinen Handbewegungen bringt, wie bei dem Johannes auf der Kreuzabnahme des Hofer Altars (München, Pinakothek), da wirken sie unempfunden und entlehnt. Und was für ein Abstand in der Art und Tiefe seelischen Lebens zwischen seinem Marientod des Hallerschen Epitaphs 25 (Germanisches Museum) und dessen offenbarem Vorbild, dem Stich des Martin Schongauer!

Es liegt etwas Bürgerlich-derbes in dem Nürnberger Wesen, das stark kontrastiert zu der Raffinerie des Westens. Es kann als männliche Schlichtheit erscheinen, wie bei Adam Krafft, der manchmal schwerfällig ist, aber immer gediegen, oder als jene trockene Philisterhaftigkeit, wie sie Wohlgemut bietet. Das Schongauerisch-Feine kommt an einer einzigen Stelle rein zum Vorschein: im Peringsdörffer Altar des Germanischen Museums (1488). Der zarte Sebastianknabe ist wie ein Bruder des Schongauerschen. Die Verwandtschaft ist offenbar, aber hier hat kein bloßer Kopist gearbeitet, sondern ein Künstler, der die delikate Form durchaus mit eigenem Leben füllen konnte. Wie gerne möchte man wissen, wer es gewesen ist. An Wohlgemut ist nicht zu denken, trotzdem eine alte Tradition ihn als den Meister nennt. Thode hat den Namen des Wilhelm Pleydenwurff in Vorschlag gebracht. Auf jeden Fall hat die Malerei kein reineres Kunstwerk in dieser Zeit hervorgebracht und es ist eine hübsche Vermutung, daß dieser »Meister des Peringsdörffer Altars« der eigentliche Lehrer Dürers gewesen sei.Thode, Malerschule von Nürnberg S. 183 ff. So wäre er denn schon von der Schule aus auf Schongauer als den Höchsten und Einzigen hingewiesen worden.Die unten abgebildete Zeichnung einer Kreuzigung soll nur im allgemeinen Nürnberger Art vor Dürer vergegenwärtigen. Sie ist von Schönbrunner und Meder als Wohlgemut publiziert worden, steht aber dem Hans Pleydenwurff näher. (Vgl. die entsprechenden Bilder in München und Nürnberg.)

Nürnberger Schule, Kreuzigung (Albertina)

Von Schongauer ist bisher schon manchmal gesprochen worden, mehr aber als Repräsentanten der Generation und nicht in Bezug auf seine besonderen Qualitäten.

Was man an ihm bewunderte, muß zunächst die Mannigfaltigkeit und die Kraft individuellen Lebens gewesen sein: das reiche Geschehen und der reiche Anblick seiner engzusammengeschobenen Figuren. Blätter wie der Marientod und die große Kreuztragung sind auch da nachgeahmt worden, wo man für seine Idealität weniger Verständnis hatte. Auch in Nürnberg wollte man modern sein: der Hallersche Altar der Kreuzkirche nimmt das Problem der reich mit Figuren gesättigten Bildtafel auf, aber Wohlgemut (wenn er wirklich der Maler gewesen ist) hat den Schongauer doch nur halb verstanden, er hat von ihm die Fülle, aber nicht die Klarheit. Der Begriff des Bildmäßigen, daß man die Dinge so geben müsse, wie sie vom Auge am besten gefaßt werden können, ist ihm nicht aufgegangen. Schongauer hat von Anfang an und konsequent diesem Ziele zugestrebt. Er sucht die einfachen 26 Ansichten der Szene, bringt gerade Orientierungen und verzichtet auf Verkürzungen, um ein möglichst klarsprechendes Bild zu gewinnen. Man muß Verwandtes zusammenhalten, wie den Johannes auf Patmos vom Meister E. S. oder dessen Apostelfolge, um zu sehen, wie Schongauer durch Herausarbeiten der Silhouette, durch Einstellung der Figur ins reine Profil, durch Behandlung der Folien den Dingen Sehbarkeit gibt.

Die Skala von Licht und Schatten ist bei ihm schon sehr ausgedehnt und indem er ökonomisch das Helle vom Dunkeln und das Dunkle vom Hellen absetzt, gewinnen seine Blätter neben der Klarheit auch einen großen Reichtum der Erscheinung.

Dazu kommt seine besondere Bedeutung als Zeichner. Er hat ein merkwürdiges Gefühl für die Ausdruckskraft der Linie besessen. In seinen Ornamentstichen – wie da alles lebendig wird! gotische Krabben, Kettenschlänglein, ja bloße gerollte Bänder – sie haben fast wirkliche Bewegung, ein wunderbares Schleichen und Schlingen. Und wie nun gar die Form herausgearbeitet ist beim organischen Gewächs! Der Rücken eines Löwen, die greifende Klaue eines Adlers! Alles übertrieben in der Linie, aber voll Gefühl für das Wesentliche. An den unbetonten Stellen ist der Umriß eingezogen, damit die Hauptaccente an den Kraft- und Knotenpunkten um so stärker herauskommen sollen. Das Wichtigste aber ist die Innenzeichnung.

Nach älterer Art wird eine Figur modelliert mit vielen kurzen, geraden Strichelchen, die, an sich ausdruckslos, in ihrer Gesamtheit einen Schatten ausmachen und die Form runden. Schongauer ist der erste, der die modellierenden Schattenstriche lang führt und als Ausdruckshilfen zu behandeln versucht. Es ist das von besonderer Bedeutung in der Zeichnung des Nackten, wo er mit seinen Linien der Form nachgeht, den Bewegungszug der Muskeln, die größere oder geringere Spannung der Oberfläche anzudeuten weiß.

Die ganze Kunst Dürers beruht auf diesem Prinzip der formbezeichnenden Schattenlinie.

Trotz alledem – für einen Nachahmer barg das Beispiel Schongauers auch große Gefahren. Sein Geschmack neigte zum Raffinierten, sein eminentes Naturgefühl stand im Bann eines sehr einseitigen Stilideals, und seine Empfindung bewegte sich an jener äußersten Grenze, wo das Feine an das Gekünstelt-Überfeine rührt. In gewissem Sinne kann man sagen: der Weg ging hier nicht weiter. Jede Fortsetzung mußte zum Verfall werden, und der sogenannte Bartholomäusmeister, der wohl von Schongauer ausgegangen ist, liefert das Beispiel dafür.

Für Dürer lag die große Korrektur – wenn er einer Korrektur bedurfte – in der italienischen Kunst. Wahrscheinlich wäre er auch aus eigener Kraft 27 durchgebrochen zum Großen und Starken, aber durch Mantegna ist ihm der Weg abgekürzt worden. Was in seiner Natur war an großer Anschauung und großer Empfindung, wurde durch Mantegna frei. Eine ganz organische Entwicklung ist es allerdings nicht gewesen. Wie es in solchen Fällen immer geschieht, mit dem fertigen Vorbild kam auch Unverstandenes und Unverständliches mit herüber, Elemente, die sich in der deutschen Kunst nie ganz auflösen konnten.

Wir sind von Jugend auf so sehr an die verschiedenartigste Kunst gewöhnt, daß es einer besonderen Anstrengung bedarf, sich den Eindruck zu 28 vergegenwärtigen, den Mantegna und die italienische Kunst überhaupt auf einen unvorbereiteten nordischen Menschen mit spätgotischer Sehgewöhnung machen mußte. Dürer rühmt noch spät als die eigentlichen Vorzüge der Italiener vor den Deutschen: die Kenntnis des Nackten und der Perspektive. Wahrscheinlich sind es diese Dinge gewesen, die von Anfang an ihm als die wertvollsten und begehrenswertesten erschienen. Er mußte getroffen sein von der »sichern Gegenwart« Mantegnesker Gestalten (Goethe). Die vollkommene Klarheit der räumlichen Verhältnisse war ihm ebenso neu wie die organisch einheitliche Darstellung des menschlichen Körpers. Wie diese Menschen im Raum drin standen! Wie die Sohle am Boden haftete, und wie das Gewicht des Körpers sich fühlbar machte! Und was für Körper waren das und was für Bewegungen! Die Körper nicht nur anders proportioniert, sondern unter andern Linien gesehen, mit horizontalen Teilungen, die das gotische Auge nicht kannte, und in den Bewegungen ein vollkommen anderer Rhythmus, Stehbein und Spielbein mit kontrastierenden Schiebungen der oberen Glieder und energischen Wendungen des Kopfes. Das alles gegeben in einem monumental-einfachen Stil und getragen von einer Empfindung für das Grandiose, die bis zum stärksten Ausdruck der Leidenschaft emporsteigt, aber auch das einfache Dasein schon heroisch verklärt.

 

3.

Wenn es als das besondere Merkmal des künstlerischen Menschen überhaupt gilt, daß ihm von früh an die Dinge der Welt in ihrer ganzen Tiefe und Fülle und als etwas Unerschöpfliches erscheinen, so kann man sich bei Dürer den Trieb gar nicht drängend genug vorstellen, zu sehen und das Gesehene zu gestalten. Er muß sich – ich wiederhole das Wort – von der Darstellungswürdigkeit und der Darstellungsfähigkeit der Natur sehr bald seine eigenen neuen Begriffe gebildet haben. Die Gegenstände im Raum sprachen stärker zu ihm, als daß er sich mit den überlieferten Ausdrucksformeln irgendwie hätte zufrieden geben können und für das individuelle Leben brachte er ein Gefühl mit, das alle bisherigen Fassungen nur als ganz ungefähre Andeutung gelten lassen konnte.

Selbstverständlich ist gerade von den Anfangsarbeiten sehr vieles untergegangen. Allein, wenn auch im einzelnen nicht alles aufgeklärt werden mag, so besitzen wir doch Zeugnisse genug, um im allgemeinen zu erkennen, wie sich Dürers Art entwickelte, wie er auf die Eindrücke von Kunst und Natur antwortete und wie er sein Schifflein durch die Strudel und Stromschnellen der Jugend hindurchgebracht hat. 29

An Hand der Selbstporträts kann man zunächst biographisch die ganze Periode bequem überblicken.

Selbstbildnis (Erlangen)

Von dem ersten, der Knabenzeichnung von 1484 (Albertina), ist schon die Rede gewesen.Es soll hier nur noch die Aufschrift nachgetragen werden: Dz hab ich aus eim Spigell nach mir selbs kunterfet im 1484 Jor, do ich noch ein Kint was. Albrecht Dürer. Es folgt ein undatiertes Bildnis (Erlangen, L. 429), mit der Feder rasch auf das Papier hingewühlt, sehr inhaltsvoll: der Jüngling, der mit aufgestütztem Kopf ins Weite sieht, mit brennendem Auge, die 30 Gedanken nicht nach außen, sondern nach innen gerichtet, ganz konzentriert im Ausdruck. Ich möchte das höchst merkwürdige Blatt in die Mitte der Wanderzeit setzen. So muß man sich den jungen Maler vorstellen, der in die Welt hinausgegangen ist und über sich selbst sich besinnt: »Was will ich?«Man verdankt die Entdeckung des Porträts W. v. Seidlitz. Die Zeichnung der Rückseite braucht nicht gleichzeitig zu sein: er nahm das Blatt Papier, was er gerade zur Hand hatte. – Mehr sonntäglich und still dann das Gemälde von 1493 (ehemals in der Sammlung Felix in Leipzig, jetzt bei den Erben von L. Goldschmidt in Paris). Keck im Wurf der Lippen und in der Linie der Nase, aber im ganzen doch gehalten und beinahe schüchtern wirkend, mit einem Seitenblick und einer leisen Neigung des Kopfes, die die Erinnerung an das (sentimentalere) Jugendbild Raffaels wachrufen. Die Hände halten eine Blume, Männertreu, und am obern Rande steht der Spruch: »My Sach die gat, als es oben schtat.« Aus der Fremde mag er das Bildchen heimgeschickt haben; man meint, daß es die Brautwerbung begleiten sollte. – Endlich ein Bild in Madrid, 1498 datiert, wo es durchaus aus festliche Wirkung abgesehen ist. Pracht der Kleidung und Schaustellung des künstlich gelockten, langherabfallenden Haares. Nicht herausfordernd, aber von gereiftem Selbstbewußtsein. Bezeichnend auch die zusammengeschlossenen Hände mit ihrem festen Griff. Obwohl dieses Bild offenbar auch schon von dem Eindruck italienischer Repräsentation bedingt ist, muß es als historische Urkunde doch für zuverlässiger gelten als die späteren Bildnisse. Die Augen sind sehr klein, im Gegensatz zu den großen Götteraugen des Münchener Idealporträts. So sah der Künstler aus, als er die Apokalypse veröffentlichte.Die Inschrift lautet: Das malt ich nach meiner Gestalt, ich war sex und zwanzig Jor alt. Albrecht Dürer. 1498. Das Bild muß also aus dem Anfang des Jahres 98 stammen. –

Selbstbildnis von 1498 (Madrid)

Dürer hat offenbar Freude an seiner eigenen Geschichte gehabt. Er hat die Dokumente seiner Entwicklung sorgfältig aufgehoben und auch später immer selbst kleine Dinge mit dem Datum bezeichnet. Eine Maria mit Engeln (Berlin, L. 1) trägt die Jahreszahl 1486, folgt also unmittelbar dem Albertina-Selbstbildnis: wahrscheinlich nicht ganz original in der Erfindung, ist das Blättchen doch schon durch seine dekorative Geschlossenheit merkwürdig. Dann findet man, was alle Knaben anzieht: Soldaten, Pferde, reitende Kavaliere. An Mustern auch dafür fehlte es nicht. Die zeitgenössische Graphik behandelte gern dergleichen Stoffe. Es sind sorgfältige Federzeichnungen, ohne direkte Naturbenützung, ausgestattet mit möglichst viel Bewegung und reich in den Ansichten. Man spürt die bereits stark entwickelte plastische Vorstellungskraft.

31 Als er dann 1490 das Elternhaus verlassen sollte, malte er noch ein Porträt des Vaters (Florenz, Uffizien). Er wollte zeigen, was er gelernt hatte. Die Stimmung des Kopfes hat etwas Befangenes und die Form ist noch klein und nicht im ganzen gesehen, aber doch wirkt das Stück mit eigentümlicher Wärme. Eine menschliche Existenz ist hier mit einer Genauigkeit umrissen, daß man sofort an Dürer denken muß und als Leistung eines Neunzehnjährigen konnte das Bild die Nürnberger schon zum Staunen bringen. Einen besonderen Wert für den historischen Betrachter erhält es dadurch, daß Dürer selbst ein paar Jahre später eine Kritik darüber geschrieben hat, in dem zweiten Porträt des Vaters vom Jahre 1497.Eine Abbildung des Porträts von 1490 (zusammen mit dem von 1497) im siebenten Abschnitt. Beachtenswert, wie das Auge noch gar nicht im festen Linienstil gezeichnet ist, sondern mehr malerisch unbestimmt im Sinne der frühen Federzeichnungen.

Die Wanderschaft führte ihn an den Oberrhein. Wir finden seine Spur zunächst in einem geschnittenen Holzstock mit dem hl. Hieronymus, der in Basel sich erhalten hat und auf der Rückseite eigenhändig von Dürer bezeichnet ist: Albrecht Dürer von Nürnberg. Als Druck erschien er zuerst in einem Buche vom Jahre 1492. Obwohl der Holzschneider mit seinem Messer übel gewirtschaftet hat, zeigt die Zeichnung doch noch bedeutende Eigenschaften. Die Figur ist ausdrucksvoll und die reiche Besetzung des Raumes wie das 32 mannigfaltig behandelte Lineament, das die Form modelliert, sind Dinge, die auch ohne Signatur auf Dürersche Art hinweisen. Nun liegt es nahe, nach Verwandtem in der damaligen Produktion Basels zu suchen. Schon ältere Kunstfreunde hatten in den moralischen Geschichten des »Ritters vom Thurn« (1493) und in Sebastian Brants »Narrenschiff« (1494) Dürer als Illustrator vermuten wollen und neuerdings ist dann in gleichem Sinne auf eine Sammlung von etwa anderthalbhundert, zum Teil noch ungeschnittenen Holzzeichnungen hingewiesen worden, die für eine Terenzausgabe bestimmt waren und offenbar im gleichen Stil gemacht sind.Daniel Burckhardt, Dürers Aufenthalt in Basel 1492–94, München 1892. Ob wir es mit einer einzigen Hand oder mit der Arbeit einer mehrköpfigen Werkstatt zu tun hätten, darüber gingen die Meinungen auseinander, in der Hauptsache aber muß es wohl eine Persönlichkeit gewesen sein, die hinter dieser Arbeit stand. Der Unterschied zu älteren Basler Drucken ist beträchtlich. Ist Dürer diese Persönlichkeit gewesen? Die ganze Gruppe von Zeichnungen ist in Dürers Werk tatsächlich mit vielen Motiven verzahnt, so daß eine Beziehung außer Frage steht; dennoch glaube ich, es ließen sich die Übereinstimmungen auch durch die bloße persönliche Nähe Dürers und eine indirekte Anteilnahme erklären, da doch mehr eine Übereinstimmung in Motiven als in der künstlerischen Behandlung vorliegt. An Interesse würde Dürer durch diese Zuweisungen so wie so nicht gewinnen.Siehe Anhang, erste Anmerkung.

Unmittelbarer überzeugend wirkt die große Zeichnung einer heiligen Familie, die kürzlich nach Berlin gekommen ist. Sie wird um 1492–93 anzusetzen sein. Maria mit dem Kinde auf einer Rasenbank, daneben Joseph, schlafend, mit aufgestütztem Kopf. Sie hält gotisch-spitz eine Nelke. Reiche, aber in der thematischen Erfindung noch nicht recht interessante Gewandung. Die Figur muß mit Schongauers Marienbildchen in Wien verglichen werden, sie ist aus einer ganz ähnlichen Stimmung hervorgegangen. Doch sagt Dürer schon deutlich, daß er ein anderer sei und die bloße Landschaft mit ihrer Raumtiefe und Fülle geht über alle Möglichkeiten Schongauerscher Kunst hinaus.Inschriftlich wird dem Jahre 1493 zugewiesen die kleine Deckfarbenmalerei der Albertina (L. 450), der Christusknabe im Hemdchen, mit der goldenen Kugel. Halbfigur in Nischenumrahmung. Der Knabe segnet und lächelt. Es ist das Lächeln der Kinder Memlings aus seiner späteren Zeit. Sehr durchgeführte Arbeit auf Pergament, wobei die Naturfarbe des Pergaments als Mittelton benützt ist.

Heilige Familie, Berlin

Aber nun möchte man mehr sehen als solche Variationen herkömmlicher Schemata: die durchschlagenden Äußerungen des jugendlichen Genius; daß er 35 Dinge sagt, die noch nie gesagt worden sind, daß man vom Gewöhnlichsten einen Eindruck bekommt, als ob man etwas Neues sähe.

Das Erlanger Selbstporträt ist eine solche Äußerung gewesen, ein unerwartetes Aufleuchten momentanen Ausdrucks. Verwandt damit ist ein weiblicher stehender Akt aus der Sammlung Bonnat, jetzt in Bayonne (L. 345), datiert 1493, vielleicht in Basel entstanden. Ein Natureindruck, rasch mit der Feder fixiert; die Zeichnung ohne schönschreiberische Ängstlichkeit, mit vielen verschiedenartigen Strichen der gefühlten Form nachtastend; trotz aller Unvollkommenheit zwingend in der Wirkung des Gesamtmotivs.

Warum es nicht mehr dergleichen Naturstudien gibt? Wenn man alles zusammennimmt: es bleibt immer eine kurze Liste. Gewiß ist der jetzige Bestand an Zeichnungen nicht maßgebend für das, was einmal existierte, aber wir wissen auch, daß um 1494 eine Wendung bei Dürer eintrat. Mit einem Mal erklingen fremde Töne. Dicht hintereinander eine ganze Folge von Nachzeichnungen nach italienischen Originalen. Eine neue Welt von Stoffen und vor allem ein neuer Stil. Dürer stürzt sich auf diese Sachen, als ob es seine Erlösung gälte. Er kopiert, nicht um auch einmal etwas anderes kennen zu lernen, sondern überzeugt, daß Italien das Heil für ihn bedeute. Fast von jeder dieser Nachzeichnungen sind Figuren in Dürers Werk übergegangen.

Da ist zunächst ein Tod des Orpheus, wie er von thrakischen Weibern erschlagen wird (Hamburg, L. 159). Das Vorbild ein oberitalienischer Kupferstich von unbekannter Hand. Ob irgend ein sachliches Interesse bei Dürer mitsprach, lassen wir dahingestellt, jedenfalls waren die lebhaft bewegten, klar gewandeten Weiber und der gestürzte nackte Mann Motive, an denen sich eine plastische Phantasie schon entzünden konnte. Und dann ist der Stich nicht einfach kopiert, sondern Form für Form ist umgesetzt in die modellierende Liniensprache, wie sie Schongauer ausgebildet hatte, und das bedeutet kein Kleines. Die Zeichnung wirkt noch spitz, die Konturen sind eckig gebrochen, die Glieder haben kein genügendes Volumen, aber in der Sorgfalt der Mache merkt man den Genuß des die Plastik miterlebenden Nachbildens. Im Hintergrund ist ein Gebüsch frei hinzukomponiert mit ausführlicher Detailzeichnung des Laubes, wie sie später nie mehr vorkommt. Das Blatt trägt das Datum 1494.

Aus demselben Jahre in der Albertina zwei Kopien nach Mantegna, das Bacchanal und ein Kampf von fabelhaften Seewesen (L. 454, 455).

Das erstere ist eine trockene Komposition, ein Bacchanal ohne Trunkenheit, aber es enthält doch wie jeder Mantegna viel wertvolle Gelenkzeichnung und Verkürzung, und in den feisten Leibern alter Schlemmer und gemeiner Weiber fand Dürer einen Naturalismus, vor dem er die Augen groß 36 aufgemacht haben wird. Was wollte alle Charakteristik deutscher Schächer- und Henkerfiguren sagen neben solcher Naturnähe. – Und auf dem andern Blatt die starke Bewegung und der Furor bestialischer Leidenschaft, ein wildes Gemenge, in das wunderbar die Kantilene ruhiger schöner Frauenkörper hineinklingt.Richard Förster bezeichnet die Darstellung als den »Neid bei den Ichthyophagen«. Jahrb. der preuß. Kunsts. 1902. S. 205 ff.

Auch hier hat Dürer die einfache Diagonalschraffierung des Originals in seine formbezeichnende Linie umgesetzt. Und damit nicht genug: überall, in der vegetabilischen und in der animalischen Form, suchte er den genauern und reicheren Ausdruck. Höchst charakteristisch, wie er die Fischschwänze auszeichnete, Haare, Holzwerk, Weinranken durchbildete, nicht ohne dabei die Linie durchweg ins Bewegtere zu steigern. Hier ließ er seiner Formempfindung freien Lauf, in der Zeichnung der menschlichen Körper aber ordnete er sich dem Italiener ganz unter: er übernimmt das System Mantegnas, die Binnenformen zu erklären, das antike System, das für nordische Augen eine vollständige Umgewöhnung des Sehens voraussetzte.

Der Norden kannte das Nackte fast gar nicht und für die bewegte Figur hatte man sich gewöhnt, den Ausdruck wesentlich in den Linien des Gewandes zu suchen. Im wirklichen Sinn handelte es sich für Dürer jetzt darum, der menschlichen Gestalt endlich auf den Leib zu rücken.

Ein weiteres Vorbild von unschätzbarem Wert scheint ihm Pollaiuolo geliefert zu haben, den »Frauenraub« (L. 347, Sammlung Bonnat). Wir kennen nicht das Original. Es sind zwei nackte Männer von herkulischer Muskulatur, lebhaft ausschreitend, jeder mit einem jungen Weib auf den Schultern. Was für eine Kraft in diesen Beinen steckt! Auf Schongauers großer Kreuztragung gibt es ein ähnliches Motiv: auch da das lebhafte Ausschreiten – einer der Schergen, der mit dem Seil zur Eile treibt –, auch da nackte Beine, aber nun messe man den Abstand der Zeichnung! Das übertrieben Holprige der Muskulatur wird man nicht auf Pollaiuolos, sondern auf Dürers Rechnung setzen müssen.

In einer Kopie nach Lorenzo di Credi vom Jahre 1495 (Paris, L. 384) ist das Problem des Kinderkörpers behandelt, den die Italiener so ganz anders gaben als die nordischen Spätgotiker: dick und wulstig, mit fettverschwollnen Knöcheln. Uns, mit unsern historisch erzogenen Augen, mag eine solche Nachbildung nicht als besondere Leistung erscheinen, für Dürer war die Sache weniger selbstverständlich und es setzt eine große Herrschaft über das Auge voraus, daß er die fremde Form so objektiv sehen konnte. Wo 37 es ihm weniger darauf ankam, läßt er die Feder laufen wie sie's gewohnt war, z. B. bei den Ohren.

Zeichnung nach Mantegnas Meergöttern (Albertina)

Ob diese Zeichnungen in Deutschland oder in Italien gemacht worden sind, wissen wir nicht. Es steht nichts im Wege, sie im Norden entstanden sein zu lassen. Im Jahre 95 aber kommen dann italienische Dinge, die nur an Ort und Stelle aufgenommen sein können. Vielleicht gehört schon der Lorenzo di Credi dazu. Beweisend sind die venezianischen Kostümbilder der Albertina (L. 459), und ein anderes Frühblatt dort (L. 456) mit dem Raub der Europa fordert ebenso entschieden den Aufenthalt in Venedig: es enthält u. a. die Zeichnung nach einem antiken bogenspannenden Eros, die Figur eines Orientalen, Löwenköpfe, Sachen, die in Venedig nebeneinander zu sehen waren. Der Raub der Europa an sich ist ein typisches venezianisches Thema, im Holzschnitt besonders oft behandelt.

Vieles muß auch hier verloren gegangen sein. Das spätere Werk enthält noch manche italienische Motive, für die die Zwischenstufe der Zeichnung sich nicht mehr nachweisen läßt.

38 Es war ein gefährlicher Schatz, den Dürer da nach Hause brachte. Wir heutzutage werden das am allermeisten fühlen, wo man so ängstlich ist, die Unbefangenheit des Auges zu erhalten und den Sinn für das Eigene. Wenn er nun anfängt, diese Blätter zu verarbeiten in mühsamen Kupferstichen, die eine Figur daher nimmt, die andere dorther, so fragt man sich doch wirklich, ob das noch gesunde Entwicklung sei, ob überhaupt Widrigeres geschehen konnte als dieser Betrieb mit ausländischen Schablonen. Es gab ein unreines Produkt, selbstverständlich, und es ist keine Rechtfertigung, daß Dürer getragen und gedeckt war von einem allgemeinen mächtigen Vorurteil zugunsten Italiens. Aber um billig zu urteilen, muß man sich sagen: hier handelte es sich nicht um den bloßen Import einzelner italienischer Körper und bestimmter Bewegungsmotive, sondern um eine grundsätzlich neue Empfindung für Körperlichkeit. Das leibliche Sein wird mit einer Kraft und Fülle durchempfunden wie nie zuvor. Nicht nur der Körper bekam eine neue Bedeutung, die Stellung zur ganzen Welt mußte sich ändern. So ganz neu ist die Entwicklung, die sich hier vollzieht, daß man schon begreifen kann, daß Dürer zunächst an der bereits geprägten Form sich festhält: an den italienischen Mustern hat sich das schlummernde Lebensgefühl zum wachen Bewußtsein emporgebildet.

Und für die Perspektive der Italiener gilt dasselbe. Auf die Handhabung einiger geometrischer Lehrsätze kommt es nicht an und auf die einzelne Verkürzung auch nicht, und sei sie noch so schwierig: das, was als Bestimmendes zugrunde liegt, ist ein neues Erleben des Raumes, daß die Verhältnisse des Vor und Zurück sprechen wie mit Stimmen. Auch dafür ist die Anlage in Dürer natürlich vorhanden gewesen, allein der Anblick italienischer Kunst hat ihn dann gleich sehr rasch mit sich ins Reine gebracht. Auch wo die Gesetze der linearen Perspektive noch nicht begriffen sind, kommt im Norden von nun an doch ein neues Gefühl für das Dreidimensionale zum Ausdruck.

Am stärksten spürt man das in ein paar großen Landschaften, die Dürer damals an der Brennerstraße aufgenommen hat.Siehe Anhang, zweite Anmerkung. Das Interessante für ihn ist nicht die phantastische Silhouette dieser Berglandschaft, sondern wie die großen Massen gegeneinanderstehen und was für Räume von ihnen beschlossen werden, das reizt ihn. In ihrem kubischen Gehalt liegt die außerordentliche Qualität dieser Zeichnungen. Es sind nicht bloße Anweisungen, wie man sich die Folge der Dinge im Gelände zu denken hat, sondern die Vorstellung bekommt gleich das volle Bild des Raumes.

Ansicht von Trient (Bremen)

Wie groß dieses Trient gesehen ist! Gewiß würde Dürer selbst die einzelnen Häuser und dergleichen später besser mit dem Ganzen ausgeglichen haben, 39 aber ist es nicht ein neuer Eindruck die große Luftmasse dieses Bildes? Wem unter allen deutschen Malern möchte man diesen beherrschenden Blick zutrauen? Und merkwürdig: die Gegend ist auch ganz objektiv gesehen. Die gotischen Zeichner haben sonst die Neigung, die Berge in die Höhe zu stilisieren. Auch der große Bewältiger des Wirklichen, Konrad Witz, ist willkürlich verfahren mit seinem Mont Salève (auf dem Genfer Bild),Die interessante Parallelabbildung des Gemäldes und der Naturform in Daniel Burckhardts Aufsatz über Basler Malerei des 15. Jhdts. (Basler Festschrift von 1901, S. 288.) Dürer aber hat der Landschaft durchaus ihr Maß von Horizontalismus gewahrt, wovon sich jeder noch an Ort und Stelle überzeugen kann.

Wer dann aber die Malerei im Original ansieht – sie liegt in Bremen (L. 109), – dem steht noch eine andere Überraschung bevor: die erstaunliche Schönheit der Farbe. Vom blaugrünen Schattenton der Berge links geht es ins Rötlich-Violette hinüber. Violetter Widerschein im Wasser, da wo es dunkel ist. Die Bäume grünblau und gelblich. Ein tiefblauer Himmel.

Irre ich nicht, so bezeichnen die neunziger Jahre den Anfang eines allgemeinen Emporgehens der Gesinnung in Deutschland. Die Züge, die wir im 40 vorausgehenden als charakteristisch für die zweite Hälfte des Jahrhunderts hervorheben zu müssen glaubten, würden nicht mehr stimmen für das Nürnberg, in das Dürer nach seiner Heimkehr eintrat. Schon der eine Veit Stoß sorgt dafür. Er kam 1496 nach langer Abwesenheit aus dem Osten zurück und reißt alsbald weitere Kreise in den Wirbelwind seiner stürmischen Genialität hinein. Der bedächtige Adam Krafft erhebt sich zu dem Schwung des Pergenstorfferschen Grabmales und sucht sich selbst in der Landauerschen Krönung nochmals zu überbieten, und für die gehaltene Monumentalität Peter Vischers haben wir in den Grabmälern der Dome von Magdeburg (1495) und Breslau (1496) die frühen und bezeichnenden Proben. Das ist keine philiströse und rührselige Gesellschaft, schon sieht man die Vorstellung einer höheren Menschenwürde da und dort auftauchen und der Horizont weitet sich ins Unmeßbare, wenn man die intellektuellen Potenzen des gelehrten Nürnberg mit in Betracht ziehen will.

In diesem Kreise entwickelt Dürer seit 1495 eine sehr lebhafte und mannigfaltige Tätigkeit. Das eigentliche Malerwesen ist dabei nur von zweiter Bedeutung gegenüber den graphischen Arbeiten. Er entwirft die großen Holzschnittfolgen der Apokalypse und der Passion, ganz neu in der Technik und von erstaunlicher Originalität der Auffassung; es sind populäre Veröffentlichungen, aber er verschweigt nicht, daß er italienische Kunst gesehen hat. Er behandelt das Nackte, wie die Italiener es pflegten, in sorgfältig durchgezeichneten Stichen; er nimmt die antiken Historien der Humanisten unter die Hände, mischt italienische Figur und romantische Landschaft eigener Erfindung zu kuriosen Ensembles. Er will ganz modern sein und in diesem Sinne bildete er in jenen Jahren – vermutlich 1496 – sein Monogramm, wie er es dann zeitlebens beibehalten hat, aus den lateinischen Buchstaben A und D. 41

 

 


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